In den Laboren des Journalismus
Wer mit Emily Bell sprechen will, findet sie im hintersten Winkel der Journalismus-Fakultät an der New Yorker Columbia Universität. Vor zwei Jahren verließ die damalige Digitalchefin des britischen „Guardian“ London, um das neue Tow Center for Digital Journalism an der ältesten und traditionsreichsten Journalismus-Fakultät der USA zu leiten.
Sie tauschte ihren Arbeitsplatz in einer der modernsten Redaktionen der Welt gegen ein winziges schmuckloses Büro, in dem nichts darauf hindeutet, dass hier Journalismus der Zukunft erfunden wird.
Aber die Professorin kann sich kaum etwas Spannenderes vorstellen. „New York ist momentan ein einzigartiger Ort für Journalismus. Hier werden Innovationen angestoßen und umgesetzt. All das geschieht viel eher in lebendigen Netzwerken als in festgefahrenen Institutionen.“
Bell forscht und experimentiert, wie junge Journalisten ausgebildet werden sollten, um eine Chance auf dem sich rasant verändernden Medienmarkt zu haben. Das sei durchaus vergleichbar mit ihrem Job vor zehn Jahren, sagt sie, als sie in der Frühphase des World Wide Web die Seite des „Guardian“ aufbaute.
Datenjournalisten mit Hochschulbildung
Was am Tow Center erforscht wird, soll in der journalistischen Praxis angewandt werden, betont Bell. Seit Beginn des Studienjahres erhalten die ersten Datenjournalisten an der Columbia Journalism School eine Hochschulausbildung. 2014 werden die ersten 15 Absolventen mit einem doppelten Abschluss als Journalisten und Software-Ingenieure die Uni verlassen – wahrscheinlich als gefragte Experten. Das neue Programm hat auch bei vielen traditionellen Journalismus-Studenten Interesse geweckt, mit Daten umgehen zu können. Schließlich könnte das ihre Karrieren beflügeln, denn die weltweit verfügbaren Datenmengen werden immer größer, die daraus resultierenden Fragestellungen immer komplexer. Die Medien brauchen Spezialisten, die all das interessant, sinnvoll und verständlich aufbereiten können.
Die „New York Times“ stellt zum Beispiel in einigen ihrer Ressorts bevorzugt Redakteure an, die Programmierkenntnisse haben. Sie übersetzen komplizierte Zusammenhänge in intuitiv erfassbare interaktive Grafiken und machen die Geschichten hinter großen Datenmengen sichtbar. So haben Datenjournalisten bei der „Times“ etwa einen Webrechner gebaut, in den New Yorker ihre persönlichen Lebensumstände eingeben können und anschließend aus den Resultaten erkennen, ob sie eine Wohnung lieber kaufen oder mieten sollten.
Offene Daten
„Daten sind nicht mehr nur Teil der Recherche. Journalisten geben der Öffentlichkeit den Zugang zu ihren Rohdaten, damit sie ihre eigenen Geschichten darin finden können“, sagt Aron Pilhofer, Leiter der Abteilung Interactive News bei der „New York Times“. Wie das funktioniert, lehrt der Datenjournalist an der Columbia University. Außerdem tauscht er sich mit anderen Journalisten und Programmierern bei den Treffen der sogenannten Hacks/Hackers aus – eine Gruppierung, die Pilhofer 2009 mitgründete und die es mittlerweile in mehreren Ländern gibt. Genau diese lebendigen journalistischen Netzwerke faszinieren Bell in New York.
Beim „Guardian“ wird das Prinzip der offenen Daten seit 2009 praktiziert. Damals stellte die britische Zeitung eine knappe halbe Million Dokumente zum Spesenskandal der britischen Unterhausabgeordneten ins Netz und dokumentierte mit Nutzerhilfe, welche Parlamentarier Steuergeld zweckentfremdet hatten. Im November 2011 rief der „Guardian“ seine Nutzer dazu auf, mithilfe bereitgestellter Datensätze Panikwellen an den internationalen Finanzmärkten möglichst anschaulich zu visualisieren. Bei „Zeit Online“ gewann 2011 eine interaktive Visualisierung zur Vorratsdatenspeicherung anhand der Handydaten des Grünen-Politikers Malte Spitz mehrere Preise.
Die „New York Times“ beschäftigt insgesamt über 40 Mitarbeiter, die sich vor allem um die Aufbereitung von Daten kümmern. Ein hoher Aufwand. Doch Pilhofer betont, dass für die meisten Projekte nur drei Leute gebraucht werden: ein Journalist, ein Programmierer und ein Designer. „Das können auch kleinere Redaktionen leisten.“
Den Beweis dafür liefert einige Kilometer weiter südlich in Manhattan die stiftungsfinanzierte Publikation „ProPublica“. Für ihre investigative Berichterstattung zu politischen und gesellschaftlichen Themen gewann sie zweimal den Pulitzer Preis. Ebenso stolz ist die Redaktion mit rund 30 Mitgliedern auf ihre Erfindung der sogenannten News Apps. Das sind Webanwendungen, mit deren Hilfe Nutzer selbst entscheiden können, wie tief sie in ein Thema einsteigen. Sie können einen Beitrag einfach nur lesen, oder für sich selbst relevant machen. So ist beispielsweise das Dossier „Dollars for Docs“ mit Datensätzen hinterlegt, anhand derer Nutzer nachvollziehen können, welche Ärzte in welchen Städten sich in welchem Ausmaß für Studien oder Vorträge von der Pharmaindustrie haben bezahlen lassen. Auf diese Weise wird der eigene Arzt durchleuchtbar.
„Diese interaktiven Datensätze erzählen nicht nur eine Geschichte, sie erzählen deine Geschichte“, sagt Scott Klein, der mit fünf Mitarbeitern die News Apps entwickelt. Zu einem Bericht über Chancenungleichheit im amerikanischen Bildungssystem („The Opportunity Gap„) erstellte „ProPublica“ ein Datenpaket, das aufschlüsselt, welche Schulen in welchen Staaten ihren Schülern Zugang zu besseren Bildungsgängen und damit zu College-Zulassungen vermitteln. Außer Bildungseinrichtungen und Eltern nutzen auch lokale Zeitungen und Webplattformen diese Daten für ihre Berichterstattung. Um diese neue Art von Nutzwertjournalismus auch in andere Medien zu transportieren, rief „ProPublica“ im Januar 2012 ein News App Stipendium ins Leben.
Studenten als Problemlöser und Innovatoren
Gleichzeitig lässt sich „ProPublica“ von außen inspirieren. 2009 schrieben und gestalteten Studenten am Studio 20, dem Innovationslabor von Jay Rosen am journalistischen Institut der New York University, sogenannte Explainer (Erklärstücke) auf der damals noch neuen Plattform „ProPublica“ – für hintergründigen und verständlichen Journalismus. Die Idee von Studio 20 ist, angehende Journalisten einzusetzen, um in etablierten Medien Probleme zu lösen. Rosens Studenten geben zum Beispiel in eigener Verantwortung die Stadteilzeitung „The Local“ für das East Village unter der Dachmarke der „New York Times“ heraus. Das Pendant dazu für Teile des New Yorker Bezirks Brooklyn entsteht an der City University of New York, wo der Blogger und Buchautor Jeff Jarvis lehrt.
Beide Seiten – die angehenden Journalisten und die teilnehmenden Medien – profitieren von der Kooperation. Die Studenten werden zwar nicht bezahlt, lernen aber die Arbeit von Reportern und Redakteuren unter echten Bedingungen kennen und tragen selbst Verantwortung als Projektleiter. Ihre Ideen und ihr Innovationsgeist sind gefragt. Die „New York Times“ wiederum erreicht auf diese Weise Leser in Stadtteilen, für die sie nicht genug eigene Reporter hat, und kann die Ergebnisse der experimentellen Lokalausgaben verwerten. „Es ist schwer für ein großes Medienunternehmen, genug Zeit für Innovationen zu finden, wenn man täglich Redaktionsschlüsse einhalten, eine Zeitung veröffentlichen und eine Webseite füllen muss“, sagt Rosen.
Das sieht Emily Bell ähnlich: „Die täglichen Abläufe in einer Redaktion erhöhen die Effizienz, hemmen aber den Innovationsgeist.“ Manchmal sei es hilfreich, mit dem Blick von außen Bestehendes einzureißen und den Journalismus neu zu erfinden. Das können junge Journalisten oft besser als die Routiniers.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich bei „Zeit Online“ im Rahmen der Videoreihe über Innovationen aus New York. Mehr in unserem Dossier „Rebooting the News“.