Wer kritisiert die Medien?
Die Medien haben die Aufgabe, die im Rahmen der Gewaltenteilung getrennten drei Staatsgewalten – die Legislative, die Exekutive und die Judikative – zu kontrollieren. Sie gelten deshalb als vierte Staatsgewalt, und zwar als besonders mächtige, weil sie wesentlichen Einfluss auf die öffentliche Meinung und politische Entscheidungen haben und selbst keiner vergleichbaren Kontrolle unterworfen sind; der Deutsche Presserat mit seiner freiwilligen Selbstkontrolle wird oft als „zahnloser Tiger“ bezeichnet.
Welche Macht die Medien haben, zeigt sich in der täglichen Praxis, wenn durch Berichte Stimmungen in der Öffentlichkeit produziert oder verstärkt werden. Als Beispiel für den Bereich der Strafjustiz sind die zahllosen und detaillierten Darstellungen über Gewaltverbrechen zu nennen, die unter dem Aspekt „only bad news are good news“ verbreitet werden und in der Bevölkerung seit Jahren eine Kriminalitätsangst produzieren, die im völligen Gegensatz zu den realen Zahlen der Strafverfolgungsstatistik stehen. Unter anderem wegen solcher Medienberichte will niemand glauben, dass die Kriminalität seit Jahren beständig abnimmt (seit 1995 exakt um 11,1 Prozent) und in den letzten beiden Jahren mit jeweils unter sechs Millionen Straftaten einen absoluten Tiefststand erreicht hat. Erst recht will niemand glauben, dass die Anzahl der Fälle von Mord und Totschlag ganz extrem gesunken ist, nämlich von 3.928 im Jahr 1995 auf den Tiefstand von 2.728 Fällen im Jahr 2011, was einen extremen Rückgang um 44,1 Prozent darstellt.
Diese „Stimmungsmache“ gilt nach meiner Einschätzung gerade auch für die Medienberichterstattung auf dem Gebiet des Extremismus und Terrorismus. Während in den Anfängen der RAF-Zeit – sieht man von einzelne Presseorgangen ab – in der Medienberichterstattung durchaus Sympathie angeklungen und Kritik an der konsequenten Strafverfolgung laut geworden ist, hat die Medienmehrheit nach meinem Eindruck in Bezug auf den Rechtsterrorismus mit dem Schlagwort, die Justiz sei auf dem rechten Auge blind, immer wieder ein zu zaghaftes Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden beklagt. Der so in der öffentlichen Meinung verursachte Eindruck ist nach meinen eigenen Erfahrungen als staatsanwaltlicher (Mit-)Sachbearbeiter von RAF-Verfahren, aber auch der rechtsradikalen Anschläge auf das Oktoberfest am 26.9.1980, von Mölln am 26.10.1992 und auf die Lübecker Synagoge am 25.3.1994 völlig verfehlt.
Überhaupt scheint es aus meiner Sicht für etliche Medienvertreter chic zu sein, staatliche Einrichtungen anzugreifen, was nach meiner Einschätzung zu einer verstärkt zu beobachtenden Staatsverdrossenheit beigetragen hat. Damit meine ich natürlich nicht, dass berechtigte Kritik nicht geäußert werden dürfte; genauso außer Frage steht selbstverständlich auch, dass es Aufgabe der Medien ist, Missstände aufzudecken und darüber kritisch zu berichten. Nicht mehr hinnehmbar ist aber, wenn nicht mehr Entscheidungen der Justiz kritisiert, sondern einzelne Personen zu „Reizfiguren“ hochstilisiert werden.
Kennzeichnend für diese Art der Medienberichterstattung ist für mich der Umgang mit dem Mord an der Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter am 25.4.2007 in Heilbronn. Nach einem medialen Aufschrei über die schreckliche Tat kam alsbald die Klage über die fehlende umgehende Aufklärung des Attentats (obwohl der Mord ja am helllichten Tag geschah!), verbunden mit Spekulationen über mögliche Tathintergründe (Rauschgift, persönliche Gründe?). Geradezu euphorisch war dann die Presseberichterstattung, als durchsickerte, dass am Polizeifahrzeug eine DNA-Spur gesichert worden war, die möglicherweise von einer weiblichen Täterin stammte, von der Spuren auch bei weiteren Straftaten in Österreich, in Frankreich und im Südwesten Deutschlands gefunden worden waren.
Hohn und Spott
Obwohl die Ermittler sehr früh der Frage nachgingen, ob mit diesen DNA-Spuren etwas nicht stimmen könnte (Untersuchungen an Original-Wattestäbchen brachten aber insoweit zunächst keine Erkenntnisse), wurde in den Medien nicht der geringste Zweifel an diesen Spuren geäußert. Gleichwohl waren Hohn und Spott in der Medienberichterstattung gnadenlos, als sich Ende März 2009 aufgrund weiterer kriminaltechnischer Untersuchungen der von den Kriminalisten gehegte Verdacht bewahrheitete, dass man bei den Ermittlungen einer „Phantomspur“ aufgesessen war, weil die DNA-Spuren, die vermeintlich von der selben Täterin an mehreren Tatorten entdeckt worden waren, in Wahrheit von einer Frau stammten, die die Wattestäbchen beim Verpacken mit ihren eigenen Hautpartikeln verunreinigt hatte.
Wenig positiv waren auch die Reaktionen auf die sarkastisch klingende, aber für die Kriminaltechnik äußerst bedeutsame Formulierung des damaligen Präsidenten des Landeskriminalamts Baden-Württemberg, Klaus Hiller: „Wir haben eine Frau gesucht und eine Frau gefunden!“. Denn in diesem Satz kam zum Ausdruck, dass DNA-Spuren trotz der überaus bedauerlichen Phantomspur unverändert wichtig für die kriminalistische Ermittlungsarbeit sind.
Nicht durch nüchterne Berichterstattung waren schließlich auch die Meldungen geprägt, als am 4. November 2011 nach einem Banküberfall in Eisenach in einem Wohnmobil die beiden Pistolen gefunden wurden, die Michèle Kiesewetter und ihrem Kollegen bei der Tat in Heilbronn geraubt worden waren. So wurde aus einem Radio-Interview, das ich dem SWR gegeben hatte, die Sensationsmeldung „Staatsanwalt hält Polizistinnen-Mord für aufgeklärt“, obwohl ich – wie der folgende Radio-Mitschnitt zeigt – etwas Anderes erklärt hatte:
Der Stuttgarter Generalstaatsanwalt Klaus Pflieger ist sich sicher, dass die Gruppe um die toten Sparkassenräuber für den Mord an der Polizeibeamtin verantwortlich ist. „Solche Waffen gibt man nicht weiter“, sagt mir Klaus Pflieger in einem Telefoninterview. Und dann wörtlich: „Die Erkenntnisse, die wir jetzt aus Thüringen und Sachsen haben, haben bei mir die Überzeugung begründet, dass wir mit den dort befindlichen Personen, insbesondere mit den Männern, die Gruppe haben, die für den Mord an Michèle Kiesewetter und dem Mordversuch an ihrem polizeilichen Begleiter verantwortlich ist. Inwieweit wir der Frau, die sich heute gestellt hat, eine Tatbeteiligung nachweisen können, ist aber zu prüfen, einen dringenden Tatverdacht haben wir jedenfalls bei einer ersten Prüfung nicht bestätigen können.“
Nur am Rande sei erwähnt, dass die Sensationsmeldung „Staatsanwalt hält Polizistinnen-Mord für aufgeklärt“ nicht nur unsere Ermittlungspartner verärgert, sondern mir umgehend auch zahllose Interviewanfragen von Nachrichtensendern beschert hat, die alle enttäuscht waren, dass ich die Meldung so nicht bestätigen konnte.
Nach den Waffenfunden in dem genannten Wohnmobil sowie in einem in die Luft gesprengten Wohnhaus in Zwickau, wo sich unter anderem die Waffen befanden, mit denen Michèle Kiesewetter erschossen und ihr Kollege schwer verletzt worden waren, war aus meiner Sicht der übliche Ablauf der Medienberichterstattung zu beobachten, nämlich „Aufregung statt Aufklärung“: zunächst Freude über die Aufklärung der Tat, dann aber sofortige Kritik an der Arbeit der Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden.
Wenige Fragen
So sehr diese Kritik insbesondere in Bezug auf das Abtauchen der NSU-Verdächtigen berechtigt gewesen sein mag, so interessant ist, wie wenig die Medien danach gefragt haben, welche Chancen die Behörden nach diesem Abtauchen hatten, um hinter der gesamten Mordserie Rechtsterroristen zu vermuten. Ich möchte dies an dem Polizistinnenmord von Heilbronn verdeutlichen:
Unter dem Stichwort „Propaganda der Tat“ war es ab Ende des 19. Jahrhunderts quasi ein Markenzeichen des Terrorismus, dass die Täter Aktionen und Attentate mit Vorbildcharakter verübten, um die Bevölkerung „aufzuwecken“ und bei ihr Sympathien zu schaffen, um somit letztlich die angestrebte politische und soziale Veränderung zu ermöglichen. Deshalb sollte bereits die Tat als solche für sich selbst sprechen. Verstärkt wurde diese Propaganda -insbesondere in den 70er- und 80er-Jahren bei den Anschlägen der RAF, aber auch bei den rechtsterroristischen „Deutschen Aktionsgruppen“ um Rechtsanwalt Manfred Roeder – durch so genannte Tatbekennungen, meist in Form von Bekennerschreiben.
Auch bei den rechtsextremistischen Brandanschlägen in Mölln im Jahr 1992 wurde diese Propaganda deutlich, als die Täter nach den beiden Brandlegungen jeweils bei der Polizei anriefen und den Anruf mit „Heil Hitler!“ beendeten. Solche Tatbekennungen fehlten bei dem „NSU“ zunächst. Nach meiner Einschätzung sprachen auch die Morde – zumindest der Polizistinnenmord von Heilbronn – nicht automatisch für sich selbst. Keiner von uns Ermittlern – aber auch kein Medienvertreter – hat hinter dem Mord an Michèle Kiesewetter ein rechtsterroristisches Attentat vermutet. Dass die NSU-Täter möglicherweise selbst Zweifel an der Propagandawirkung ihrer Anschläge hatten, könnte meines Erachtens erklären, dass nach den Ereignissen von Eisenach und Zwickau Anfang November 2011 ein Video verbreitet wurde, in welchem unter dem Titel „Paulchen’s Streiche“ nicht nur die so genannten Döner-Morde, sondern auch der Polizistinnenmord von Heilbronn in Art einer Selbstbekennung dargestellt sind.
Mit diesem Hinweis verbinde ich meine persönliche Kritik an der Medienarbeit, die meines Erachtens auch im Heilbronner Mordfall durch die Verbreitung von Aufregung und nicht durch den ernsthaften Versuch der Aufklärung geprägt war. Natürlich ist man – wie es so schön heißt – hinterher immer schlauer. Manche Medien haben aber den Eindruck erweckt, sie hätten es in Bezug auf die gesamte Mordserie des NSU schon immer gewusst.
Komfortable Position
Dazu gibt es ein schönes Zitat: „Denken wir daran, wenn wir mit dem Finger auf einen anderen zeigen, dass drei Finger auf uns zurückweisen“ – mit anderen Worten: man sollte sich selbst hinterfragen. Denn wo waren die Medien über Jahre hinweg, als die sog. Döner-Morde und schließlich der Kiesewetter-Mord geschahen? Wann haben sie sich selbst oder öffentlich die Frage gestellt, ob hinter dieser Mordserie Rechtsterroristen stehen könnten? Wenn man – wie die Medien – in der komfortablen Position ist, dass man andere zu kontrollieren hat, aber selbst – praktisch – nahezu nicht kontrolliert wird, läuft man Gefahr, sich selbst nicht kritisch zu beurteilen. Wer aber erlaubt sich unter den Betroffenen, an zweifelhafter Medienarbeit Kritik zu üben? Grundsätzlich niemand, weil bei einer Kritik häufig unter den Medien ein Solidarisierungseffekt zu beobachten ist, der die Kritik an den Medien entweder ignoriert oder mit dem Argument, dies sei ein Angriff auf die Pressefreiheit, mundtot macht.
Damit komme ich zu dem für mich bedauerlichen Ergebnis, dass die Medien als die anerkannte vierte Gewalt in unserem Land zwar die anderen drei Gewalten kontrollieren und entsprechend kritisieren können, selbst aber weder einer Kontrolle noch einer ernsthaften Kritik ausgesetzt sind. Was bleibt, ist eine Art Selbstreinigungsprozess der Medien. Eine solche selbstreinigende Kritik ist etwas, was jedenfalls bei der Justiz – und vor allem bei den Staatsanwaltschaften – verstärkt Gewicht und Bedeutung erlangt. In diesem Kontext habe ich mir erlaubt, bei zwei Vorträgen zu den Themen „Staatsanwaltliche Ethik*“ und „Kulturrevolution in der Strafjustiz**“ unter anderem Folgendes zu bemerken:
„Unser Ziel muss es sein, dass wir eigenständige, selbstkritische, aber auch demütige Behörden- und Abteilungsleiter bekommen, wobei Demut nicht Unterwerfung und hündisches Kriechen, sondern ‚Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst‘ im Sinne von Selbstkritik bedeutet. …
Gerade bei einer Einrichtung, die – wie die Staatsanwaltschaft – hierarchisch aufgebaut ist, ist es von besonderer Wichtigkeit, dass innerhalb der Einrichtung alles infrage gestellt werden kann, ja muss. … Diese Entwicklung von einer autoritären Strafjustiz hin zu einer Strafjustiz, die hinterfragt wird und sich selbst hinterfragt, halte ich für eine geradezu revolutionäre Veränderung.“
„Demut, Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst“: Eine solche Selbstreinigung durch Selbstkritik wäre auch für manche Medien angebracht – vor allem für die, die in den letzten Jahren immer wieder effekthascherisch über rechtsextremistische Gewalt und voller Häme gegenüber Strafverfolgungsbehörden berichtet haben. Erste dahingehende Tendenzen sind erfreulicherweise zu beobachten. Wenn sowohl Justiz als auch Medien sich diesem selbstreinigenden Prozess dauerhaft unterwerfen würden, dann könnte ich in Bezug auf diese Thematik zum 30.6.2013 beruhigt in den Ruhestand gehen.
* Vortrag vor den Behördenleitern der württembergischen Staatsanwaltschaften am 20.10.2010
** Vortrag auf der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft am 29.9.2008 in Würzburg