Die Zehn-Tage-Regel bei Empörungen
Haben Forscher bereits zu ermitteln versucht, wie lange ein Skandal oder eine Empörung im Durchschnitt dauert? Auf dem Marktplatz der Medien kursieren regelmäßig Erkenntnisgewinne der Universitäten, wobei man beim Lesen der Erfolgsmeldungen öfters unsicher ist, ob nur der Journalist oder auch die Wissenschaftler einen schlechten Tag gehabt haben. „20 Minuten“ titelte jüngst: „Uni Genf: Hirnscanner entlarvt Rassisten“. Wer’s glaubt, wird selig. Nun zurück zur Ausgangsfrage: Statistisches zum Aufstieg und Niedergang von Skandalen ist mir nicht bekannt, doch erfahrungsgemäß dürften Empörungswellen nach zehn bis vierzehn Tagen ausklingen. Diese Faustregel scheint auch für die derzeitige Debatte um Sexismus zu gelten. Nach dem Startschuss des „Sterns“ am 24. Januar meldeten sich Anfang dieser Woche bloß noch Nachzügler zu Wort.
Eine Zehn-Tage-Regel hat eine gewisse Logik. Dies wegen der wöchentlich erscheinenden Blätter und Talkshows, die im intermedialen Diskurs eine meinungsverstärkende oder allenfalls meinungsbildende Rolle spielen. Falls nämlich die Redaktion eines Wochentitels oder einer Talkshow kurz nach dem Ausbruch einer Empörung unsicher ist, ob sie auf den Zug aufspringen soll, kann sie für die folgende Ausgabe auf einer sicheren Basis entscheiden. Zu diesem Zeitpunkt hat sie noch eine Chance, eine Diskussion zu befeuern. Einen dritten Versuch zur Einmischung gibt es kaum. Ermüdung hat dann selbst die Rauflustigen erfasst. Das Feld ist definitiv abgegrast.
„Soziale Netzwerke heizen das Klima auf“
Es sei denn, neue Fakten würden bekannt, welche die Sicht aufs Thema völlig umkehren. Diese Wahrscheinlichkeit ist beim Thema Sexismus ziemlich gering. Die Positionen sind hier seit langem bekannt. Die Kämpfer gegen politische Korrektheit, die Empörten, die Betroffenen und die Frauenversteher reden konsequent aneinander vorbei. Trotz dem öffentlich groß inszenierten Anspruch auf Transparenz prägen weiterhin Tabus das mediale Gespräch. Das erstaunt nicht. In Fragen wie dem Geschlechterverhältnis, wo das Private eine zentrale Rolle spielt, bleibt die Idee der Mediengesellschaft, man könne grenzenlos die Intimität und Komplexität von Beziehungen zur öffentlichen Angelegenheit machen, eine naive, wenn nicht gefährliche Illusion. Ein Gespräch im Freundeskreis – unbehelligt von Tugendwächtern irgendwelcher Couleur – taugt besser dazu, diese Fragen zu beleuchten.
Im jüngsten Fall überraschte trotz allem der starke Widerhall in den Medienkanälen. Nun heizen eben auch die sozialen Netzwerke das Klima auf: Was auf Twitter oder Facebook laut verhandelt wird, scheint für die Redaktionen Grund genug, einem Thema Bedeutung beizumessen. Und was die Massenmedien gross inszenieren, hallt auf den sozialen Netzwerken wider. So erregt man sich gegenseitig.
Dieser Kommentar ist ursprünglich auf „NZZ.ch“ erschienen.