Das Ende der Blackbox
Ich möchte Ihnen ein paar Zeilen aus einem Chat vorlesen, der kürzlich um die Mittagszeit herum stattfand. „Wie lange kann es dauern, von der Gemeinde eine Antwort auf eine einfache Frage über Schneeräumung zu bekommen?“ – „Nicht so lange.“ – „Mh. Gesendet habe ich meine Anfrage am Donnerstag und bekam sie auch bestätigt, was anderes habe ich aber noch nicht gehört!“ So ging es noch etwas weiter.
Wenige Minuten später wurde dann das Thema gewechselt, es ging um Schulessen: „Eure Diskussion macht mich hungrig. Ich bin jetzt vorübergehend offline.“ Nach der Mittagspause die nächste Meldung: „Emma ist jetzt im Büro, ich werde also mal gehen und ein bisschen die Sonne genießen.“ Kurz darauf quatschte besagte Emma mit ihrem Gegenüber über die anstehenden Eishockey-Playoffs und wo man denn das Spiel am besten schauen kann.
Was für Banalitäten, werden Sie jetzt sagen! Und fragen: Was soll das?
Ich verrate es Ihnen: Das sind nicht etwa Kollegen oder Freunde, die sich hier über Alltägliches austauschen. Sondern Redakteure im Gespräch mit ihren Lesern. Das ist nur ein kleiner Eindruck des Chats, den die schwedische Regionalzeitung „Norran“ führt. Tag für Tag, von morgens bis abends und zwar über was auch immer die Leser möchten. Google Translate ist leider nicht so gut, dass ich alle Gespräche verstehen könnte. Aber mit einer der chattenden Redakteurinnen, Jessica Dhyr, habe ich mich kürzlich auch länger unterhalten, und sie hat bestätigt: Hier geht’s ums Mittagessen, das Wetter, Urlaube oder Wochenendpläne.
Nun bin ich ein sehr digitaler Mensch und im Netz auch recht transparent als Journalistin unterwegs. Aber glauben Sie mir: Selbst ich war anfangs irritiert. Im ersten Moment kann man das auch schon mal etwas skurril finden. Aber so banal es auch wirkt: Am Ende ist dieser direkte Draht zum Publikum eine mögliche Antwort auf die Frage, die ich für den heutigen Tag ergründen sollte, nämlich: Was braucht der Journalismus (nicht)? Er braucht eine ganze Menge: gute Rechercheure, kritische Geister, meinungsstarke Macher, Qualitätssicherung. Aber das sind Selbstverständlichkeiten, über die wir nicht mehr wirklich reden müssen.
Ich bin wegen der Dinge hier, über die vor ein paar Jahren so noch die Wenigsten nachgedacht haben. Wegen dem, was die digitale Revolution für den Journalismus bedeutet. Um das klar zu sagen: Ich halte nichts von der Schwarzmalerei mancher. Davon, dass wir Journalisten künftig nicht mehr brauchen wie bisher, weil die Masse im Netz ihren Job genauso gut kann. Humbug! Aber klar ist für mich: Der Journalismus braucht Bewegung. Er darf nicht glauben, dass er unfehlbar ist. Er muss kritikfähig sein. Und sich deswegen öffnen.
Wozu öffnen?
- Weil Journalisten nicht mehr die einzigen mit Zugang zu Informationen sind und das Publikum wertvolle Hinweise liefern kann. In ihrem Chat bekommt die Redaktion von „Norran“ neben jede Menge alltäglichem Kram auch immer wieder Hinweise, aus denen exklusive Geschichten werden.
- Weil Journalismus allzu oft an denen vorbei schreibt, für die er doch gemacht wird.
- Weil es ein Überangebot an Informationen vor allem im Netz gibt und eine Marke heute kreativ werden muss, um im Gedächtnis zu bleiben.
- Weil die Markenbekanntheit und die Bindung an ein Medium angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung im Mediensektor eine wichtige Rolle spielt. Und meiner Meinung nach noch mehr spielen wird in Zukunft. Und
- spreche ich übrigens nicht ausschließlich von Medienunternehmen, wenn ich Marke sage, sondern meine auch und immer mehr freie Journalisten.
Wie öffnen?
Für Redaktionen oder Freischaffende kann das Öffnen bedeuten, mit dem Leser über die aktuelle Wetterlage zu reden wie sie es bei „Norran“ machen. Auf jeden Fall heißt es, für das Publikum erreichbar zu sein. Ich persönlich tue dies vor allem via Twitter. Aber es gibt unzählige andere Wege. Zum Beispiel ein News Café wie bei der kanadischen Zeitung „The Free Press“, wo Redakteure in einem Lokal sitzen und für ihre Leser ansprechbar sind. Und ich bin sicher, an die meisten Möglichkeiten haben wir noch gar nicht gedacht.
Wir haben Journalismus zu lange als Black Box zelebriert: Der Leser bekam nur das fertig geschliffene Ergebnis. Wenn ihm das nicht gefiel, konnte er entweder einen Leserbrief schreiben oder das Produkt einfach nicht mehr kaufen. Als Leserin meine ich: Das ist mir nicht mehr genug. Als Journalistin sage ich: Es ist doch toll, wenn ich heute schon während meiner Arbeit weiß, was meine Zielgruppe will. Wenn ich sie fragen und einbeziehen kann. Wenn ich von ihr lernen kann. Und mit ihr zusammenwachse anstatt sie zu verlieren.
Erlauben Sie mir noch eine letzte Anmerkung zur Frage „Was braucht der Journalismus noch?“ Dass wir über dieses Thema nächstes Jahr an dieser Stelle nicht mehr sprechen müssen, weil es ein selbstverständlicher Teil zum Beispiel der Recherche ist. Dass wir stattdessen einfach machen.
Diese Rede hat Carolin Neumann am Tag des Wirtschaftsjournalismus an der Kölner Journalistenschule gehalten.