Béla Réthy: „Ich meide die sozialen Medien“
Wiesbaden. Über den Marktplatz, vorbei an der größten Kuckucksuhr der Welt und dem berühmten Casino erreicht man den Stadtteil Sonnenberg. Dort findet das Gespräch mit Béla Réthy in einem Café statt.
Béla Réthy wurde 1956 als Sohn ungarischer Eltern in Wien geboren, seine Eltern waren damals vor den Aufständen in Ungarn nach Brasilien geflüchtet. Auf der Durchreise kam er in Wien zur Welt. Während seiner Karriere berichtete Réthy als Sportreporter und Kommentator von der Fußball-Bundesliga, Olympischen Spielen und etlichen Fußball-Weltmeisterschaften. Zu seinen Höhepunkten zählen seine Einsätze beim Finale der Europameisterschaft 1996, das WM-Finale 2002 und das deutsch-deutsche Champions-League-Finale 2013 zwischen Borussia Dortmund und Bayern München. Réthy spricht sieben Sprachen: Deutsch, Ungarisch, Portugiesisch und Englisch. Dazu etwas Französisch, Spanisch und Italienisch.
Durch die Tür tritt ein mittelgroßer Mann mit dick umrandeter Brille. Er berichtet über seine Kindheit in Brasilien, den legendären 7:1-Sieg Deutschlands über Brasilien und seinen Werdegang, vom ZDF-Archivar zum Endspiel-Kommentator.
VOCER: Herr Réthy, was ging in Ihnen vor, als feststand, dass Deutschland im Halbfinale der Weltmeisterschaft 2014 gegen Brasilien spielt und Sie am Mikrofon sitzen werden?
Ich habe mich schon sehr darauf gefreut, habe alle Szenarien durchgedacht. Dramatisches Spiel, vielleicht Verlängerung, Elfmeterschießen. Was allerdings dann passiert ist, ist für mich einzigartig.
Was denkt man in so einem Spiel, wo innerhalb von 18 Minuten fünf Tore für Deutschland fallen und es am Ende 7:1 steht?
Ich habe ja gar nicht mehr gejubelt, sondern nur noch mein Erstaunen zum Ausdruck gebracht. Das ist schwierig für einen Kommentator, der eigentlich mit Emotionen und Stimmung arbeiten muss. Das ist viel undankbarer als ein 3:2 in der 90. Minute. 7:1 ist eigentlich ein Vorrundenergebnis gegen einen Exoten. Aber das war ja der Rekordweltmeister.
Sie haben zehn Jahre in Brasilien gelebt. Wie haben Sie dort in Ihrer Kindheit den Fußball erlebt?
In Brasilien habe ich alles im Radio verfolgt, wir hatten kein Fernsehen. Die Leidenschaft der südamerikanischen Kommentatoren habe ich heute noch im Ohr. Das war schon ein präsentes Thema, auch in der Schule. Der Sportunterricht in Brasilien war kein Sportunterricht im klassischen Sinne, sondern wir haben Fußball gespielt.
Was genau fasziniert Sie am Fußball?
Es ist das Ereignis, was weltweit und kulturübergreifend den größten gemeinsamen Nenner hat. Das ist ein Phänomen, das die ganze Welt bewegt.
Für einen Internatsaufenthalt sind Sie damals in jungen Jahren nach Deutschland gekommen. Ihr Vater hatte währenddessen hier Arbeit gefunden, sodass Sie hier geblieben sind. Später haben Sie Publizistik studiert und nebenbei im ZDF Archiv gearbeitet. Wie schafft man es aus dem Archiv, quasi aus dem Keller des ZDF, in die Sportredaktion?
Es war so, dass ich schon Kontakt hatte in die Redaktion. Wir haben die ja beliefert. Und ich habe schon damals sehr großes Interesse gehabt für die Materie. Durch den Kontaktaufbau mit Größen wie Harry Valérien, Dieter Kürten und so weiter, hat man mir empfohlen, mich um ein Praktikum zu bewerben. Als Praktikant habe ich dann die ersten Beiträge gemacht. Außerdem spreche ich einige Fremdsprachen und konnte so für die Sportreportage das ein oder andere Stück im Ausland machen. Die habe ich auch selbst vorgeschlagen. Es ging also Schritt für Schritt.
Ihr erstes großes Turnier war die Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko. Da waren Sie Assistent von Kommentator Rolf Kramer. Sie hätten damals fast ihr Kommentatoren-Debüt gegeben, ausgerechnet im Endspiel.
Das war im Aztekenstadion in Mexico mit fast 120.000 Leuten. Damals musste der Reporter immer ins Studio vor der Sendung. Rolf Kramer hatte sich verlaufen und kam nicht durch die Menschenmenge. Dann hat es auf einmal geheißen: wenn der in fünf Minuten nicht da ist, dann fängst du an. Ich hatte aber noch nie ein Spiel kommentiert. „Ja, dann wird es mal Zeit“, sagte der Chef. Aber auf einmal kam der. Da war ich schon ganz dankbar. Ich hatte nichts daliegen, nicht mal eine Aufstellung. Aber ich hätte das hingekriegt. Man hätte gar keine Zeit gehabt nervös zu werden.
Besonders eine Geschichte hat ihre Karriere geprägt: bei den Olympischen Sommerspielen in Barcelona 1992 kamen Sie zu spät zu ihrem Einsatz beim Wasserball. Das Spiel begann ohne Kommentator.
Das stimmt. Das war auch ein Versehen. Die Nacht war zu kurz, aber wirklich aus Arbeitsgründen. Wir haben noch geschnitten. Ich habe dann einfach verpennt. Es gab zwar ein ziemliches Theater wegen des Verschlafens, aber ich konnte es erklären. Es war kein Leichtsinn, es war einfach nur Übermüdung. Immer wenn das Wort „Wasserball“ fällt, dann heißt es heute noch „Hoffentlich kommt der Reporter“.
Sonst haben Sie sich wenige Fehltritte erlaubt. Allerdings haben Sie den Kolumbianer Carlos Valderama bei der Weltmeisterschaft 1998 als „Klobürste“ bezeichnet.
Ich habe mich über den einfach geärgert. Der wurde so gehyped und hat so wenig geleistet für die Mannschaft, stand nur im Schatten. Und da ist mir das eben rausgerutscht, aber das war nicht absichtlich und ich hab’s auch bereut.
Wenn Ihnen das heute nochmal passieren würde, würden Sie in den sozialen Medien sicherlich noch mehr zerrissen werden, als Ihnen das jetzt schon teilweise widerfährt.
Wir werden gar nicht zerrissen, das ist ja das Problem! Diese sogenannten Shitstorms bestehen aus 50, 60 Tweets, die dann retweeted werden und von Medien aufgenommen werden. Das ist lächerlich in der Menge und völlig irrelevant im Inhalt. Die Kritik an Sportreportern ist objektiv nicht vorhanden – wenn man die Menge der Zuschauer sieht und die Kritiken an sich.
Sie sind selbst nicht in den sozialen Netzwerken vertreten. Warum nutzen Sie die nicht? Ist das Selbstschutz?
Ich vermisse da nichts. Meine Form der Kommunikation ist Leuten ins Gesicht zu schauen, zu sprechen, sich begegnen. Ich wähle meinen Kreis aus. Und das kann ich nur, in dem ich diese sogenannten sozialen Medien vermeide. Ich bin keine Sekunde in meinem Leben einsam gewesen bisher.
Kamen trotz allem irgendwann einmal Zweifel, dass Kommentieren und Fernsehreporter sein doch nicht das Richtige für Sie ist?
Nein, noch nie. Ich habe bei jedem Turnier sämtliche Umfragen des beliebtesten Reporters gewonnen. Ein großartiges Feedback im Verhältnis zu diesen soziomedialen Aufgeregtheiten. Die Anerkennung war da. Ich habe auch eine Selbstsicherheit dafür entwickelt, dass ich das gut mache. Und es kann ja kein Zufall sein, dass ich zweimal das WM-Finale gemacht habe. Die Leute, die das einteilen, sind ja keine Vollidioten.
Nutzt Ihnen ihre Selbstsicherheit, sich gegen solche vermeintlichen Kritiken zu schützen?
Meine Intelligenz schützt mich davor. Ich beschäftige mich mit Dingen, die intellektuell eine Relevanz haben. Wenn jemand mir konkret sagt, das und das ist schlecht und warum, dann beschäftige ich mich damit. Beleidigungen sind zu wenig, damit kann ich mich nicht beschäftigen.
Sie haben mittlerweile sechs große Finals kommentiert. Darunter das deutsch-deutsche Champions-League-Finale zwischen Borussia Dortmund und Bayern München. Gibt es da Neid unter den Kollegen, dass sie häufig diese großen Finals kommentieren dürfen?
Nein – zumindest habe ich das nicht gespürt. Ich bin auch ein Typ, der sehr geerdet ist und sehr gut innerhalb der Truppe arbeitet. Ich bin ein ganz normaler Kollege wie jeder andere auch und mache da keine Unterschiede. Deshalb erwecke ich durch diese Grundhaltung auch keine Neidgefühle bei anderen. Wenn die Kollegen mich rufen, heißt es: „Das ist der Endspielreporter.“ Es wird also positiv bewertet.
Sie haben auch das Eröffnungspiel der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 kommentiert. Den 3:1-Sieg Brasiliens über Kroatien. Es ist vorstellbar, dass diese WM in ihrem Heimatland Brasilien für Sie eine ganz besondere Bedeutung hatte.
Im Vorfeld mehr als währenddessen. Ich habe mich unglaublich darauf gefreut, weil ich in Brasilien aufgewachsen bin – in Sao Paolo. Mit dem Eröffnungsspiel dort hat sich ein Kreis geschlossen. Danach, ab Spiel zwei war das echt „business as usual“. Es war das anstrengendste Turnier, was ich je gemacht habe. Mehr als 15.000 Flugkilometer im Inland innerhalb von vier Wochen. Natürlich bin ich gern in dem Land gewesen, wo ich die Mentalität kenne. Ich habe da schon einige Kindheitsbilder wieder gesehen.
Was waren das für Kindheitsbilder, die Sie wiedergesehen haben?
Wenn man so in bestimmte Lokale reinguckt: wie die Speisen riechen, wie die Tankstellen riechen. Dort wird mit diesem aus Zuckerrohr gebrannten Treibstoff gefahren. Das ist für Brasilien ein typischer Geruch.
Fühlt man sich dann wieder heimisch?
Damals habe ich es sehr vermisst, dass ich wegziehen musste. Aber irgendwann hat man damit abgeschlossen und versucht das Neue zu genießen. Inzwischen würde ich sagen, dass ich nicht mehr unbedingt dort Leben wollte. Vielleicht ein paar Monate dort verbringen, aber dann zurück. Zu wissen, dass hier die Bahn pünktlich fährt.
Auf welches Ereignis in ihrer Karriere schauen Sie besonders gern zurück?
Das Größte für mich war, dass ich als einziger freier Mitarbeiter zur Fußball-WM nach Mexiko mitgenommen wurde. Das war ein Ritterschlag. 1994 dann mein erstes WM-Spiel. Das war in Detroit, Schweiz gegen die USA. Ab da war ich WM-Reporter. Das war schön.
Was für Eigenschaften muss man mitbringen, um Fußballkommentator zu werden?
Die Gelassenheit und die Hartnäckigkeit in einem. Nicht von Rückschlägen beeindrucken lassen, den Job wollen, Herzblut haben und das handwerkliche Können. Das ermöglicht, dass man lange Zeit oben auf der Welle schwimmt.