Alle zusammen gegen die Einfalt: Über Teilhabe in den Redaktionen
Wenn Sie diesen Text während der Arbeit in einer Redaktion lesen, würden wir Sie gerne zu einem kleinen Experiment einladen: Schauen Sie vom Rechner auf und blicken Sie sich um. Zählen Sie grob die Kollegen. Und dann schätzen Sie: Hat hier jede/r Fünfte/r Migrationshintergrund? Sitzen in den Chefbüros in 51 Prozent der Fälle Frauen? Wie viele gibt es, die wirklich einmal die Erfahrung gemacht haben, einen Hartz-IV-Antrag einzureichen? Deutschlandweit bezieht derzeit rund jede/r Zwanzigste ALG II. All diese Zahlen sind ein Problem.
Denn auch wenn das die Durchschnittswerte der hiesigen Gesellschaft sind, so sitzen vor allem in Print-Redaktionen doch oft brave und oft etwas blasse Mittelschichts-Buben und Deutsch-LK-Mädels aus der Kleinstadt – die eine Hälfte unseres Autorenduos eingeschlossen.
Dumm ist das wirtschaftlich, gesellschaftlich und mit Blick auf die eigene zukunfts(un)sichere Personalarbeit in den Medienhäusern. Dadurch, dass ganze gesellschaftliche Gruppen sich nicht repräsentiert fühlen, entsteht der Eindruck einseitiger Berichterstattung (“Lügenpresse!”, anyone?). Breite Publika werden nicht angesprochen und viel Geld geht verloren – und mutmaßlich brillanter, innovativer und vielfältiger Nachwuchs traut sich gar nicht erst, mit Journalismus anzufangen.
Wie viele Migranten sitzen in deutschen Redaktionen?
Ein Beispiel: An der Technischen Universität Dortmund wurde im Sommer 2015 eine Studie zu Berufsperspektiven junger Journalisten mit Migrationshintergrund veröffentlicht. Zum Zeitpunkt der Untersuchung lag der Anteil an ausländischen Journalisten in Deutschland bei gerade einmal vier bis fünf Prozent, eine Untersuchung aus dem Jahr 2009 kam für Print- und Online-Redaktion sogar auf weniger als zwei Prozent (siehe Studie: (Hg.) Rainer Geißler, Horst Pöttker: “Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland”). Zum Vergleich: Innerhalb der gesamten deutschen Bevölkerung haben 19,5 Prozent der Bürger einen Migrationshintergrund – und sind somit nicht im Ansatz in deutschen Redaktionen proportional vertreten.
Um herauszufinden, woher die Unterrepräsentation von Ausländern in Redaktionen kommt, befragten die Forscher der TU Dortmund einerseits leitende Redakteure und Personalchefs zu ihrer Haltung gegenüber Bewerbern aus Zuwandererfamilien. Sie interviewten aber auch Oberstufenschüler – mit und ohne Migrationshintergrund – zu ihrem grundsätzlichen Interesse am Journalistenberuf. So wollten sie herausfinden, ob in den entsprechenden Milieus vielleicht schlichtweg das Interesse am Journalistenberuf fehlt.
Falsche Vorstellungen vom Journalistenberuf
Das Ergebnis: Die Vertreter der Medienhäuser waren sich zum Großteil darüber im Klaren, dass ihre Redaktionen internationaler besetzt werden sollten. Doch die Ursachen für den bisher herrschenden Mangel an Journalisten mit Migrationshintergrund sahen sie weniger in den eigenen Strukturen, sondern in einem Mangel an Bewerbern aus Zuwandererfamilien.
Und die Oberstufenschüler mit Migrationshintergrund? Die hatten sich zum Zeitpunkt der Befragung noch nicht endgültig für einen Beruf entschieden. Den Journalismus als Berufsfeld würden die wenigsten zwar explizit ausschließen, doch ebenso wenige hatten wirklich realistische Vorstellungen vom Berufsalltag eines Journalisten. Ein Großteil der Schüler erhoffte sich durch den Journalistenberuf Prominenz, da sie sich – wenn überhaupt – an prominenten Medienfiguren mit Migrationshintergrund orientierten. Im persönlichen Umfeld gab es solche Vorbilder zu selten. Mehr als doppelt so häufig wie die übrigen Jugendlichen wollten sie ins TV: rund 75 Prozent gaben das Fernsehen als präferiertes Arbeitsfeld an, im Vergleich zu knapp über 30 Prozent bei den Schülern ohne Migrationshintergrund.
Zu homogene Redaktionsgemeinschaften führen dazu, dass sich auch ein Großteil der Inhalte an bestimmte – in der Redaktion vertretene – gesellschaftliche Gruppen richtet. Kurzum: Ist die Redaktion beispielsweise überaltert, werden weniger junge Themen angesprochen. Besteht die Redaktion nur aus Akademikern, wird die Lebensrealität von Menschen, die nach der Schule direkt eine Ausbildung begonnen haben, nicht wirklich abgebildet. Analog dazu: Ist die Redaktion zu wenig multikulturell, fehlt an mancher Stelle das Verständnis für das Leben oder Aufwachsen zwischen zwei Kulturen. Es liegt in der Natur der Sache.
Hilfe von oben? Ein „Nationaler Integrationsplan” für mehr Vielfalt in den Medien
Die Debatte um eine vielfältigere Medienbranche ist deshalb nicht neu. Schon 2007 plädierte die Bundesregierung im “Nationalen Integrationsplan” dafür, mehr Menschen mit Migrationshintergrund in die deutsche Medienlandschaft zu integrieren. Diese Forderung sollte nicht nur mehr ausländische Schauspieler in die deutsche Film- und Fernsehbranche bringen, sondern war auch auf das Personal in Redaktionen journalistischer Medienprodukte bezogen. Für die Bearbeitung von Themen, die Migranten ansprechen, würde die interkulturelle Kompetenz und die Kenntnis über die entsprechenden Migrantenkulturen fehlen, hieß es damals. Dabei sei genau das ein wichtiger Faktor für die gesamtgesellschaftliche Integration von Zuwanderern.
Mithilfe von ausländischen Moderatoren, aber auch Redaktionsmitgliedern hinter den Kulissen sollte sichergestellt werden, dass sich in Deutschland lebende Ausländer von den hiesigen Medienprodukten angesprochen und repräsentiert fühlen.
”Visible Minorities” vor allem in Unterhaltungsformaten
Eine wichtige Rolle spielen dabei die sogenannten “visible minorities” – also Zuwanderer, die als Moderatoren zum festen Bestandteil der deutschen Fernsehlandschaft gehören. Diese gab es auch schon lange vor dem “Nationalen Integrationsplan”, jedoch vor allem im Bereich der Unterhaltungsformate auf privaten Sendern. Mola Adebisi, Gülcan Kamps, Collin Ulmen-Fernandes, Arabella Kiesbauer, Aiman Abdalla – sie alle haben seit den frühen 90er-Jahren das deutsche Fernsehangebot internationaler gemacht.
In Nachrichtensendungen, vor allem denen der öffentlich-rechtlichen Sender, verlief die Integration von Moderatoren mit Zuwanderergeschichte zurückhaltender. Doch auch hier hat sich in den letzten Jahren beispielsweise mit der Besetzung von Linda Zervakis als erste Tagesschau-Sprecherin mit Migrationshintergrund im Jahr 2013 oder Pinar Atalay und Ingo Zamperoni für die Tagesthemen viel getan. Vor rund zehn Jahren hat der damalige Fernsehdirektor des WDR Ulrich Deppendorf davon noch geträumt.
Mini-Volontariat für „grenzenlosen“ Journalismus
Nichtsdestotrotz bedarf es auch hinter den Kulissen mehr Journalisten mit Migrationshintergrund. Förderprogramme, die sich an genau diese Zielgruppe richten, gibt es nur wenige. Der WDR bietet beispielsweise seit elf Jahren die Talentwerkstatt “grenzenlos” an, bei der Nachwuchsjournalisten aus Zuwandererfamilien eine Art komprimiertes Mini-Volontariat geboten bekommen.
Auch der Verein “Neue Deutsche Medienmacher” setzt sich dafür ein, dass in deutschen Redaktionen mehr Diversität herrscht. Neben einer 15-monatigen multimedialen Ausbildung gibt es ein Mentorenprogramm, in dem Vereinsmitglieder wie beispielsweise ZDF-Moderatorin Dunja Hayali Nachwuchsjournalisten mit Migrationshintergrund ein Jahr lang bei ihrem Weg in die Branche unterstützen.
Keine Quoten, aber mehr Problemlösung, bitte!
Zum Abschluss noch eine Einschränkung: Natürlich gibt es viele Beispiele von Journalisten voller Empathie, die großartige Sozialreportagen mit genauem Blick auf Missstände schreiben – und auch der beste Film über das DDR-Leben unter der Stasi wurde von einem 33-jährigen Münchner veröffentlicht, der gerade einmal 16 Jahre alt war als die Mauer fiel. Genau das ist aber das Problem: Solche Einzelbeispiele hängen zu sehr von Zufällen und gütigen Mentoren ab.
Dieser Text soll nicht zu Quoten aufrufen. Eigentlich sollen Sie nicht einmal Ihre Kollegen durchzählen. Aber wir wollen das Bewusstsein schärfen und Mut machen: Der eine sieht persönlich, wie in den USA Redakteure mit Minderheitenhintergrund vielerorts für die fesselndsten Geschichten und neue Rubriken sorgen oder sogar komplette Startups gründen. Die andere hat das tolle WDR-Programm „grenzenlos“ erlebt.
Aber: So geht es nicht weiter. In wie vielen Redaktionen gibt es solche festen Strukturen für mehr Vielfalt? In wie vielen Nachwuchsprogrammen ist allein das Bewusstsein dafür verankert? Wie häufig wird einfach der Bewerber genommen, der auf der selben Journalistenschule war und in den gleichen drei Redaktionen hospitiert hat wie man selbst?
Schieben wir dogmatische Quoten zur Seite. Lassen wir uns stärker auf die Diversity-Debatte ein. Geben wir einer anderen Art Nachwuchs eine Chance: Ohne Germanistik-Studium, aus dem Ausland oder aus einer ärmeren Familie. Sicher ist das anfangs aufwendiger in der Betreuung. Dafür gibt es plötzlich neue Themen, einen frischeren Blick und den Draht in bisher kaum in den Redaktionen vertretene Communities. Als Belohnung winken nicht nur ein besseres Produkt und klügere Argumente gegen Lügenpresse-Verschwörungstheoretiker. Am Ende stehen auch neue Zielgruppen, mit denen sich gutes Geld verdienen lässt.
In der kommenden Woche schreibt an dieser Stelle Burkhard Schäfers von der Katholischen Journalistenschule ifp zum schwierigen Spannungsfeld von Multimedia und Spezialisierung. Wie finden Ausbilder hier den richtigen Mittelweg?
Weitere Befragungen zu Journalisten und ihren Einstellungen zur Parteineigung von Politikjournalisten:
Studie: „Politikjournalistinnen und -Journalisten“
Referat: „Die Souffleure der Mediengesellschaft“
„Journalisten mit Migrationshintergrund“
Goethe-Institut
„Migranten als Medienmacher sind selten“
„Die riesengroße Migrantenlücke in deutschen Redaktionen“
„Mehr Vielfalt als Weg zur Integration“
Interview: „Brauchen Medien eine Migrationsquote?“
„Interview: „Ein Lösungsanstatz: Interkulturelle Kommunikation“