,

Berieseln schwer gemacht

Wenn Markus Lanz am kommenden Samstag in Bremen seine zweite Sendung als „Wetten, dass..?“-Moderator bestehen muss, wird er vermutlich schon etwas weniger „Schiss in der Bux“ haben, als er anlässlich seiner ersten in der „Bild“-Zeitung befürchtete. Und doch sitzt ihm der unerbittliche Druck der Einschaltquote im Nacken. Ein weiteres Mal muss er sich mit Thomas Gottschalk, seinem Vorgänger beim ZDF, am wichtigsten aller wöchentlichen Fernsehabende im Show-Duell messen.

Auch wenn das Wohl und Wehe der Fernsehzunft aktuell noch über die Einschaltquote entschieden zu werden scheint: Das ist das alte Fernsehen, geprägt von der Mentalität einer verblassenden Ära, in der es als unangefochtenes Leitmedium das Sehverhalten ganzer Generationen formte. Längst zählen andere Qualitäten. Aber auf diese hat sich die Fernsehindustrie noch nicht ausreichend eingestellt.

Zugegeben: Hin und wieder lebt es auf, das Massenmedium alter Größe mit seiner beispiellosen Sogwirkung, abzulesen an Rekordzuschauerzahlen, etwa wenn das Finale der Fußballweltmeisterschaft stattfindet oder eine königliche Hochzeit. Der Abschied des Fernsehens vom Millionenpublikum vollzieht sich jedoch weder langsam, noch ist er nur eine gewagte Prognose: Denn laut ARD/ZDF-Onlinestudie des Jahres 2011 sehen schon jetzt mehr als zwei Drittel der Internetnutzer in Deutschland audiovisuelle Inhalte online – nahezu doppelt so häufig auf Videoportalen als auf den Websites der Fernsehsender.

Durch die Medienlandschaft geht ein demographischer Bruch: Die Alten sitzen vor dem Fernseher, die Jungen surfen TV im Netz. Die Fernsehveranstalter stehen vor dem Dilemma, sich geordnet neu zu erfinden, um nicht noch mehr Boden an YouTube oder ähnliche Plattformen abzugeben, die mit Milliarden von Videofilmchen eine neue Clip-Kultur begründet und die Seh- und Hörgewohnheiten von Jugendlichen weltweit verändert haben.

Das „Fernsehen von morgen“ gibt es schon heute: Internetfähige Laptops, Tablet-PCs und Smartphones werden häufig ergänzend zum Fernseher genutzt. Und ARD und ZDF arbeiten derzeit an einer gigantischen Mediathek, die bis Jahresende online gehen soll und die die Voraussetzung für das Fernsehen der Zukunft sein wird: TV auf Abruf. Denn der guten alten Glotze droht sonst, zu dem „Restzeitmedium“ zu verkommen, das die TV-Kritikerin Klaudia Wick vergangene Woche auf den Münchener Medientagen angeprangert hat und das „erst eingeschaltet wird, wenn wir für alles andere zu müde, zu zerstreut, zu ausgepowert“ sind.

Klasse statt Masse

Durch die Veränderung eines bisher linearen Mediums zu einem digitalen Abrufmedium kündigt sich ein Paradigmenwechsel an. Fernsehproduktionen sind nicht mehr nur im unaufhörlichen Programmfluss auf den einzelnen Sendern und Kanälen zu sehen, sondern sie können auch über Internetportale zielgerichtet abgerufen werden. Online-Mediatheken werden dadurch zu audiovisuellen Katalogen, die redaktionell betreut und vom Nutzer durchstöbert werden können. Damit nähert sich das Fernsehen immer mehr der Musikwirtschaft und dem Buchhandel an. Es ist dann so, als ginge man in eine Buchhandlung oder, wohl eher, als bestelle man sich eine Neuerscheinung bei Amazon.

Das Schema der einzelnen Sendungen, an die man sich ja so gewöhnt hat, wird auf diese Weise einer elementaren Reorganisation unterzogen. Die Abrufmöglichkeit und dadurch ermöglichte asynchrone, also zeitlich versetzte, Nutzung enthebt das Fernsehen fortan seiner bisherigen Flüchtigkeit. Wir, die Zuschauer, lassen auf diese Weise unseren eigenen Fluss aus dem bereitstehenden Repertoire entstehen, werden also auf eine Art selbst zu unserem eigenen Programmdirektor.

Der Fernsehwissenschaftler Jeremy Butler hat das einmal als „the triumph of pull over push“ beschrieben – mit anderen Worten: Der selbstbestimmte Abruf übertrumpft das bevormundende Senden. Wenn der souveräne Zuschauer statt aus einem Programmangebot aus einem Fundus an Sendungen schöpfen kann, dann übernimmt er die Kontrolle über das bisher wichtigste strategische Gut des Fernsehens: die Zeit. Fernsehen auf Abruf befreit den Zuschauer von festen Sendeterminen und der Auswahlbeschränkung durch das zeitlich strukturierte Programmangebot, das Fernsehen selbst befreit sich von der Quote. Gradmesser ist die Angebotsfülle, nicht die Masse an Zuschauern. Quote adé, und das ist kein Verlust.

Schicksalhaftes Zahlenwerk

Denn die grundsätzlichen Probleme der bisherigen Einschaltquotenbestimmung konnten nie zufriedenstellend gelöst werden: Gemessen wird allein das An-, Um- und Abschaltverhalten von Fernsehzuschauern in knapp 5.600 Haushalten. Die oft schicksalshaften Werte, die von Branchendiensten jeden Morgen vermeldet und in den Programmdirektionen der Sender akribisch studiert werden, sind ein hochgerechnetes und insofern künstliches Zahlenwerk. Der Industrie reicht es als einfache Vergleichsgröße, um Werbeplätze zu verkaufen. Dass daraus auch populäreres oder etwa besseres Fernsehen resultiert, konnte dagegen nicht belegt werden.

Zu gewinnen gibt es für die Zuschauer dagegen viel: Denn je souveräner und interessengeleiteter sie künftig auf TV on Demand zugreifen, ihre Lieblingssendungen aufstöbern und sie zu Sammlerstücken machen, desto weiter verlängern sich die Lebenszyklen der jeweiligen Produktionen als Kultur- und Wirtschaftsgüter. Mit anderen Worten: Das Wertbewusstsein des Nutzers für das Fernsehprodukt steigt – und zahlt sich auch aus. Gemäß der Long-Tail-Theorie können selbst Nischenprodukte mit dem Aufkommen des Internet rentabel vermarktet werden, wenn eine ausreichende Vielfalt verfügbar und für den Kunden leicht auffindbar ist. Wir werden also in Zukunft schneller und direkter bedient, weil das Netz im Gegensatz zu Sendeplänen keine Kapazitätsgrenzen kennt.

Die Zeit drängt für Streaming von TV-Inhalten

Ein Motto dieser Veränderung ist die Aktivität von jungen Leuten, die im Internet neue Serien aus dem Ausland tauschen, weil es ihnen bis zur Ausstrahlung im deutschen Fernsehen, geschweige zum Verkaufsstart der DVD-Box, zu lange dauert. Diese kriminellen Kapriolen, die dem Reiz der unmittelbaren Verfügbarkeit entspringen, setzten in der deutschen Fernsehbranche einen Prozess des Umdenkens in Gang und lassen mittlerweile Pay-TV-Angebote und legale On-Demand-Plattformen aus dem Boden sprießen. Ein wegweisender Schritt, schließlich galt Deutschland bisher wegen des umfassenden Programmangebots als schwieriges Terrain für Bezahlfernsehen. Die Zeit drängt, denn auch branchenfremde Anbieter wie die Global Player Apple und Google drängen in den Markt und haben bereits mehrfach unter Beweis gestellt, wie schnell sie die Marktführerschaft in Distributionsfragen an sich reißen können.

Das Ende der Fernsehsender, wie wir sie kennen, steht deshalb aber noch nicht zwingend bevor, zumal, wenn es den Machern gelungen ist, eine starke Marke aufzubauen. Auch die Mainzelmännchen haben deshalb eine Zukunft. Es stellen sich aber neue Aufgaben: Die Produktion von originären Sendungen und Formaten wird zum eigentlichen Kerngeschäft. Die einfache Wiederverwertung von Lizenzware dagegen reicht nicht mehr aus, um Nutzer an sich zu binden. Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten wiederum sehen ihren Rundfunkauftrag grundsätzlich in Frage gestellt: Wie sollte die verfassungsrechtlich festgeschriebene Grundversorgung mit Information und Unterhaltung in einer Mediengesellschaft gewährleistet werden, in der digitale Speicher- und Abruftechnologien dominieren und viele junge Mediennutzer kein herkömmliches Fernsehgerät mehr besitzen? Und was geschieht mit den Dritten Regionalprogrammen im Netz, die es immer schwerer haben, ihr eigenständiges Profil zu verteidigen? An dem schwelenden Streit der privaten Fernsehwirtschaft mit ARD und ZDF über die öffentlich-rechtlichen Online-Aktivitäten lassen sich die gravierenden Anpassungsschwierigkeiten eines über Jahrzehnte gewachsenen Rundfunksystems in all ihrer Komplexität studieren.

Das Ende der Verbannung

Wie aber wird sich die Gesellschaft verändern, wenn sich TV on Demand durchsetzt und das überkommene lineare Programm ablösen sollte? Die skizzierte Restrukturierung des TV-Angebots bedeutet nichts weniger als eine Erosion grundlegender Gewissheiten, auf die sich die Fernsehmacher bisher verlassen konnten. Den Produzenten wird abverlangt, sich vom simplen Quotendenken zu lösen und den Bedarf von interessierten und informierten Nutzern noch genauer zu treffen. Es wird also anstrengender, erfolgreich Fernsehen zu machen. Massengeschmack rechnet sich wohl weiterhin und erwirtschaftet dort Werbeerlöse, wo Event-Fernsehen hohe Nutzungszahlen verspricht. In diesem Sinne funktioniert auch Live-TV im Web, jedoch nur dann, wenn Zuschauer auch noch nach dem Fernseherleben zufrieden sind und ihre Erfahrung mit ihren Kontakten teilen, indem sie sie auf den abrufbaren Mitschnitt der Sendung aufmerksam machen. Wehe also demjenigen, der die Möglichkeiten der interaktiven Einbindung von Nutzern außer Acht lässt.

Für alle übrigen Sende- oder vielmehr Abrufformate gilt: Weil die Produzenten stärker auf die Interessen von Zielgruppen achten müssen, von Familien beispielsweise, wird sich das Publikum noch stärker ausdifferenzieren, werden die Angebote noch vielfältiger und pluralistischer. Eine anspruchsvolle Dokumentation wird nicht mehr ins Nachtprogramm verbannt. Die kollektive Fernseherfahrung ist dadurch aber nicht passé, sondern wird eher noch intensiviert: In den digitalen Netzwerken lässt sich – parallel oder im Nachhinein – gut über das Gesehene streiten und diskutieren; Sendungen können weiter empfohlen werden. Das allabendliche elektronische Lagerfeuer mag ausgedient haben, aber das sogenannte Anschlussgespräch nicht. Früher nannte man dieses Phänomen ja „Watercooler-TV“: In der Frühstückspause konnte man über das reden, was man am Vortag gesehen hatte. Heute müsste man das fern jeder Plattitüde „Fernsehen 2.0“ nennen, weil sich jenes Anschlussgespräch längst zur virtuellen Begleitdiskussion entwickelt hat.

Dem Nutzer bleibt jedoch die Qual der Wahl, denn das Angebot von abrufbaren Fernsehinhalten wird eher unübersichtlich seun. Das also werden wir Zuschauer noch lernen müssen: Selbst wer sich einfach nur vom Fernsehen berieseln lassen möchte, muss sich zuerst eine Playlist zusammenstellen. Aber wer hat geglaubt, dass nicht auch lieb gewonnene Fernsehgewohnheiten dem Wandel zum Opfer fallen?


Dieser Beitrag erschien zuerst in der Wochenzeitung „der Freitag“ und kann ebenfalls hier nachgelesen werden.