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Die Kanalisation der Welt

Das Londoner Science Museum unterhält einen sehr beliebten Museumsladen. Dort kann man ein für deutsche Fernsehschaffende unverzichtbares Souvenir erwerben: Das „Reflect Mouse Pad“ mit einem Aufdruck des guten alten deutschen Fernsehtestbildes. Medienmacher wissen: Eine Maus ist mehr als irgendein Tier. Wie in der Genforschung ist sie Modell, ja Symbol für das was kommt. Sie hat, so die modernen Mediengenetiker, mit dem klassischen, „alten“ Fernsehen nichts mehr zu schaffen. Im Gegenteil. Die Begründung steht auf der Mouse-Pad-Verpackung: „Der Computer und die Retro-TV-Grafik helfen, uns liebevoll zu erinnern an die Schönheit einer soon-to-be obsolete technology“.

Das also ist die Antwort auf die Zukunftsfrage des Fernsehens: Fernsehen ist eine zum Gimmick verkommene „soon-to-be-obsolete technology“ – ein Fall für das mediale Sterbezimmer. Pech nur, dass allen Untersuchungen zufolge, die ich kenne, der Patient sich sehr vital zeigt. Der Fernsehkonsum steigt tendenziell sogar. Und Fernsehen ist das beliebteste elektronische Neben­beimedium der Welt geblieben. Erneute Panik: Ja, aber schauen denn die Richtigen? Oder „nur die Alten“? Fernsehmacher scheinen bei dieser arroganten Definition der Zielgruppe zu vergessen, dass die heutige Generation älter werdender Menschen die vermutlich am besten gebildete Generation überhaupt ist.

Davon auszugehen, dass man diese immer größer werdende Gruppe automatisch „behält“ nur weil man öffentlich-rechtlich sei, ist vermutlich ein folgenschwerer Irrtum. Entsprechend gibt es bei Pro7Sat.1 völlig nüchtern und marktkonsequent Überlegungen, einen Spartensender für Senioren zu gründen. Viele TV-Macher scheinen ernsthaft zu glauben, dass für das Fernsehen alles vorbei sei, wenn die Masse der Zuschauer eben nicht mehr 15 Jahre, sondern älter ist und wird.

Qualität wird entscheiden

Ich bin skeptisch, was derartige Sterbemeldungen und die notorisch fehlerhaften, langfristigen Zukunftsvoraus­sagen der eigenen Branche angeht. Die Antwort auf die Frage nach der Zukunft des Fernsehens liegt meiner Meinung nach jenseits der Hysterie, die ohnehin zyklisch alle Jahre wiederkehrt.

Und sie ist überraschend einfach. Sie lautet: Über die Zukunft des Fernsehens wird einzig und allein seine Qualität entscheiden. Seltsamerweise haben sich gerade im Umfeld dieser für die Zukunft entschei­denden Frage der Qualität die größten Irrtümer der Fernseh­branche (und der Medienpolitik) breit gemacht. Zum Beispiel die Idee, allein der Wettbewerb sichere die Qualität und die Zukunft des Fernsehens. Genau diese Wettbewerbsidee war das Argument der Medienpolitik, Ja zu „Tutti Frutti“ zu sagen, Ja zur Boulevardisierung – weil sie ein notwendiger Schritt auf dem Weg zur Pluralisierung der Medien darstellte. Aber kommt das Heil automatisch aus der Steigerung der Vielfalt?

Immer mehr desgleichen

Mehr als 20 Jahre später dürfte allmählich klar geworden sein, dass dieser Prozess des Wettbewerbs keine Verbesserung im Sinne einer Steigerung von Qualität hervorgebracht, sondern lediglich Kanälen und der Sendeminuten vervielfältigt hat. Qualität bleibt dabei zunehmend auf der Strecke.

Diese Entwicklung hat eine einfache geradezu wissenschaftliche Erklärung. Darwin wies in seiner Evolutions­theorie darauf hin, dass es keine „angeborene Neigung zu einer Entwicklung in Richtung des Fortschritts gibt“. Alles was es gibt ist eine Entwicklung in Richtung fortschreitender Ausbreitung in Nischen hinein. Entsprechend garantiert auch der Wettbewerb der Fernseh­programme keineswegs Fortschritt, Gewinn und Qualitäts­verbes­serung. Der Wettbewerb zwischen ähnlichen Lebewesen (etwa zwischen Redakteur/Innen in Fernsehanstalten) führt einzig und allein zu einer weiteren Spezialisierung der betreffenden Spezies innerhalb der jeweiligen (neu besiedelten oder neu erschlossenen) Nischen.

„Besser“ ist in diesem Fall nicht das Produkt, sondern lediglich die gelungene Anpassung an eine noch kleinere Nische des Marktes. Der Neurobiologe Gerald Hüther bemerkt dazu in seinem Buch „Was wir sind und was wir sein könnten“: „Konkurrenz führt immer nur dazu, dass das, was bereits entstanden ist, weiter spezialisiert wird“. Aus diesem Grund führt derzeit der Wettbewerb im Fernsehen nur zu immer mehr Kochshows, Talkshows, Soaps, Spielshows, das heißt zu immer mehr desgleichen (und manchmal auch desselben) in einer weiter steigenden Zahl von Nischen, die ihrerseits immer kleinere Teile des Marktes abbilden. Der Markt für Bibel TV oder Angler-TV ist eben nicht so groß wie der für Fußball oder die Tagesschau.

Fazit: Die zunehmende Kanalisation ist nur die sichtbare Form einer Spezialisierung und Fragmentierung, nicht aber einer Zunahme von Qualität.

Fetisch der Quote

Tatsächlich hat die Orientierung aller Sender am Fetisch der Quote statt an einem zu definierenden Qualitätsstandard (zu dem notwendig ein Bildungsindex gehört) lediglich zu einer nachweisbaren Gleichförmigkeit des Angebotes geführt. Indem sich beispielsweise Unterhaltung auf immer mehr Kanälen verteilt, wird eine fortschreitende Verdünnung der Substanz erreicht – jedenfalls dann, wenn Unterhaltung lediglich als Talk in Erscheinung tritt – statt als (zuweilen durchaus unterhaltsame) Bemühung, zu argumentieren, Gegenargumente zu würdigen und im Gespräch Erkenntnisse zu gewinnen. Braucht man tatsächlich Quotenmessungen, um „wettbewerbsfähig“ zu bleiben?

Angenommen, die öffentlich-rechtlichen Sender hätten einen lupenreinen Nachweis, dass ihre Produkte den Kriterien von Bildung, Information und Arbeit am „Public Value“ und damit dem juristisch festgelegten Kern ihres „Geschäftes“ entsprichen: Sollten sie sich dann nicht weigern, die Quoten ihrer Produkte überhaupt auszuweisen? Quoten dienen einzig und allein dem Festlegen des Preises für Werbung, nicht aber der Überprüfung von Qualität. Ich vermute, dass es kaum ernst zu nehmende Journalisten, Politiker oder Fernsehkunden gibt, die sehenden Auges behaupten würden, dass die minimalistischen Variationen bzw. Wiederholungen von Programmen oder die Ausstrahlungen sehr ähnlicher bis gleicher „Programmfarben“ einen tatsächlichen publizistischen Mehrwert haben.

Wem die Forderung nach völliger Quotenabstinenz zu steil ist, sollte sich fragen, ob nicht zumindest Nischenprodukte von den Quotenvorgaben ausgenommen werden sollten – zumal es sich bei den ermittelten Nischen-Quoten ohnehin meist um Daten handelt, die im Messfehlerbereich liegen und daher in keiner wissenschaftlich validen Untersuchung Beweiskraft hätten.

Bloß nicht festlegen!

Entsprechend nervös und angespannt ist die Situation in den Sendeanstalten und Redaktionen. „Wir befinden uns im größten Umbruch, den die Medienlandschaft je zu bewältigen hatte“, lautet das übergreifende Konsensmantra. „Alles ändert sich so rasend schnell!“ Die Angst, die für viele damit einhergeht, erweist sich jedoch als schlechter Lehrmeister. Sie verführt insbesondere die Medienmanager zu einer Haltung, die wir bereits aus der Profi-Politik kennen: Sich möglichst lange offen zu halten und bloß nicht festzulegen oder eine klare Prognose zu wagen! Eigene Ideen werden absichtlich vage formuliert, um sie dann an Arbeitsgruppen zu „delegieren“, die am Ende für schuldig befunden werden können, wenn die „gute Idee“ schief läuft.

Eine Arbeitskultur, in der keiner mehr etwas wagen will, lässt nur einen Ausweg zu: Man muss immer erst ermitteln, wohin die Quotenkarawane zieht, um dann im Nachhinein eine gute Prognose für eine inzwischen bereits eingetretene Zukunft abgeben zu können. Für fehlerbereite Kreative führt dieser Weg geradewegs in die innere Emigration. Die Mehrheit wird die Strategie verfolgen, dem Chef freundlich zu folgen, auch wenn er sich widerspricht – und sich ansonsten in gelassen-bräsiger Beharrlichkeit zu üben. Das Ergebnis ist das „betreute Senden“. Wie Bernd Stromberg sagen würde: Wir sind eben alle Erdmännchen. Und da muss es immer ein Erdmännchen geben, das weiter oben sitzt und auf die anderen aufpasst. Deshalb braucht es so viele andere Erdmännchen, die betreut werden können! Sonst würde doch Chaos herrschen. In der Anstalt wissen Pfleger und Gepflegte das ganz genau.

Mir scheint, dass die Zukunft des Fernsehens damit zusammenhängt, den Weg frei zu machen für eine harte Qualitätsdiskussion. Das real existierende Fernsehen ist ein Kind der zunehmenden Kanalisation und wird den Geruch von Billigproduktionsweise nicht los. Dabei haben wir – einzig und allein aufgrund des dualen Systems – eine der interessantesten Fernsehlandschaften der Welt. Wer es nicht glaubt, möge sich italienisches, spanisches, japanisches Fernsehen ansehen. Der Vorsprung des amerikanischen Fernsehens sowohl im Dokumentar- wie im Serien-Bereich hängt dabei nicht nur mit der größeren Freiheit und Frechheit des Denkens und einer anderen Fehlerkultur zusammen, sondern auch damit, dass eine gut gemachte US-Fernseh-Minute das drei- bis fünffache dessen kostet, was man in Deutschland dafür auszugeben bereit ist. Diesen Unterschied sieht man. Will das deutsche Fernsehen eine Zukunft haben und international (wieder) wettbewerbsfähig sein, wird es diesem Umstand Rechnung tragen müssen.

Und der Weg aus den Untiefen der Kanalisation? Statt zuzusehen, wie Fernsehen sich weiter in Nischen aufteilt und damit Orientierung verloren geht, sollte öffentlich-rechtliches Fernsehen Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft ernsthaft in Dialog miteinander bringen. Es sollte ernst machen mit dem Slogan, dass Deutschlands wichtigste Ressource Bildung und Wissen sei.

In Komplexität leben

Mir ist bewusst, dass diese Ausrichtung quer zur derzeitigen Hysterie um technologische Neuerungen und ihre möglichen Auswirkungen steht. Die entscheidende Frage lautet meiner Ansicht nach nicht, ob das Internet das Fernsehen ablösen wird. Ich bin davon überzeugt, dass das Fernsehen auch in der Zukunft kein primär interaktives Medium wie das Internet sein wird. Die entscheidende Frage lautet vielmehr: „Gelingt es uns, mit dem Bild der Welt, das wir in den Rahmen irgendeines Bildschirms einfügen (gleich ob herkömmlicher TV-Bildschirm, Laptop oder Tablet-PC) in die Dimension der Komplexität vorzu­stoßen, die die wirkliche Welt regiert, Fernsehen und Internet eingeschlossen?“ Das Thema „Umgang mit Komplexität“ lässt sich in allen Genres durchdeklinieren – nicht nur in der Kultur, sondern selbstverständlich auch in der Information, in Politik, Sport, Unterhaltung oder im Bereich des (Spiel)Films.

Die Frage ist, ob wir ein Fernsehen wollen, dass nur dazu dient – Ironie des Wortes – abzuschalten oder ob wir ein Fernsehen wollen, das uns hilft, Geist und Aufmerksamkeit zu schärfen, damit wir uns – auf der Höhe der Zeit – einschalten können.

Ein Fernsehen der Zukunft, das selbstbewusst an die Stelle medialer Verdummung tritt, könnte als „Tool“ dienen. Wie Marshall McLuhan sagte: „We shape our tools and thereafter our tools shape us.“ Fernsehen könnte ein Werkzeug der Bildung werden, das uns dabei hilft, uns selbst zu verbessern. Die Zukunft des Fernsehens besteht definitiv nicht in einer immer weiter fortschreitenden Unterforderung.

Das Fernsehen der Zukunft wäre für mich ein Fernsehen, das die Untiefen der Kanalisation hinter sich lässt und sich verstärkt um Programme kümmert die helfen, Komplexität zu verstehen und in ihr zu leben. Fernsehen wäre dann wie eine Brille, die hilft, uns unser eigenes Sehen und Verständnis der Welt bewusst zu machen und unseren Blick für das Menschen-Mögliche zu schärfen. Das Fernsehen der Zukunft wird die Urteilskraft der Zuschauer bilden, statt sie zu beleidigen. Es wird zum Denken anregen und deshalb aufregend sein. Es wird Unterhaltung nicht nur als Brot und Spiele, sondern als Einfühlung und intelligentes Gespräch über relevante Themen verstehen.