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London 2012 – zwischen Faszination und Kritik

Auch in London wird es wieder so sein: Bei der Eröffnungsfeier spazieren stundenlang Sportler ins Olympiastadion. Die Zuschauer applaudieren ausdauernd. Die Kleidung der Sportler unterscheidet sich, ebenso der Grad ihrer nach außen getragenen Begeisterung. Aber ansonsten: das immer gleiche Prozedere. Keine Abwechslung, keine Tempowechsel, nichts. Ein dramaturgischer Anachronismus, im  modernen Fernsehen ansonsten unvorstellbar. Wie viele Zuschauer sich so etwas anschauen? Milliarden. Wieder wird es so sein, das kein 100-Meter-Lauf, kein Schwimmwettbewerb an die Einschaltquoten der Eröffnungsfeier heranreicht.

Wie kann das sein? Natürlich: Der sogenannte „Einmarsch der Nationen“ wird umrahmt von einer aufwändigen Inszenierung. Das olympische Feuer wird entzündet, ein bis zuletzt geheim gehaltenes optisches Spektakel dient nicht zuletzt der Selbstdarstellung des Gastgeberlandes. Aber es muss noch etwas in dieser Veranstaltung stecken, das sich dramaturgisch nicht erschließen lässt. Etwas, das Fernsehzuschauer in aller Welt fasziniert. Nennen wir es „die olympische Idee“.

Wie definieren wir diese Idee? Eine klare Formel gibt es nicht. Doch in der Rhetorik von Sportlern und Funktionären erkennen wir wiederkehrende Elemente, die mit Olympia verbunden werden. Internationalität, Fairplay, politische Unabhängigkeit. Elemente, die nicht frei von Widersprüchen sind und die auch die Erwartungen an die TV-Berichterstattung kennzeichnen.

Internationale oder nationale Perspektive?

Die Olympischen Spiele sind ein Fest des Sports. Die Jugend der Welt trifft sich zum sportlichen Wettkampf. Eine Faszination von Olympia besteht in der Internationalität. Das wird die nationalen Radio- und Fernsehmacher aber nicht davon abhalten, auch in London vor allem dort live dabei zu sein, wo nationale Medaillen in Reichweite scheinen. Auch Print- und Onlineredakteure werden mehr über nationale Erfolge und Enttäuschungen berichten als über internationale Sportler. Ein Widerspruch? Ja, aber bereits angelegt in der Entstehungsgeschichte der Spiele.

Seit Beginn der olympischen Spiele der Neuzeit gibt es neben den völkerverbindenden Idealen auch eine große Präsenz nationaler Symbole. Denken wir nur an den schon erwähnten Einmarsch der Nationen oder an Siegerehrungen inklusive Nationalhymnen. Bis heute ist diese Vielschichtigkeit ein Balanceakt für die Berichterstatter. Ein Beispiel sind die jahrzehntelangen Kontroversen um den sogenannten „Medaillenspiegel“. Mal selbstverständlicher Bestandteil der Berichterstattung, dann als nationalistisch verpönt. Anschließend etwas zögerlich wieder ausgepackt, mittlerweile bei den meisten Berichterstattern wieder selbstverständlicher Bestandteil. Doch wer würde sich wundern, wenn die Diskussion bald von vorn begänne? Wie kann der Journalismus klar Position beziehen in der Berichterstattung über ein Ereignis, das selbst in seiner Ausrichtung in sich widersprüchlich ist?

Die ersten olympischen Spiele, die ich vor Ort für das ZDF journalistisch begleitet habe, waren die Sommerspiele in Atlanta 1996. Dort hat es mich noch negativ berührt, wie national fokussiert die „Host Broadcaster“ über die Wettkämpfe berichtet haben. Das „U-S-A, U-S-A!“ übertönte den Gedanken eines internationalen Sportfests. In den letzten 15 Jahren hat sich auch die Berichterstattung in Deutschland mehr und mehr auf „nationale Helden“ konzentriert. Davon gab es genug. All die Schumachers, Hannawalds und Ullrichs, die Sportereignisse zu Quotenhits gemacht haben. Die Überhöhung von Sportlern ist, wie viele Beispiele zeigen, problematisch. Für die Sportler selbst, die mit dem Erwartungsdruck oft schwer umgehen konnten. Für die Journalisten, weil sie auch Sportler glorifiziert haben, die später zu Dopingfällen wurden. Weniger Nähe, mehr Distanz – das muss die Konsequenz der letzten Jahre sein.

Was bedeutet das für London 2012? Spannende Wettbewerbe ohne deutsche Beteiligung sollten ihren Platz im Programm haben. Wenn wir uns unterscheiden wollen von den sehr national orientierten olympischen TV-Berichterstattern, muss unsere Tonlage auch weniger pathetisch sein und trotzdem natürlich Begeisterung an den Wettkampforten aufnehmen und vermitteln – Balanceakte für TV-Berichterstatter.

Gefahr durch Politisierung?

Häufig wird mit den olympischen Spielen der Anspruch politischer Unabhängigkeit verbunden, kombiniert mit dem Ideal der Völkerverständigung und einem etwas diffusen Friedensanspruch. Aber die olympische Historie hat gezeigt, dass die Politisierung des Sports zu existentiellen Krisen der olympischen Spiele geführt hat. Die propagandistische Instrumentalisierung der Spiele von 1936 durch die Nationalsozialisten gilt als warnendes Beispiel. Die „Boykottspiele“ von Moskau und Los Angeles führten ebenfalls zu einer tiefen Krise der olympischen Bewegung. Die Diskussionen um Peking 2008 haben gezeigt, dass die Frage, ob das Gastgeberland auch heute noch die Spiele zur propagandistischen Imageaufbesserung nutzen könnte, nach wie vor aktuell ist. Dies betrifft natürlich nicht nur Olympia, sondern auch andere sportliche Großereignisse, wie die Boykott-Diskussionen um die Fußball-Europameisterschafts-Spiele in der Ukraine gezeigt haben.

Natürlich können Sportjournalisten nicht in jedem politischen Thema zum Experten avancieren, aber sie haben oft genug bewiesen, dass sie mehr können als „1:0“-Berichterstattung. Sie sind in erster Linie Journalisten, die sich in Themen einarbeiten und sie für die Zuschauer übersetzen. Der Sport ist ein Mikrokosmos für viele Themen, die weit über Ereignisberichterstattung hinausgehen. Es gehört zu den Aufgaben der Reporter, auch politische Bezüge herstellen zu können, wenn dies gefragt ist. Natürlich im Team mit den Auslandskorrespondenten der Sender und in Ergänzung zu den politischen Formaten, die über die Hintergründe der Olympischen Spiele berichten.

Kommerz gegen olympische Ideale?

In den siebziger Jahren musste das IOC um die Fortsetzung der Olympischen Spiele fürchten. Nach dem finanziellen Fiasko für Montreal 1976, dessen Auswirkungen die ganze Region noch Jahrzehnte später belastet hat, fehlten dem IOC Bewerber für die weiteren Spiele. Niemand schien mehr Interesse an der Ausrichtung zu haben. Der insgesamt umstrittene IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch machte nach seinem Amtsantritt 1980 aus dem Pleite-Unternehmen IOC eine Gelddruckmaschine. Seitdem reißen sich Sponsoren um olympische Präsenz. Die olympischen Ringe wurden zu einem kommerziellen Markenprodukt. War das der Beginn einer olympischen Zeitenwende? Sicher, doch die Kommerzialisierung hat nicht erst mit Samaranch eingesetzt. Schon der im Nachhinein arg idealisierte Coubertin hat mit Beginn der Olympischen Spiele der Neuzeit geschickt Interessen miteinander verbunden, gegeneinander ausgespielt und war so etwas wie ein talentierter „Event-Manager“, der seine Idee zu verkaufen verstand.

Mittlerweile hat die Kommerzialisierung neue Dimensionen erreicht. Heute müssen sich Fernsehanstalten verpflichten, zu Beginn ihrer Übertragungen Spots mit den IOC-Sponsoren in ihrem Programm unterzubringen. Viel Geld ist im Spiel. Verlage und Rundfunkanstalten sind selbst um Auflage und Einschaltquoten bemüht. Die Olympischen Spiele sind ein Wirtschaftsfaktor. Mit allen damit verbundenen negativen Folgeerscheinungen. So scheinen die Korruptionsfälle im Umfeld der Vergabe von Olympischen Spielen nicht abzureißen.

In welchem Netzwerk von Interessen sich der Sport bewegt, muss uns Sportjournalisten immer bewusst sein. Nicht nur Sportler profitieren, wenn sie olympische Erfolge feiern. Es sind zum Beispiel auch Berater, Sponsoren, Sportartikelfirmen und Funktionäre nationaler und internationaler Verbände, die ein Interesse an positiver Berichterstattung haben. Die zukünftige finanzielle Unterstützung für eine Sportart hängt auch in Deutschland davon ab, wie erfolgreich ihre Athleten bei den Olympischen Spielen abgeschnitten haben. Allein diese Konstellation schafft Probleme. Hat wirklich jeder ein Interesse an einer unabhängigen Berichterstattung?

Besonders kritisch sehe ich in diesem Zusammenhang die Tendenz, dass Verbände wie zum Beispiel der DFB im Rahmen von Großereignissen mehr und mehr dazu übergehen, Interviews und Bilder in Eigenregie herzustellen und den Sendern anzubieten. Was wie eine Dienstleistung wirkt und im Einzelfall auch sinnvoll sein mag, kann im Krisenfall dazu führen, dass Sportjournalisten die kritische Nachfrage verwehrt bleibt.

Doping

Ein weiterer Kern der olympischen Idee ist der Gedanke des „Fairplay“. Ist diese Maxime noch zeitgemäß? Die Doping-Diskussionen der letzten Jahre haben zu Recht eine neue, kritischere Ära des Sportjournalismus eingeläutet. Keiner kann mehr naiv an dieses Thema herantreten. Das IOC ist in seiner Argumentation fein raus. Werden viele „Doping-Sünder“ erwischt, greifen die verschärften Kontrollen. Werden keine erwischt, hat das Kontrollsystem im Vorfeld so gut funktioniert, dass Doping nicht mehr möglich ist. Doch wer glaubt an dopingfreie Spiele?

Wir – Journalisten, Wissenschaftler, Sportler, Funktionäre, Zuschauer, Politiker, Sponsoren, etc. – sind uns nicht einig darüber, was wir vom Sport in dieser Gesellschaft erwarten. Soll er den Idealismus verkörpern, der in so vielen anderen Lebensbereichen abhanden gekommen ist? Sind wir bereit, uns von den Zeiten der hochgejubelten Weltrekorde zu verabschieden? Klingt „höher, schneller, weiter“ in den heutigen Zeiten nicht bedenklich nach Leistungsoptimierung um jeden Preis? Taugen Athleten heute noch zum Vorbild?

So werden sich viele, egal für welches Medium sie arbeiten, auch in London wieder unsicher sein darüber, wie sie außergewöhnliche Leistungen bewerten sollen. Mit Generalverdacht? Mit genereller Vorsicht? Mit ungeteilter Begeisterung, solange man dem Athleten nichts nachweisen kann?

Unser gesellschaftliches Verhältnis zum Sport muss neu definiert werden, genau wie die olympische Idee. Dabei sollten wir weder die Faszination noch die Glaubwürdigkeitsdefizite ausblenden. Es ist nicht leicht, zu den Fragen, die unser Verständnis vom Sport insgesamt betreffen, allgemeingültige Antworten zu formulieren. Aber in jedem Fall können wir misstrauisch sein gegenüber allen Funktionären, Verantwortlichen und Sportlern, die allzu überzeugt vorgeben, die Antworten bereits zu kennen.