Objektivität – Ende einer Illusion?
Die Beschaulichkeit der Weihnachtsfeiertage war gerade vorbei, da bescherte ein Kollege aus dem fernen Brasilien dem deutschen Journalismus eine handfeste Grundsatzdiskussion. Der ehemalige Guardian-Reporter Glenn Greenwald, der gemeinsam mit Edward Snowden die NSA-Affäre an die Öffentlichkeit brachte und sich seit diesem Scoop in Südamerika aufhält, hielt die Keynote beim Jahrestreffen des Chaos Computer Club, des Hackervereins, der sich unter anderem für Privatsphäre in der digitalen Kommunikation engagiert. Greenwald, per Skype nach Hamburg zugeschaltet, nahm die versammelten Computerexperten zumindest verbal mächtig in den Arm: „Die Pro-Privacy-Allianz ist viel größer und stärker, als viele von uns, auch wenn wir dazugehören, denken.“
„Wir“ statt „Ihr“, ein klares Statement jenseits aller journalistischen Neutralität – so interpretierten Kai Biermann und Patrick Beuth für „Zeit Online“ den Auftritt des US-Amerikaners. Greenwald habe „in seiner Rede eine Grenze überschritten“, kritisierten sie: „Er hat sich mit den anwesenden Hackern gemein gemacht, mit den Aktivisten und Bürgerrechtlern. Er sieht sich als einer von ihnen.“
Sich mit einer Sache gemein zu machen, das gilt spätestens seit Hanns Joachim Friedrichs als einer der Kardinalfehler des Journalismus. Kurz vor seinem Tod im Jahr 1995 gab der schwerkranke ehemalige Tagesthemen-Moderator dem „Spiegel“ ein Interview, in dem er mit dem Satz „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten“ ein Vermächtnis hinterließ, das die Ausbildung und Berufsausübung einer ganzen Journalistengeneration geprägt hat.
Im internationalen Vergleich stößt Friedrichs’ Objektivitätsdogma im deutschen Journalismus – zumindest quantitativ – auf breite Zustimmung. 89 Prozent der deutschen Journalisten stimmten 2005 in einer repräsentativen Befragung der Aussage zu, sie wollten „das Publikum möglichst neutral und präzise informieren“ – eine Steigerung von 15 Prozentpunkten gegenüber der zwölf Jahre zuvor von der Universität Hamburg durchgeführten Erststudie. Nur knapp die Hälfte der Befragten sah ihre Rolle auch darin, „Kritik an Misständen zu üben“, sich journalistisch für die Benachteiligten in der Bevölkerung einsetzen wollten gar lediglich 30 Prozent.
Doch es regt sich Widerstand gegen Friedrichs’ Credo. Die Frage, ob Journalisten auch Aktivisten sein dürfen, bewegt Medienmacher – das machte der Fall Greenwald ein weiteres Mal deutlich. Im Anschluss an die Kritik der „Zeit Online“-Redakteure entwickelte sich eine lebhafte Debatte in den sozialen Medien. Via Twitter tauschten Skeptiker und Befürworter, nicht zuletzt auch Greenwald selbst, öffentlich Argumente aus. „Der Unterschied zwischen einem Journalisten und einem Aktivisten ist, dass ein Aktivist aktiv eine Seite unterstützt, ohne zu sagen: Hier ist die Information, lieber Leser, ziehe deine eigenen Schlüsse, das sind meine“, meint Juliane Leopold, Social-Media-Redakteurin der „Zeit“. Journalismus hingegen mache Interessenlagen transparent und richte nicht.
Greenwald selbst lehnt die strikte Trennung zwischen Journalist und Aktivist ab: „Wer diese Unterscheidung macht, stellt Standards auf, die er selbst nicht erfüllen kann.“ Ähnlich sieht es eine weitere Diskutantin: Journalisten stellten sich bereits mit jeder Entscheidung für oder gegen ein Thema auf eine Seite. (Die Diskussion auf Twitter können Sie in diesem Storify von Steffen Konrath nachlesen.)
Nach wie vor gilt vielen Journalisten Friedrichs’ Credo als Leitlinie ihrer Arbeit. Mit dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis werden Recherchen ausgezeichnet, die dies besonders beherzigen. „Alle Seiten zu Wort kommen lassen, das Gesagte hinterfragen, ohne zu werten“ – das versteht auch WDR-Fernsehreporterin und Preisträgerin Eva Müller als Grundlage ihres Schaffens: „Am Ende kann und soll der Zuschauer selber denken.“
„Journalisten streben wie Wissenschaftler nach Erkenntnis, ja nach Wahrheit“, beschreibt auch „Zeit Online“-Redaktionsleiter Jochen Wegner sein Berufsethos. Das möge zwar ein kaum einlösbarer Anspruch sein, aber: „Dass ein völlig neutraler Journalismus nicht denkbar und kein Journalist ohne Beeinflussung ist, dass wir täglich gegen das Neutralitätsprinzip verstoßen, sollte uns nicht davon abhalten, nach einem solchen Ideal zu streben – und unser Scheitern so gut wie möglich zu dokumentieren. Die Demokratie lebt besser mit Journalisten, die weiter ihren romantischen Idealen nachhängen.“
Allerdings ist das Objektivitätsprinzip für viele Journalisten längst kein unumstößliches Berufsgebot mehr. Selbst Friedrichs’ Nachfolger bei den Tagesthemen, Ulrich Wickert, hält den Satz der Nachrichtenlegende und die daraus abgeleiteten Erwartungen für ein Missverständnis: „Ich habe mich immer mit Sachen gemein gemacht. Jeder Journalist macht sich in einem Unrechtsstaat mit der Sache der Unterdrückten gemein. Was Hanns Joachim Friedrichs meinte, war, dass ein guter Journalist eine Sache ohne Rücksicht auf eigene Interessen verfolgt.“
Das Problem, das Wickert und viele seiner Kollegen mit dem Neutralitätsgebot haben, hat meist zwei Ursachen. Erstens verstehen viele Journalisten die Presse als „vierte Macht“ im Staat, als Korrektiv für Fehlentwicklungen in Politik und Gesellschaft. Dies muss nicht zwingend in eine dezidiert parteipolitische Agenda münden, Menschenrechte und andere international anerkannte Normen sind ebenfalls Grundsätze, mit denen sich Journalisten „gemein machen“ – Inbegriffe einer „guten Sache“.
„Ich habe oft genug in meinem Leben die Erfahrung gemacht, dass man sich bei fundamentalen Sachen einmischen muss. Als Kriegsberichterstatter mischen Sie sich auch ein und sagen mit Ihren Beiträgen zumindest indirekt, dass Frieden schon ein bisschen besser ist als Krieg“, sagt zum Beispiel die designierte WDR-Chefredakteurin Sonia Mikich. In die gleiche Kerbe schlägt „Zeit“-Autorin Carolin Emcke gegenüber dem Medienforum Vocer: „Sich nicht gemein zu machen hieße, in einer Situation, in der ich glaube, dass Kriegsverbrechen begangen werden, diese nicht zu benennen. Das wäre doch absurd. Es ist unsere Aufgabe, Unrecht auch als Unrecht zu benennen.“
Es mag eine Illusion sein, mit Journalismus die Welt verbessern zu können. Objektive Redaktionen sind jedoch ebenso unrealistisch. Und so stößt jeder Journalist, der Friedrichs’ Zitat außerhalb des luftleeren Raumes von Lehrbüchern und Seminaren reflektiert, sehr bald auf ein zweites Problem: Jeder Journalist ist auch Mensch. Kein Artikel, keine Reportage oder Analyse entsteht ohne eine persönliche Geschichte und individuelle Ansichten des Autors – mindestens unbewusst. Auch Günter Wallraff, einer der engagiertesten und bekanntesten Investigativjournalisten in Deutschland, glaubt nicht an Neutralität: „Journalisten, die behaupten, sie seien unparteiisch, machen sich und anderen was vor: Entweder wissen sie nicht, wie stark sie an bestimmte Interessen gebunden sind, oder sie verschweigen es bewusst.“ Für ihn ist das „Gemeinmachen“ eine Chance, den Kern einer Geschichte zu erreichen: „Ich bin gerne bereit, meine Distanz aufzugeben, wenn ich dadurch der Wahrheit näherkomme – anstatt in einer Pseudo-Distanz zu verharren und abgehoben über die Wirklichkeit hinweg zu schreiben.“
Nichtsdestotrotz bleibt die Balance von Neutralität und Meinung ein schmaler Grat für Journalisten und Leser. Buchautor und Blogger Klaus Jarchow („Nach dem Journalismus“), ohnehin selten um eine provokante These gegenüber der klassischen schreibenden Zunft verlegen, kritisiert den „unengagierten Industrieton“ der „empathiebefreiten“ deutschen Zeitungen. Tatsächlich dürfte mancher Leser einen leidenschaftlichen, kontroversen Artikel einer nüchternen Faktenmeldung vorziehen – ein Faktor, der für die ohnehin meist nur noch sehr losen Bindungen zwischen Publikum und Medium nicht zu unterschätzen ist.
Dass diese Art von Journalismus zwar nicht die Regel, aber immerhin auch kein Exot unter den Stilformen ist, beweisen regelmäßig aktuelle Beispiele. Allein das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ bezog in jüngster Vergangenheit auf dem Titel sehr deutlich Position.
Klarer als mit der Schlagzeile „Asyl für Snowden“ hätten die Hamburger ihre Meinung zum NSA-Skandal wohl nicht formulieren können. Anlässlich der Proteste in Istanbul erschien das Magazin mit türkischen Sonderseiten und der Titelzeile „Beugt euch nicht“ auf Türkisch. Demgegenüber fahren die konservativen Blätter der Springer-Presse, allen voran die Bild-Zeitung, kaum verschleierte Kampagnen: sei es gegen die griechische Eurorettung oder für die amerikanische Abhörpolitik. Neuerdings gerieren sich die Boulevardzeitung und ihr Chefredakteur Kai Diekmann als „außerparlamentarische Opposition“.
Die Verpflichtung zur ausgewogenen Berichterstattung hebt all das nicht auf. Es ist durchaus anzunehmen, dass der Leser eine Meinung lesen will – begründet sollte sie aber in jedem Fall sein. „Jede Haltung, die ein Journalist hat, sollte gegenüber seinem Publikum transparent und öffentlich gemacht werden, damit jeder weiß, wo er steht und warum“, bloggte der freie Journalist Daniel Bröckerhoff im Zuge der Greenwald-Debatte: „Meiner Meinung nach wird ein Journalist zum Aktivisten, wenn er aufhört, sich selbst, seine Arbeit, seine Ergebnisse und seine Verbündeten zu hinterfragen.“
Auch für Martin Hoffmann sind Glaubwürdigkeit und Transparenz die Knackpunkte im modernen Journalismus: „Ich muss wissen, wie die Interessenlage desjenigen aussieht, der über ein Thema berichtet“, schreibt der MDR-Redakteur auf seinem Blog.
Mit welchem Politiker Parlamentskorrespondenten befreundet sind, welche Aktien Börsenjournalisten im Depot liegen haben, für welche Konzerne freie Journalisten PR machen – all das bleibt aktuell meist im Dunkeln. Der klassische Journalismus hat das Prinzip „Transparency is the new objectivity“ noch lange nicht verinnerlicht. „Es ist für mich schwer vorstellbar, dass Journalisten Akteure eines Themas sind, dem sie sich professionell widmen. Sie können am Abend nicht Wahlkampf für eine Partei machen, deren Innenleben sie tagsüber im Fernsehen kommentieren“, meint „Zeit Online“-Chef Wegner.
Hanns Joachim Friedrichs’ Ideal vom neutralen, sich nicht gemeinmachenden Journalisten würde kaum ein Praktiker der heutigen Zeit rundheraus ablehnen. Die meisten jedoch haben erkannt: Der Journalist als objektive Instanz ist nicht realistisch – und in letzter Konsequenz womöglich auch gar nicht erstrebenswert. Moderner, publikumsfreundlicher Journalismus braucht eine ergebnisoffene Recherche ebenso wie klare Standpunkte.
Vielleicht aber wurde der Grandseigneur des deutschen Nachrichtenfernsehens auch ganz falsch verstanden. Martin Hoffmann jedenfalls hat festgestellt, dass sich auch Friedrichs zu seiner aktiven Zeit insbesondere mit dem Umweltschutz sehr stark „gemein gemacht“ habe: „Friedrichs hat nie einen Widerspruch darin gesehen, sich auch als Journalist für eine Sache einzusetzen. Im Gegenteil: Hanns Joachim Friedrichs war Zeit seines Lebens selber äußerst engagiert.“
Wir übernehmen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung von „Message“ – Internationale Zeitschrift für Journalismus. „Message“ begleitet die Entwicklung der Medien aufgrund der Digitalisierung und Globalisierung und soll die auf Brauchbarkeit ausgerichtete Vermittlung zwischen Wissenschaft und Berufspraxis leisten. Leseproben aus der Zeitschrift und weitere Informationen finden sich auf der Website des Magazins.