Am 3. November steigt sie, die Medienparty des Jahres. Und wer unter den 3000 geladenen Gästen aus Medien, Politik und Wirtschaft ist, kann sich etwas darauf einbilden. Spiegel Online, der Bildschirmschoner unter den digitalen Nachrichtenportalen, wird 20 Jahre alt. Das ist ein Grund zum Feiern. Aber auch einer zum Nachdenken. Denn es ist keine gewöhnliche Party, die an der Hamburger Ericusspitze gefeiert wird, sondern eine, die vielleicht an den wichtigsten Wendepunkt in der Geschichte der Nachkriegsmedienlandschaft erinnert. 1994 ging mit SPON der Vorreiter der journalistischen Digitalisierungsbewegung hierzulande an den Start und veränderte auf einen Schlag alles: die Aktualität der Nachrichten, das journalistische Selbstbild und die Bedeutung des Publikums.

In den darauffolgenden Jahren entschieden sich immer mehr Verlage dazu, eigene Medienpräsenzen im Internet einzurichten. Zuerst zaghaft und ungelenk, aber im Laufe der Jahre doch mit einer gewissen Beharrlichkeit versuchte man dem Phänomen des „Online-Journalismus“, der von seinem Wesen her viel schneller und dynamischer als alle Printerzeugnisse war, irgendwie beizukommen. Die Rendite war üppig, so dass sich die Verlage die Online-Ableger nebenbei gut leisten konnten. Strategischen Nutzen oder ökonomisches Potenzial erkannte man in dem digitalen Engagement erst später. Zu jener Zeit trat auch ein unkonventioneller Journalistentypus hervor, der das Netz als seinen angestammten Arbeitsplatz betrachtete: Der computerbegeisterte Nerd, der unrasiert in Turnschuhen und Kapuzenpulli in die Redaktion schlurfte, demonstrierte den eingesessenen Edelfedern in ihren Schreibstuben, dass Journalismus auch anders geht: technikaffiner, multimedialer und interaktiver.

Eine medienhistorische Neuheit

Vor allem die Interaktivität muss aus heutiger Sicht als eine der wichtigsten Umwälzungen im Journalismus gelten, den diese Zeitenwende prägt. Sie ist die Voraussetzung für den Dialog mit dem Publikum auf Augenhöhe und mithin eine, die erst die Digitalität ermöglicht hat. Inzwischen wird die Taktung der digital arbeitenden Redaktionen wesentlich davon dominiert, dass Nutzer über den gesamten Tag verteilt permanent informiert und ihre Anfragen beantwortet haben wollen – man kann deshalb sagen: Nie hatten Journalisten und Redakteure intensiveren Publikumskontakt. Diese Dialogisierung im Verhältnis zum Publikum ist in ihrer Intensität medienhistorisch neu. Sie impliziert für Journalisten Kritik, aber auch Meinungen und Hinweise, die sowohl zur Fortschreibung journalistischer Geschichten einladen als auch zur Recherche oder zur Produktion zielgruppenspezifischer Beiträge.

Allerdings bringt die Teilhabe des Publikums nicht nur Vorteile, sondern auch Herausforderungen für das professionelle Audience Engagement mit sich. Eine zu starke Ausrichtung des publizistischen Angebots auf den Publikumsgeschmack kann eines dieser Probleme sein. Ein anderes ist der Umgang mit Störern („Trollen“), die mit Hassreden das Gesprächsklima innerhalb einer Community vergiften können und den von Redaktionen eigentlich erwünschten gesellschaftlichen Diskurs unterminieren.

Zwischen 2013 und 2014 haben Volker Lilienthal (Universität Hamburg) und ich mit einem Team aus jungen Wissenschaftlern diese Ambivalenzen der Partizipation im Auftrag der Landesanstalt für Medien Nordrhein Westfalen (LfM) erforscht. Im Fokus der Studie stehen die unterschiedlichen Ausprägungen der Nutzerbeteiligung auf journalistischen Websites sowie die zunehmende Technisierung und Automatisierung redaktioneller Handlungen, die der digitale Strukturwandel mit sich bringt. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Dynamik des Berufsfeldes, einschließlich der Entwicklung neuer digitaler Tätigkeitsfelder und der Qualitätssteigerung journalistischer Angebote durch die Digitalisierung.

Wie sieht Nutzerbeteiligung heute aus?

In einer quantitativen Inhaltsanalyse haben wir das Spektrum, aber auch die konkreten Praktiken der Nutzereinbindung bei 270 journalistischen Angeboten untersucht. Fest steht laut dieser repräsentativen Teilstudie, dass sich diese Angebote grundsätzlich ihren Nutzern geöffnet haben, also auch Teilhabe ermöglichen wollen. Allerdings geschieht dies weiterhin in einem sehr engen Spektrum an Möglichkeiten: In den meisten Fällen ist ein elektronischer Leserbrief möglich, also eine reine Feedback-Funktion, die eher einer Einbahnstraßenkommunikation gleicht als einem echten Dialog. Im Hinblick auf einen durch die Dialogisierung erzeugten Qualitätsgewinn sind die Optionen ebenfalls noch unterentwickelt: Nur auf sehr wenigen Websites finden sich durchdachte Varianten zur Einbringung eigener Ideen und Themenvorschläge der Nutzer. Aufrufe zur kollektiven Mitarbeit bei Recherchen oder zur Fortschreibung journalistischer Beiträge findet man nur in Ausnahmefällen, das heißt das Publikum bleibt wie im analogen Medienzeitalter eher Zaungast des journalistischen Geschehens.

Die Expertenbefragung mit 15 Redaktionsverantwortlichen – darunter Rüdiger Ditz (Spiegel Online), Andreas Hummelmeier (ehem. Tagesschau.de), Stefan Plöchinger (Süddeutsche.de), Daniel Fiene (Antenne Düsseldorf), Anita Zielina (ehem. Stern.de) und Jochen Wegner (Zeit Online) – gibt eine ungefähre Ahnung davon, woher diese allgemeine Zurückhaltung rührt: Bisher stellt der Aufbau und die Pflege von Social Communities sowie das gezielte „Nachgärtnern“ bei Facebook & Co. einen ganz erheblichen Mehraufwand für die Journalisten dar. Die Herausforderung liegt nicht nur in zusätzlichen Kosten und Arbeitszeit, sondern auch in der persönlichen Toleranz der jeweiligen Redakteure, sich allerlei Unflätigkeiten von Trollen gefallen lassen zu müssen. So nimmt es kaum Wunder, dass bereits die ersten Nachrichtenportale im Internet damit begonnen haben, ihre Leserportale zu schließen – und sei es nur zu bestimmten Uhrzeiten –, weil ihnen das ganze Gezänk, der Krawall und die Hasstiraden in den Kommentarghettos gehörig auf den Senkel geht. Folgt man den Ausführungen unserer befragten Experten, so schlägt für viele Journalisten diese Kosten-Nutzen-Rechnung offenbar negativ zu Buche, auch wenn der Wunsch geäußert wird, noch bessere Instrumente zu finden, um künftig die Spreu vom Weizen zu trennen.

Erhebliche Unterschiede in der Nutzereinbindung

Mit einem Blick auf die Innovation Leader im deutschen Journalismus, von denen 15 journalistische Angebote in unserer Studie qualitativ-fallbezogen untersucht wurden, ergibt sich ein etwas differenzierteres Bild: Bei Spiegel Online, Bild.de, Tagesschau.de, Welt.de, Süddeutsche.de, Freitag.de, Zeit Online und einer Reihe anderer Angebote werden die User stärker untereinander vernetzt, und zwar nicht ausschließlich durch Kommentarspalten. Auffällig ist, dass diese Redaktionen einen vergleichsweise großen Aufwand betreiben, um ihre Nutzer-Gemeinschaften in den externen sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter zu pflegen. Dabei wird das Community Building schon aus wirtschaftlichem Eigeninteresse kultiviert – offenbar herrscht bei einigen Betreibern die Hoffnung, ihrem Angebot einen clubähnlichen Charakter zu verleihen und damit die Zahlungsbereitschaft der Nutzer zu erhöhen. Doch selbst bei den innovativen Anbietern gibt es insgesamt wenige partizipative Eigenformate, mit deren Hilfe User aktiv in einen Dialog treten und mitwirken können. Experimente wie das Blog „Die Recherche“ von Süddeutsche.de, das Geschichts- und Zeitzeugen-Portal „einestages“ von Spiegel Online oder der „Rechercheblog“ der WAZ bilden die Ausnahme. Selbst hier ist es aber so, dass Redaktionen die Kontrolle über Themenfindung und -verbreitung behalten, nicht die Nutzer.

Was die in den Expertengesprächen abgefragten Einschätzungen angeht, so verdichtet sich dieses Bild von der bislang inkonsequenten Dialogkultur: Eine konzeptionell-publizistische Verankerung der Nutzeraktivitäten im journalistischen Produktionsprozess gibt es auch in Zukunft nur um den Preis der Investition in redaktionelle Infrastruktur. Anders gesagt: Erst die intensive Betreuung nutzergenerierter Inhalte und eine damit verbundene Kontrolle und Moderation von Debatten – Stichwort Netiquette – lässt den Dialog als etwas erscheinen, dass sich für den Journalismus auszuzahlen lohnt.

Audience Engagement: Bürde oder Segen?

Audience Engagement auf Ebene der gemeinsamen Inhalteproduktion ist also mitnichten ein Selbstläufer. Eher ist sie aus Sicht der Profis eine Bürde, die neue handwerkliche Kompetenzen und damit ein verändertes Berufsbild erfordert. Dabei spielen technologische Komponenten eine immer zentralere Rolle – auch im Gespräch mit den digitalen Nutzern: In vielen Facetten zeigt sich in unserer Beobachtungsstudie, dass der Publikumsdialog als Bestandteil journalistischer Arbeit nicht wegzudenken ist. Alle vier beobachteten Online-Redaktionen (DRadio Wissen, Rhein-Zeitung.de, Spiegel Online, Tagesschau.de) haben ihre Nutzer ständig im Blick und motivieren sie zur proaktiven Beteiligung, ob durch Kommentare, in Diskussionsforen oder über Tweets oder Postings bei Facebook. Bemerkenswert ist in diesen vier Fällen die Dominanz der Technik: Im regelmäßigen Einsatz von Hardware-Tools und Software-Anwendungen zeigen sich Handlungen und Arbeitsvorgänge, die als Indikator für eine zunehmende Automatisierung im Journalismus gedeutet werden können, auch wenn diese noch fern von der Vorstellung eines „Roboterjournalismus“ ist, wie sie häufig als Dystopie angeführt wird.

An den Handlungsabläufen der insgesamt zehn beobachteten Redakteure offenbart sich außerdem, wie Technik als Chance für einen kreativen Journalismus genutzt werden kann – sowohl in neuen digitalen Darstellungsweisen (Datenjournalismus) und im multimedialen Storytelling, bei kollaborativen Recherchearten (Fact Checking, Data Scraping) als auch bei der Suche nach innovativen digitalen Vertriebswegen und -formen aufgrund veränderter Nutzungsgewohnheiten, zum Beispiel auf mobilen Endgeräten. Zumindest in diesen vier innovativen Redaktionen nimmt die Interaktion mit dem Nutzer entscheidenden Einfluss auf Themenentwicklung und journalistische Produktionsprozesse, der sich konkret im regelmäßigen Monitoring von Nutzerstatistiken und der sozialen Netzwerke abbildet. Gerade bei Social-Media-Redakteuren, die als aufstrebende Akteure im Social Journalismus gelten, spielt Teilhabe eine große Rolle für die journalistischen Produktion, da hier ein permanentes Wechselspiel mit den Nutzern innerhalb unterschiedlicher Arbeitsabläufe beobachten werden kann.

Gründe dafür sind, dass Recherche, Produktion und Nutzerfeedback hier enger miteinander verzahnt werden und letzteres stärker als in anderen Bereichen fester Bestandteil des journalistischen Prozesses ist. Folglich schlüpft der Nutzer in unterschiedliche Rollen, indem er Beobachtungsobjekt, Hinweisgeber, Quelle journalistischer Recherchen oder selbst Teil der Berichterstattung werden kann. In weiteren Rollen ist er außerdem Kritiker journalistischer Beiträge oder Multiplikator von Meldungen.

Nicht nur ein ökonomisches, sondern auch psychologisches Umdenken notwendig

Auf Grundlage unserer Studienergebnisse gehen wir davon aus, dass der Digitale Journalismus einen enormen Kompetenzzuwachs der kommunikativen und technischen Qualifikationen jedes einzelnen Journalisten voraussetzt, damit die qualitätssteigernde Einbindung der Nutzer effizienter wird. Dies wird allerdings nur der Fall sein, wenn sich traditionell ausgebildete Journalisten dieser Kommunikationsaufgabe stärker stellen und der Umgang mit Trollen und Störern professionalisiert werden kann. Beides ist als Managementaufgabe sowohl von Redaktionsleitern als auch Redakteuren zu verstehen, die nicht nur die ökonomischen, sondern auch die psychologischen Weichen dafür stellen müssen.

Wollte man abschließend die Frage beantworten, was die neue Rolle das Publikum im Digitalen Journalismus für die Medienpraxis bedeutet, so fällt unser Fazit folgendermaßen aus: Audience Engagement wird als berufliches Konzept erst verzögert in den Redaktionen umgesetzt. Aber der Wille, in diesem Social Journalism einen stetigen Lernprozess für den redaktionellen Workflow zu begreifen, ist erkennbar. Es bleibt jedoch der Widerspruch zwischen Willensbekundungen aufseiten der leitenden Journalisten und der tatsächlichen Zurückhaltung der User beziehungsweise der redaktionellen Skepsis gegenüber ihren Leistungen. Denn eine weitere Erkenntnis lautet, dass das Publikum seine Rolle als Kritik- und Kontrollinstanz des Journalismus in der Realität teilweise wahrnimmt oder wahrnehmen möchte. Offen bleibt, ob dies seiner allgemeinen Unlust zuzuschreiben ist, an zivilgesellschaftlichen Diskursen teilzuhaben oder ob es schlicht an den fehlenden niedrigschwelligen Möglichkeiten liegt, dies zu tun. Fest steht, dass sich Nutzer bisher eher selektiv in die redaktionelle Arbeit einbringen und auch nur dann, wenn es um kontroverse Debatten geht, die Journalisten initiieren.