Soziale Medien und der öffentlich-rechtliche Rundfunk
In den letzten Jahren hat sich der Strukturwandel öffentlicher Kommunikation, den das Internet bereits Mitte der 1990er angestoßen hat, noch einmal deutlich verstärkt. Grund dafür sind die sozialen Medien, also Plattformen wie Facebook und Twitter, YouTube oder Blogs, die anderen Prinzipien folgen als die etablierten Massenmedien. Zwei wesentliche Aspekte kommen hierbei zusammen: Soziale Medien senken erstens die Hürden, Informationen aller Art anderen Menschen zugänglich zu machen sowie individuell oder gemeinsam mit anderen zu filtern und zu bearbeiten. Zugleich sind es zweitens Medientechnologien, die ihre Nutzer dabei unterstützen, bestehende soziale Beziehungen zu pflegen oder neue Kontakte zu knüpfen. Das können Freundschaften im eigentlichen Sinn sein, aber genauso gut auch eher lockere Bekanntschaften, berufliche Netzwerke oder Beziehungen, die auf geteilten Interessen, politischen Einstellungen oder gemeinsamen Lebenslagen beruhen.
Die aus der massenmedialen Öffentlichkeit vertraute – und oft lamentierte – deutliche Trennung zwischen einigen wenigen Sendern und der breiten Masse des empfangenden Publikums löst sich in den sozialen Medien auf. Menschen können sich dort ihre eigene persönliche Öffentlichkeit schaffen, in der sie Informationen alleine nach Kriterien der persönlichen Relevanz mit dem Publikum ihrer Kontakte, Follower oder Facebook-Freunde teilen. Zugrunde liegt dem der Wunsch nach Austausch und Feedback, nach sozialer Anerkennung und Interaktion mit dem eigenen, erweiterten sozialen Netzwerk. In den persönlichen Öffentlichkeiten der sozialen Medien wird also nicht „publiziert“, sondern Konversation betrieben. Dadurch wird ein Modus der Kommunikation sichtbar (und für die Betreiber entsprechender Plattformen verwertbar), der bislang in den flüchtigen Situationen der interpersonalen Kommunikation zu finden war: im Gespräch zwischen Freunden, dem Austausch in der Schlange beim Bäcker, oder dem Small-Talk im ICE-Großraumabteil.
Die Öffentlich-Rechtlichen als Thema und Themensetzer
Professionell-publizistische Angebote, mithin auch die öffentlich-rechtlichen Medien, sind ebenfalls in den neuen vernetzten Öffentlichkeiten der sozialen Medien präsent. Sie sind zum einen Gegenstand des Austauschs, zum Beispiel wenn sich Zuschauer parallel zu Sendungen auch auf dem „second screen“ um Hashtags wie #tatort oder #illner versammeln, wenn Menschen in Blogs über die Manipulationen von Voting-Shows oder den Sinn und Unsinn von Rundfunkbeiträgen debattieren, oder wenn sie sich auf YouTube gemeinsam an Fernsehikonen wie Fuchsberger, Flipper und Speedy Gonzales erinnern. Zum anderen sind die öffentlich-rechtlichen Angebote in den sozialen Medien selbst aktiv, betreiben Twitter-Accounts und Facebook-Seiten, bespielen Redaktionsblogs oder YouTube-Kanäle. Sie eröffnen dadurch nicht nur neue Kanäle, um ihre Inhalte zu verbreiten, sondern bieten zugleich Anknüpfungspunkte für das aktive Publikum, das kommentieren, empfehlen, sharen oder liken kann.
Diese Beispiele zeigen, dass es in den sozialen Medien zu einer Konvergenz der Kommunikationsmodi kommt, zur Konvergenz von Konversation und Publikation. Menschen haben sich immer schon an Medienangeboten orientiert und diese in ihre alltägliche Kommunikation einbezogen. Doch nun wird diese Anschlusskommunikation für das Publikum selbst wie auch für die Medienanbieter sichtbar, in all ihrer Vielfalt und Kreativität, bisweilen auch Unhöflichkeit oder gar Aggressivität. Debatten auf einer Facebookseite oder rund um einen Twitter-Hashtag genügen sicherlich nur selten den anspruchsvollen Kriterien eines vernunftgeleiteten herrschaftsfreien Diskurses à la Jürgen Habermas. Und doch findet dort gesellschaftliche Kommunikation statt, die politische Meinungsbildung genauso beinhalten kann wie identitätsstiftende Vergemeinschaftung.
Noch mehr Präsenz notwendig
Gerade weil soziale Medien ein ganz wesentlicher Ort gesellschaftlicher Kommunikation sind, müssen die öffentlich-rechtlichen Anbieter dort präsent sein, um zu informieren, zu unterhalten, auch zu experimentieren und neue Formen auszuprobieren. Zugleich müssen sie Antworten auf zentrale Fragen geben, die die neuen Öffentlichkeiten aufwerfen: Wie lassen sich gesellschaftliche Debatten in den sozialen Medien zivilisiert führen und zugleich offen für Menschen mit unterschiedlichen Meinungen und Erfahrungen halten? Wie lässt sich das Authentische vom Fiktiven oder auch „Gefaketen“ unterscheiden? Und vielleicht die wichtigste Frage von allen: Wer soll die kommunikativen Infrastrukturen der neuen Öffentlichkeiten gestalten? Einzig und allein Unternehmen, die nach Monetarisierung streben und ihre Nutzer letztlich als Kunden ohne Mitspracherechte betrachten? Oder sind andere Modelle denkbar, in denen wir Mediennutzer als teilhabende Bürger agieren? Medienpolitik und kritische Zivilgesellschaft sind hier gleichermaßen gefordert, einen wesentlichen Eckpfeiler der digitalen Gesellschaft zu gestalten.
Dieser Beitrag von Jan-Hinrik Schmidt ist zuerst in „Politik & Kultur“ des Deutschen Kulturrats erschienen.