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Viele echte Menschen in elektrischen Kisten

Mario Adorf ist ungeschminkt. Soll man nicht, ungeschminkt im Fernsehen sitzen. Sonst glänzt die Haut. Adorf glänzt nicht, er strahlt. In seiner Autobiografie hat Adorf eine Jugend im Krieg beschrieben. Am 8. Mai 1945 ist Adorf noch nicht einmal 15 Jahre alt. Aber er hat schon so viel Gewalt, Verletzung und Tod erlebt, dass ein sogenannter Prominenter von heute mit einem Hundertstel der Erfahrungen mindestens zwei Bücher darüber geschrieben hätte. Wahrscheinlich Bestseller, das Wort „Trauma“ würde oft genannt.

Bei Adorf steht der Lebensanfang logischerweise auch am Beginn seiner Lebenserinnerungen. So ging es los, mehr nicht. Ich frage ihn nach dem Lied „Mamatschi, schenk‘ mir ein Pferdchen“, mit dem er dafür sorgte, schon im Luftschutzkeller im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Sieben Jahrzehnte später singt Mario Adorf das Lied in einem Berliner Fernsehstudio an. Wer wissen will, warum das so stark, so unlöschbar in meiner Erinnerung geblieben ist, der muss es fernsehen.

Oder Wolfgang Schäuble ist im Studio. Er sieht in einem Nachrichtenfilm der „Tagesschau“ einen Mann auf einer Krankenwagentrage liegen. Der Verletzte wird von außen beatmet, er ist Opfer eines Attentäters geworden. Der Mann auf der Trage ist Wolfgang Schäuble.

„Das sehe ich zum ersten Mal“, sagt der Minister. So nüchtern, wie dieser porentiefe Protestant nun mal spricht. Danach ist er mit den Gedanken woanders, und ich weiß auch nicht, was ich sagen oder fragen soll. Die Pause ist kein geplanter Fernseheffekt.

Romantische Gründe für das Fortbestehen des TV

Für einige werden diese Beispiele die bodenlose Eitelkeit eines Fernsehmenschen belegen. Nennt Szenen seiner eigenen Gesprächssendung, wenn es um das Fernsehen im Allgemeinen gehen soll. Aber mir fallen nun mal vor allem romantische Gründe ein, um ein Fortbestehen des Fernsehens zu verteidigen.

Ich sehe es sogar noch enger: Auch Menschen, die erst in 20, 25 oder 30 Jahren erwachsen sind, sollen öffentlich-rechtliches Fernsehen gucken können. Was nicht heißen soll, dass die privaten Sender ihr Geschäft nicht verstehen. Ganz im Gegenteil. Sie müssen sogar wissen, mit welcher Art Fernsehen Geld zu verdienen ist. So lange es sich als Geschäft lohnt, werden RTL und Sat.1 und all die anderen Fernsehen herstellen.

Mir sagt das Programm der Privaten oft mehr, als irgendeine Umfrage, die sich hinterher als „Deutschland-Trend“ aufpustet. Die Frage „Sollte jeder Deutsche ein Gedicht von Schiller kennen?“ werden nur steindumme Ignoranten, oder kategorisch Freiheitsliebende mit „Nein“ beantworten. Wenn vier Millionen unbedingt sehen wollen, wie bei RTL junge Menschen durch den Talentwolf gedreht werden, dann ist das eine viel wahrhaftigere Aussage. Freiwillig tun sie das. Ungezwungen und unbezahlt.

Wenn immer noch drei Millionen zugucken, wie Heidi Klum gemein zu dünnen Frauen ist. Oder wenn noch mehr Leute bezeugen, wie sich Gescheiterte in einem gefälschten Dschungel ekeln, dann entfährt mir ein „Hallo Deutschland!“.

Den Fernseher abgeschafft

Mit dem Begriff „Leitkultur“ hat bisher niemand irgendjemandem einen Gefallen getan. Aber wer dieses Wort in den Mund nimmt, sollte dabei nicht an Bach, Heine und Thomas Mann denken. Sondern er sollte sich mehrere ausverkaufte Fußballstudien vorstellen. Um sich vor Augen zu führen, wie viele Deutsche täglich vor dem Nachmittagsprogramm der Privaten dämmern.

Nun haben sich an den Dummheiten des Fernsehens schon genug Innenseitenjournalisten vor allem zum Zweck der eigenen Befriedigung gerieben. Als Mensch, der sogar sein Geld mit Fernsehen verdient, darf ich auch oft Leute treffen, die mir versichern, sie hätten den Fernseher abgeschafft. Sie sind darauf stolz, das kann man hören. Nicht befreit, wie diejenigen, die vom Rauchen los sind. Eher berauscht von der eigenen historischen Größe, mit der sie einem übermächtigen Übel die Stirn bieten. In der Abgeschiedenheit der Elternkonferenz einer Waldorf-Schule wärmt der Gedanke an das gute Buch am Abend auch ganz bestimmt.
Mit Noppensockenträgern und Leuten, die Fußball für Gewalt halten, teile ich allerdings nur wenig romantische Vorstellungen. Aber um die geht es ja nun bei der Verteidigung des Fernsehens. Oder auch Melancholie, als romantische Variante. Wir können nicht wissen, ob es vielleicht damals dramatischer war, als sich die letzten Dinosaurier zuraunten: „Okay, das war es dann wohl“, aber: Wir müssen heute TV-Giganten auf ihrem Weg in das Nimmerwiedersehen begleiten. Einen Großmoderator, der mit den Konventionen Seilchen springt und dabei Millionen Konventionellen jeder gesellschaftlichen Herkunft immer noch sympathisch ist, wird es nach Thomas Gottschalk nicht mehr geben.

Ich vermisse Uli Wickert. Diesen maliziösen Tröster, den sperrigen Weltmann, der immer so hintersinnig eine „Gute Nacht“ wünschte, als könnte sich selbst im Dunklen noch viel Amüsantes ereignen. Im Multikanal-Tralala wird keiner mehr zur Legende. Viele Fernsehgestalten sehen sich heute ohnehin eher als Dienstleister. Wollen schon gar nicht, wie seinerzeit der große Hans-Joachim Kulenkampff, mit einer politischen Äußerung anecken.

Judith Rakers ist schön. Kai Pflaume ist schön schlank. Stefan Raab hat schon einiges auf die Beine gestellt, aber leider immer wieder für Leute mit Lätzchen. Zum öffentlichen Mitreden wird nur der Fernsehmann Günther Jauch eingeladen. Aber auch wenn Hans-Joachim Friedrichs niemals zurückkehrt: Wer oder was soll denn öffentlich-rechtliches Qualitätsfernsehen in die Erübrigung treiben?

Die 30-Minuten-Königin

Mag sein, dass die eindruckvollsten Bilder vom Tahrir-Platz in Kairo viel schneller im Netz waren, als im „heute journal“. Na und? Wenn dann aber später ein Interview von Marietta Slomka folgt, wird mir Einordnung angeboten. Mehr noch: Ich kann die ZDF-Frau sogar als meine vertrauenswürdige Beauftragte für internationale Angelegenheiten betrachten. Marietta Slomka ist eine studierte Volkswirtin, die zur Ruhe die Kraft finden konnte. Sie ist eine 30-Minuten-Königin. Nur müssen wir keinen Knicks machen, sondern dürfen liegen bleiben, während sie sich an uns wendet. Wenn der irgendwann geborene Sohn von William und Kate heiratet, dann ist wahrscheinlich schon der Schnürsenkel erfunden, mit dem sich nicht nur telefonieren, sondern auch fotografieren lässt.

Dann werden aber immer noch Menschen die Hochzeit erleben wollen, die selbst die modernst geschnürten Schuhe nun mal nicht zum Ort des Geschehens tragen können. Einen Klon des ARD-Aristokratiekenners Rolf Seelmann-Eggebert kann es dann leider nicht geben. Aber im günstigsten Fall jemand, der ebenso in öffentlich-rechtliche Tugenden getunkt ist, also in Seriosität, Geist und Können.

Komplett altmodische Werte. Aber in der Konkurrenz zu egomanischen Bloggern weit vorn. Es ist eben nicht jeder Laie Programmdirektor, wie das so oft von den Ideologen einer fadenscheinigen digitalen Freiheit beschwärmt wurde. Denn im Profi-Fernsehen sucht ein ausgebildeter Regisseur die Bilder aus. Und der kommentierende Mensch gibt sich allein wegen der schieren Vielköpfigkeit seines Publikums richtig Mühe. Was er nicht muss, wenn er nur eine ungezielte Web-Banalität vollplappert.

Unterhaltungschef mit vorzeitigem Stockholm-Syndrom

Damit sich das hier nicht liest wie ein Kommuniqué des zum Glück untergegangenen ZK der KPdSU: Selbstverständlich macht das Fernsehen gelegentlich schlapp. Wie viele andere Leute gucke ich oft die Staffel einer im Netz gekauften US-Serie. Hoffte in irrlichternden Momenten, das Ehepaar Soprano würde mich vielleicht doch noch in ihre Mafiafamilie adoptieren.

Es war auch schockierend anzusehen, wie der NDR-Unterhaltungschef Thomas Schreiber die ARD mit vorauseilendem Stockholm-Syndrom in die Geiselhaft eines Kölner Metzgers gab. Wegen einer 19-Jährigen.

Da das schlichte Ranhängen an den Erfolg von Stefan Raab noch nicht mal eine Idee ist, wird diese Kooperation für die Zukunft zum Glück keine Rolle spielen. Andere putzen das Tafelsilber, das im gebührenfinanzierten Pay-TV immer noch so schön funkelt. Der „Tatort“ engagierte vergangenes Jahr mit den Schauspielern Nina Kunzendorf und Joachim Krol einen Traum von einem Ermittlerpaar. Nach 40 Jahren Erfahrung mit wechselnden Seherwartungen von Zuschauern. Welchen nachvollziehbaren Grund könnte es geben, um dieses charakterstarke Angebot in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zu fürchten?

Es geht um Charakter. Deswegen habe ich so viele Namen genannt. Auch wenn die Nachtsendungen, in denen einfach nur Eisenbahnfahrten gezeigt wurden, sehr erfolgreich waren: Fernsehen bedeutet, anderen Leuten zugucken zu dürfen. Wenn sie sich sportlich verausgaben, einen schönen Mund küssen, oder einfach nur miteinander reden. Fernsehen ist auch immer die Faszination, die in der Kinderfrage steckt, ob da in der elektrischen Kiste wirklich echte Menschen drin sind. Die Kisten haben sich verändert und werden sich verändern.

Wenn möglichst viele der Menschen in den Kisten echt sind, gibt es auch in Zukunft gute Gründe fernzusehen.