ARD, ZDF und WER?
Es ist unmöglich, ein anderes Unternehmen – öffentlich wie privat – zu finden, dem es dermaßen an einer verantwortungsbewussten Führung mangelt, also einer zeitgemäßen Corporate Governance, wie den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Weil das Problem lange ignoriert und geduldet worden ist, konnten ARD und ZDF mit ihren Fehlern immer weiter und ins scheinbar Uferlose wachsen. Hans-Peter Siebenhaar hat für sein neues Buch über die Sender einen treffenden Titel gefunden: „Die Nimmersatten“.
Wer in den vergangenen zehn Jahren aufmerksam war, dem sind Intransparenz, Eigenmächtigkeit und Selbstherrlichkeit von ARD und ZDF nicht entgangen. Das System ist so unanständig feudal, dass es nicht mehr in unsere Zeit passt und dass wir Deutsche uns international damit eher blamieren als Exzellenz, Vielfalt und Professionalität im Mediensektor zu demonstrieren. Zu eklatant sind die Fälle von Schleichwerbung alleine in den vergangenen zehn Jahren (eindrucksvoll aufgedeckt unter anderem von Volker Lilienthal), von Verschwendung, wenn etwa Funktionäre des Systems First Class fliegen, von Filz – inhaltlich wie politisch. Niemals hat all das den Rücktritt eines Intendanten und eine Reform der systemischen Missstände zur Folge gehabt.
Es liegt der Schluss nahe, dass den Verantwortlichen das Gefühl für die Verantwortung fehlt, die sie für sehr viel Geld und sehr viel Macht tragen. Hochrangige Funktionäre der BBC, die bei Weitem auch nicht alles richtig, aber vieles entscheidend besser machen, konstatieren über die Verhältnisse bei ARD und ZDF: „We would not get away with it.“
System der Verantwortungslosigkeit
Dass die deutschen Funktionäre immer wieder gut wegkommen, legt einen weiteren Schluss nahe: Das System hat die Verantwortlichen nie dazu verpflichtet, Verantwortung überhaupt erst zu entwickeln. Es ist ein historisch gewachsenes System der Verantwortungslosigkeit, was darin gipfelt, dass öffentlich-rechtliche Anstalten wiederholt Urteile des Bundesverfassungsgerichts schlicht ignoriert haben, etwa für Staatsferne in ihren Organisationen zu sorgen. Das ist respektlos und trägt erneut feudale Züge. Hätte das Verfassungsgericht eine eigene Polizei, um seine Urteile durchzusetzen – eine Reihe Intendanten wären nicht gut weggekommen, denn sie hätten eine Erzwingungshaft antreten müssen.
Es ist zunächst nachvollziehbar, wenn Mitarbeitern der Anstalten der Blick für das Problem fehlt, schließlich ist ihr System existent und keine Chimäre. Jeder Arbeitsplatz ist gut ausgestattet, die Programme mit ihren Protagonisten gehören zum Inventar und Toppersonal der Gesellschaft, und der Grundgedanke eines öffentlich finanzierten Mediensektors ist Bestandteil der DNA der Bundesrepublik Deutschland. Man lebt also tagtäglich die Verfassung. Was kann daran schon grundlegend falsch sein?
Die Antwort lautet leider: Alles! „Leider“ muss deshalb gesagt werden, weil es für die deutsche Gesellschaft leichter wäre, wenn das System keine grundlegenden Fehler hätte. Denn es wird einen riesengroßen und vielleicht unmöglichen Kraftakt erfordern, es zu verändern und zu erneuern, in Teilen abzuschaffen und in Teilen neu zu erfinden. Und wer könnte diesen Prozess anstoßen? Nicht ein Aritkel. Nicht ein Buch, so gut und treffend es auch ist. Vielleicht der Bundespräsident? Es wäre schön, wenn er sich dem Thema wenigstens einmal in Ruhe widmen könnte.
Sie machen, was sie wollen
Die Analyse des fehlerhaften Systems von ARD und ZDF ist gleich in mehrfacher Hinsicht, also auf unterschiedlichen Ebenen möglich: verfassungsrechtlich, ordnungs- und wettbewerbspolitisch, inhaltlich, technologisch – und ethisch. Wer diese Auflistung schwerwiegender Anklagen auf sich wirken lässt, wird Schwierigkeiten haben zu entscheiden, was nun davon das größte Problem sein soll und wo eine Debatte, geschweige denn eine Reform überhaupt ansetzen kann. Überall gleichzeitig? Das käme einer Neutronenbombe gleich, nach deren Detonation sich zwangsläufig das gesamte System vollständig zerlegen würde. Aber vielleicht ist die komplette Abschaffung und Neugründung der einzige Weg.
Das Hauptproblem ist: ARD und ZDF mangelt es an Legitimation. Denn es ist vollkommen ungeklärt, wer sie eigentlich beauftragt, wer sie kontrolliert, womit sie beauftragt sind und wem gegenüber sie das belegen müssen. Sie machen im Prinzip, was sie wollen, und leisten darüber ein bisschen Rechtfertigung an die eine oder andere Adresse, also 16 Länderparlamente, 16 Länderregierungen, eine KEF – nicht aber an die entscheidende Instanz.
Denn Gebührenzahler, Staatsbürger und Zuschauer und Hörer sind es, die das System zahlen, tragen und nutzen. Damit sind sie – gerade auch in der Abgrenzung zum Staat und anderen steuerfinanzierten Kulturangeboten – als Eigentümer, als Öffentlichkeit und als Kunden zu betrachten. In gängigen Modellen von Coroporate Governance bilden sie damit deckungsgleich die Gruppe der wichtigsten Stakeholder: eine Triade der Topinteressen – diese Redundanz der Macht gibt es keinem anderem Unternehmen gegenüber.
Wir alle sind Eigentümer ohne Einfluss
Doch im Fall von ARD und ZDF sind diese Mächtigen – die wir alle sind! – in keinster Weise organisiert: Wir haben keinen Einfluss auf Entscheidungen, geschweige denn werden wir umfassend und regelmäßig über alles informiert. Auch hier gilt: Kein anderes Unternehmen käme damit durch, seine Eigentümer, Kunden und die Öffentlichkeit dermaßen zu übergehen. Öffentlich von den „Eigentümern“ zu sprechen, ist innerhalb der ARD-Führung sogar tabu. Nichts darf auf die wahren Verhältnisse hinweisen. Man erhält den Eindruck aufrecht, sich selbst zu gehören. Eine selbsterhaltende Bürokratie, die von niemandem direkt kontrolliert wird. Vielleicht sollten wir die Verantwortlichen loben, dass sie nicht noch unanständiger sind. Vielleicht aber wissen wir es bloß nicht.
Wäre es für die meisten Menschen nicht so ein langweiliges Thema und würden sich genügend beteiligen, müsste es regelmäßige Hauptversammlungen von ARD und ZDF geben, auf denen sich die Funktionäre erklärten – und sogar wählen ließen. Einen Versuch wäre es wert!
Mit der Existenz der Rundfunkräte gibt es sogar ein klares Bekenntnis zur Repräsentation der Stakeholder, bloß dass das Gekungel in diesen Gremien nicht nachvollziehbar ist – und nur den Eindruck verstärkt, dass ARD und ZDF eher feudale als moderne Systeme sind. Auch die Anzeigenkampagne „ARD, ZDF und SIE“ ist letztendlich nichts mehr als eine Simulation und Insinuierung von Teilhabe, und es wäre schön, am Ende des Jahres wenigstens einmal zu erfahren, wie viel Geld genau in diese Art der medialen Landschaftspflege fließt.
Zwei-Klassengesellschaft von Journalisten und Medien
Das zu erfahren, wäre umso interessanter in Zeiten, in denen viele Zeitungs- und Zeitschriftenverlage eine öffentlich-rechtliche Geldspritze sehr gut vertragen können – und man fast geneigt ist zu glauben, dass hier eine einflussreiche wie kreative Verlagslobby die Umleitung von Gebührengeldern mittels einer Anzeigenkampagne erreicht hat. Jedenfalls muss festgestellt werden, dass die Asymmetrie in der wirtschaftlichen Ausstattung des privat finanzierten Qualitätsjournalismus in Deutschland und im öffentlich-rechtlichen Qualitätsjournalismus eklatant groß ist. Diese Asymmetrie ist gesellschaftspolitisch und ethisch schon jetzt nicht mehr vertretbar.
Längst hat sich eine Zwei-Klassengesellschaft von Journalisten und Medienmanagement gebildet. Eine prekäre Klasse, die unter nicht optimalen Arbeitsbedingungen schuftet wie die Kollegen der „FTD“, und die am Ende sogar mit Arbeitslosigkeit konfrontiert sind. Und eine andere, de facto unkündbare Klasse unter relativ optimalen Arbeitsbedingungen, deren legitimer Anspruch auf bestmögliche Ausstattung und Recherchezeiten der prekären Klasse zunehmend erscheinen muss wie Verschwendung und Faulenzerei. Sie lässt ARD und ZDF und ihre Redakteure erneut feudal wirken gegenüber fast allen Zeitungsredaktionen mit dahinsiechenden Geschäftsmodellen und unterbezahlten Autoren.
Jedenfalls setzt sich in Verlagen langsam die Erkenntnis durch, dass der „verlagsähnliche“ Journalismus – so sehr er vor Gericht noch ums Überleben im privaten Sektor kämpft – einfach kein rundherum marktfähiges Modell mehr ist. Es ist für die Gesellschaft mit großer Wahrscheinlichkeit mittelfristig schädlich, dass Zeitungsverlage versuchen, dem öffentlich finanzierten Fernsehen und Radio zu verbieten, sich mit dem Geld aller Deutschen digital und „verlagsähnlich“ weiter zu entwickeln. Es ist wie ein Läufer, der stürzt und die anderen am Bein festhält, damit sie auch nicht weiterlaufen können. Am Ende bleibt uns dann nur Fernsehen und Radio, falls es zu einem Marktversagen im privaten Qualitätsjournalismus kommt.
Es wäre eine verpasste Chance, wenn wir diesem bedrohten Segment nicht auch den Zugang zu öffentlicher Finanzierung wenigstens potenziell eröffnen – die Entscheidung darüber kann jeder dann selbständig fällen. Nach gängigen Vorstellungen in Europa ist jedenfalls im Fall von Marktversagen – und nur dann – Staatshilfe erlaubt. Dazu zählt auch ein gebührenfinanziertes System.
Ein gestürzter Läufer, der die anderen festhält
Das führt zum zweiten großen Legitimationsproblem von ARD und ZDF: ihrem unklaren und technologisch völlig veralteten „Sende“-Auftrag. Besteht denn etwa ernsthaft Marktversagen im Senden von Fernsehprogrammen? Oder gar im hochprofitablen Radiosektor?
Um es auf den Punkt zu bringen: Die Deutschen leisten sich für mehr als acht Milliarden Euro jährlich Fernsehen und Radio und sehen zu, wie ihre Zeitungsredaktion an Defiziten sterben, die akkumuliert deutlich weniger als ein Prozent dieser Summe (weniger als 80 Millionen Euro) ausmachen. Konkret: Die „Financial Times Deutschland“ ist nach zwölf Jahren an einem Defizit von 250 Millionen Euro eingegangen, vereinfacht linear auf ein Jahr heruntergebrochen also an einem Defizit von 21 Millionen Euro. Das sind ungefähr 0,25 Prozent des jährlichen Haushalts der öffentlich-rechtlichen Anstalten. Es wäre im Vergleich einmal interessant zu erfahren, wie etwa die täglichen Hauptnachrichtensendungen von ARD und ZDF das Jahr abschließen und welcher Saldo sich nach Abzug von Werbeeinnahmen in einem realistischen optimalen Rahmen bilden würde.
Sollte sich ergeben, dass sie ebenfalls ein Defizit von 21 Millionen Euro oder gar mehr anhäufen (das im Moment quasi unbemerkt und ohne jede öffentliche Kenntnis, Diskussion und Kontrolle von Gebühren ausgeglichen wird), wäre es nicht einzusehen, dass defizitären Qualitätsredaktionen im Nicht-Rundfunk-Sektor ein ähnlicher Ausgleich grundsätzlich nicht ebenfalls offen steht – vor allem, sollte darüber ein Konsens in der Öffentlichkeit bestehen.
Die Privaten wollten sich nicht beteiligen
Als in den zwanziger Jahren die BBC gegründet wurde, galt die Auffassung, dass kein privater Investor, keiner der Großverleger, all die erforderlichen Sendemasten aufstellen würde, um für das ganze Land Radio anzubieten. Programm war damals noch nicht teuer – es entstand meistens in Studios -, die Rechtfertigung für die öffentliche Finanzierung lag vor allem in der Schaffung einer Infrastruktur und in der öffentlichen Kontrolle knapper Frequenzen bzw. in der Vermeidung einer privaten Kontrolle eben dieser.
In Deutschland war das nach dem Zweiten Weltkrieg ähnlich. Es wurde mit Gebühren das knappste und teuerste finanziert, was es damals gab: Frequenzen sowie die Technik, sie zu beschallen. Zunächst nur per Radio, später per Fernsehen. Diese Begründung ist heute obsolet. Es wird – von Verlegern – immer behauptet, sie hätten sich niemals an einem gebührenfinanzierten Modell beteiligt und würden sich daran nicht beteiligen, weil es ihre Unabhängigkeit gefährde. In diesem Kontext wird das öffentlich-rechtliche System immer wieder grundsätzlich als „Staatsfernsehen“ diffamiert – das ist es aber grundsätzlich nicht, sondern nur deshalb, weil seine Führung unfähig ist, die Staatsferne abzuschaffen. Die Wahrheit über die Verlegerposition ist auch nicht, dass sie sich niemals beteiligen würden. Sie wollten es bloß nicht, solange sie ein fantastisches Geschäftsmodell hatten, das sie in fünf Jahrzehnten zu Milliardären machte. Sollte ein neuer Konsens entstehen und ihnen öffentliche Finanzierung in irgendeiner Weise ermöglicht werden, wird sich zeigen, wie „unabhängig“ Verlage noch sein wollen.
Eine Debatte muss her – mit den Gebührenzahlern!
Es wird hier unterstellt, dass die Deutschen nach wie vor ein öffentlich finanziertes Mediensystem befürworten und bewahren wollen. Vielleicht ist das auch eine Aufgabe für die Europäer – zugegeben, eine noch schwierigere. Die Menschen befürworten eine kollektive Gebühr für Medien, deren Inhalte allen Staatsbürgern zugute kommen – Inhalte, die ohne diese Gebühren nicht entstehen würden. Dann wäre es wichtig, diesen Konsens gerade in Zeiten zu diskutieren und zu erneuern, in denen der private Markt für Qualitätsjournalismus versagt. Dies droht vor allem für teure Recherchen. Womöglich brauchen wir in Zukunft mehr denn je eine kollektiv geförderte Produktion von Qualitätsjournalismus, die nicht primär marktorientiert arbeiten muss, sondern die sich kraft Auftrag auf kritische Vielfalt, Gründlichkeit, Genauigkeit, gesellschaftlichen Diskurs und Meinungsbildung konzentrieren darf.
Die Ergebnisse dieser Produktion sollten unbedingt allen Vertriebsformen offen stehen – auch den „verlagsähnlichen“. Sie sollten in jeden Fall als Texte angeboten werden, vielleicht gedruckt, aber vor allem digital. Die Verbreitung sollte keine Rolle spielen in einem Kontext von Legitimation, der teure und nicht ausreichend sicher am Markt refinanzierbare Qualitätsproduktionen absichert. Hinzu kommt, dass es anmaßend ist von Verlagen, Text als „verlagsähnlich“ zu deklarieren. Text ist ein allgemeines öffentliches Gut, das kulturgeschichtlich niemals irgendwem gehörte – nicht einmal in Diktaturen. Es ist der Träger unserer Kultur, und es ist unvorstellbar, dass eine gesunde Legitimation für öffentlich finanzierte Medien ohne diese „Verlagsähnlichkeiten“ auskommt, da sie ja nichts anderes bedeutet als das Zwischenhändlertum von Inhalten. Dass private Verlage dies monopolisieren wollen, ist nicht akzeptabel.
Was wir jedenfalls nicht mehr primär benötigen, sind rein öffentlich finanzierte Vertriebsangebote für Fernsehen und Hörfunk. Erst wenn die Debatte über die angemessene zeitgemäße Verwendung von Gebühren neu geführt, wenn alle Gebührenzahler daran teilnehmen und ein neuer Konsens über die kollektive Förderung von Medien erzielt worden ist, die unter Marktbedingungen nicht entstehen können – erst dann hat das öffentlich-rechtliche System die Legitimation erlangt, die in Teilen abhanden gekommen ist und die zu anderen Teilen nie existierte. Andernfalls bleibt es ein großer Systemfehler der Bundesrepublik.
Der Autor hat in einer Studie für die London School of Economics im Jahr 2006 die Stakeholder-Politik von ARD und BBC verglichen und darin auf die großen Mängel im Umgang mit den Gebührenzahlern des deutschen Senderverbunds hingewiesen.
Dieser Text ist in leicht veränderter Fassung zuvor im „Handelsblatt“ erschienen.