Der Beginn vom Beginn
Beginnen wir mit einer persönlichen Begegnung, die mich nachhaltig beeindruckt hat: Vor ziemlich genau zwei Jahren saß ich mit einem überaus sprachgewandten Herrn in einem Großraumbüro in San Francisco und plauderte angeregt über die Zukunft des Journalismus. „Ich denke gar nicht mehr in solchen Kategorien wie Journalismus“, sagte der Herr überzeugt zu mir.
„Es ist offensichtlich, dass das Internet Verbreitungskanäle für Jedermann geöffnet hat. Heutzutage hat eine überwältigende Mehrheit all jener Nutzer, die schreiben, Videos und Hörstücke produzieren – also alle denkbaren Arten von Inhalten produzieren, die vorher den traditionellen Medien vorbehalten waren -, gar nichts mehr mit berufsmäßigem Journalismus zu schaffen.“
Auf meine Frage, was er denn daraus schließe, antwortete er: „Diese Nutzer stehen direkt mit qualifizierten Journalisten im Wettbewerb“, denn beide Gruppierungen – so seine simple Argumentation – kämpften um Aufmerksamkeit: „Und sie konkurrieren um die Zeitbudgets ihrer Mitmenschen.“
Der Mann, um dem es geht, heißt Chris Anderson und ist seit zehn Jahren Chefredakteur des vielfach preisgekrönten US-Technologiemagazins „Wired“, das sich als monatliche Zeitschrift und als tägliche Website mit Innovationen in Kultur, Wissenschaft und Internet-Wirtschaft befasst. Ich traf Anderson damals im Zuge eines Forschungsprojekts zur Zukunft des Journalismus, aus dem auch eine 14-teilige Interview-Serie zusammen mit Focus Online entstanden ist. (Die Interviewreihe gibt es in Videoform auch auf VOCER, hier finden Sie das Interview mit Anderson.)
Neue Kampflinien des Aufmerksamkeitswettbewerbs
Anderson selbst ist einer der wenigen populären Vordenker der Computer- und Medienbranche, der auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt ist. Er ist berühmt für seine ebenso provokanten wie bahnbrechenden Thesen: 2004 hat er die Long-Tail-Theorie formuliert, wonach Online-Versandhäuser nicht nur mit konventionellen Bestsellern, sondern auch über ein differenziertes Nischenangebot hohe Gewinne einfahren.
2009 sorgte er erneut für Furore, als er einen weiteren Branchen-Bestseller landete: In seinem Buch „Free: The Future of a Radical Price“ propagiert er das sogenannte Freemium-Modell als innovatives Geschäftsmodell für Medienanbieter im Internet. Dabei geht es um die Kombination aus freien und bezahlten Informationen, womit einige mutige Verlage nun seit einiger Zeit experimentieren.
Anderson ist einer, der genau weiß, wovon er spricht, wenn er die Konkurrenzsituation für professionelle Journalisten neu kartographiert. Er liegt nicht nur vollkommen richtig damit, wenn er sagt, dass das herkömmliche Geschäftsmodell des Journalismus im Kern bedroht ist. Sondern es ist auch ganz und gar einleuchtend, dass ein wichtiger Ursprung dieses ökonomischen Dilemmas darauf zurückzuführen ist, dass der Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Nutzer neuerdings entlang völlig neuer Kampflinien ausgefochten wird, weil nämlich Laien, die nichts mit Journalismus zu schaffen haben, jetzt in den publizistischen Gefilden wildern, die vormals den traditionellen Medien vorbehalten waren.
Aber liegt Anderson auch richtig damit, wenn er behauptet, dass die Kategorie des Journalismus unbedeutend würde? Dieser Frage will ich genauer nachgehen.
Seit einiger Zeit werden für die Branche eifrig Grabkreuze gezimmert: für die gedruckte Zeitung, für das Programmfernsehen, sogar für unser Metier im Allgemeinen will man die Totenglocken läuten hören. In den USA sind im Verlauf dessen sogar eine ganze Reihe Blogs mit sarkastisch klingenden Namen wie „Newspaper Death Watch„, „Demise of Print„, „Fading to Black„, „The End of Journalism“ oder „Angry Journalist“ entstanden. Ihre Macher verstehen sich wahlweise als Chronisten des Zeitungssterbens oder als Apologeten eines vermeintlich untergehenden Berufsstandes.
„Das Jahrhundert des Journalismus ist vorbei“
Aber auch in Deutschland vermehren sich seit kurzem die Prognosen vom Verschwinden der Presse und ihrer hergebrachten Vertriebskanäle und Erlösstrukturen, dass man schon eine gute Begründung erwartet, warum das Ende des Journalismus wirklich eintreffen sollte.
Einen Versuch hat der Hamburger Journalismusforscher Siegfried Weischenberg unternommen, als er vor zwei Jahren auf einer Tagung des Dortmunder Instituts für Zeitungsforschung die These äußerte: „Das Jahrhundert des Journalismus ist vorbei.“ Man mag sich vielleicht ein wenig daran stoßen, dass unklar bleibt, um welches Jahrhundert es sich handelt oder ob es das Jahrhundert des Journalismus jemals gegeben hat.
Im Kern aber ähnelt seine These der Auffassung von Chris Anderson: Der professionelle Journalismus nämlich, wie er seit über hundert Jahren in unserer Gesellschaft anerkannt und verankert ist, hört auf zu existieren. Oder sagen wir besser: Ihm wird aufgrund der wachsenden finanziellen Schwierigkeiten peu à peu die Existenzgrundlage entzogen.
Es ist sicherlich nicht übertrieben zu prognostizieren, dass dem Journalismus, wenn er so weitermacht wie bisher, in absehbarer Zeit nicht nur die ökonomische Grundlage fehlt. Schon jetzt mangelt es ihm weitgehend auch an technischen Kompetenzen, um mit der zunehmenden Komplexität in den digitalen Informationswelten klarzukommen. Ihm wird auf lange Sicht, so meine Befürchtung, deshalb wohl auch die gesellschaftliche Anerkennung abhandenkommen, die wir diesem Metier seit Generationen nach wie vor zuschreiben.
Alter Journalismus in neuer Form
Ich vermute, wie übrigens viele andere Medienforscher auch, dass die Ära der Papierzeitung irgendwann bald vorbei sein könnte, vermutlich schon in weniger als 15 Jahren. Was mich an den Debatten über die Zukunft des Journalismus aber häufig stört ist, dass sie sowohl intellektuell als auch medienhistorisch betrachtet fast immer auf der Stufe einiger Medienevangelisten stehenbleibt, die nur vom Ende von etwas, aber nicht vom Neubeginn sprechen.
Ich meine, dass leicht übersehen wird, dass auch der „alte Journalismus“ längst dabei ist, in eine neue Daseinsform überzutreten. Dass er imstande und auch bereit ist, sich zu wandeln und die neuen Herausforderungen als Chance zu begreifen. Und dass er, so plakativ das vielleicht klingen mag, die geistige Größe besitzt, seine veränderte Rolle im digitalen Medienumfeld mit allen Konsequenzen zu akzeptieren.
Wachsende Komplexität oder finanzieller Notstand müssen nicht zwangsläufig mit abnehmender Professionalität oder einer Verwahrlosung des gesamten Berufs einhergehen – sie können, das zeigt die Vergangenheit, durchaus Antriebsfeder für Experimentierlust, Initialzündung für Erfindungen und Motivation für besonders herausragende Leistungen sein.
Ich gebe zu: Wer sich heute mit der Zukunft des Journalismus beschäftigt, hat wenig Anlass, die Champagnerkorken knallen zu lassen. Er oder sie braucht eher ein starkes Nervenkostüm. Denn die strukturellen Verwerfungen und Konvulsionen sind mindestens ebenso heftig wie das Selbstbewusstsein vieler, auch vieler saturierter Journalisten angegriffen ist. Aber niemandem ist wirklich geholfen, wenn wir – als Medienschaffende oder als Ausbilder von Journalisten – uns diesem drohenden Schicksal einfach wehrlos hingeben.
Innovation, das lehrt die Mediengeschichte, hatte eigentlich schon immer mit der Zerstörung von etwas Etabliertem zu tun. Bereits Joseph Schumpeter charakterisierte die wirtschaftliche Entwicklung als Prozess der „schöpferischen Zerstörung“, der „unaufhörlich die Wirtschaftsstruktur von innen heraus revolutioniert, unaufhörlich die alte Struktur zerstört und unaufhörlich eine neue schafft“.
Innovation durch technologische Schübe
Stephan Ruß-Mohl von der Universität Lugano hat diesen Prozess des Niedergangs und der Neuerfindung des US-Zeitungsjournalismus in seinem Buch „Kreative Zerstörung“ mühevoll nachgezeichnet. Ruß-Mohl neigt darin weder zu Schwarzmalerei noch zum Fatalismus. Vielmehr arbeitet er in einigen Case-Studies gescheiterter, aber auch zukunftsfähiger amerikanischer Medienangebote akribisch heraus, warum Zerstörung generell notwendig ist, damit eine echte Neuordnung überhaupt stattfinden kann.
Und genauso müssen wir Schumpeter bezogen auf den Journalismus interpretieren, aber eben nicht nur in ökonomischer Hinsicht: Ich denke nämlich, dass Innovation als Wachstumstreiber im Journalismus immer auch an technologische Schübe und an technische Endgeräte gekoppelt ist, und dies übrigens auch schon immer so war – egal, ob wir an die Erfindung des Buchdrucks, die Einführung des Fernsehens, natürlich an das Internet oder ganz konkret an mobile Endgeräte wie das iPad denken.
Radikales Umdenken für die Auferstehung
Innovationen im Journalismus, das müssen wir uns ganz bewusst machen, involvieren immer wieder ökonomische Umwälzungen, aber vor allem handwerkliche und durchaus auch psychologische Anpassungsprozesse an neuartige Technologien. Im Wesen wird sich guter Journalismus – hoffentlich – stets durch knallharte Recherche, kluge Selektion und klare Einordnung abgrenzen lassen; das macht ja gerade den Mehrwert des professionellen Journalismus gegenüber der unstrukturierten Nutzerkommunikation aus.
Aber sowohl das journalistische Erscheinungsbild als auch die Vermittlungsformen werden sich in Zukunft radikal ändern (müssen), wenn Journalismus auch weiterhin zeitgemäß und konkurrenzfähig bleiben will. Die digitale Auferstehung in Form eines neuen Journalismus kann nur funktionieren, wenn wir zum Umdenken wirklich bereit sind.
DNA des New Digital Journalism
Eine entscheidende Rolle spielt dabei die psychologische Ebene. Reporter und Redakteure in ihrer täglichen Arbeit werden schon per definitionem spielerischer, kreativer und auch experimentierfreudiger mit dem Netz umgehen (müssen). Sie werden, nach einer langen Phase der Zerwürfnisse und des pathologischen Selbstzweifels, wieder häufiger „out of the box“ denken, um zu einem glanzvollen Selbstbild zu finden.
Ganz essentiell ist, dass wir uns Gedanken machen, wie die DNA eines so verstandenen New Digital Journalism beschaffen sein könnte und welche Perspektiven das für uns als Gesellschaft bietet.
Wozu noch..?
Dazu gehören öffentliche Debatten in den Feuilletons über provokante Fragen wie „Wozu noch Journalismus?“ oder „Wozu noch Zeitungen?“, essayistische Nachdenkstücke über den Bedeutungswandel der Medien mit einem selbstkritischen Anspruch, wie es die „SZ“ oder die „NZZ“ auf ihren Medienseiten seit vielen Jahren praktizieren (erstere leider immer seltener), aber auch Internet-Initiativen wie das von Stephan Ruß-Mohl in der Schweiz begründete European Journalism Observatory oder unser neu gegründetes Web-Portal VOCER.
Letztlich gehört dazu auch die offenherzige Diskussion über eine vernünftige Ausbildung junger Menschen, die sich von den Unkenrufern nicht beeindrucken lassen, sondern sich von den Vorbildern im Journalismus für diesen aufregenden Beruf nach wie vor begeistern lassen.
Es darf dabei, perspektivisch gesehen, allerdings nicht um einen Supermarkt aus bunten Träumereien und wolkigen Begrifflichkeiten gehen. Wir dürfen in dieser Diskussion niemals die Bodenhaftung verlieren. Aber wir sollten uns, um uns aus dem engen definitorischen Korsett zu befreien, was Journalismus heute eigentlich zu sein hat, von unkonventionellen Gedankenexperimenten durchaus inspirieren lassen, neue Partnerschaften – etwa zwischen Verlagen und Hochschulen – eingehen und auch praxisnahe Laborversuche machen, die uns den Weg zu qualifizierten neuen Vermittlungsformen und Publikationsgefäßen weisen.
Dieser Beitrag dokumentiert eine Keynote, die der Autor am 6. September 2011 auf dem 6. Mediapodium der renommierten Schweizer Journalistenschule MAZ in Luzern mit dem Titel „Innovation als Vorsprung“ gehalten hat. Zu Gast waren unter anderem David Leigh (Investigation Executive Editor, „The Guardian“, London), Marc Walder (CEO Ringier Schweiz und Deutschland) und Grzegorz Piechota (Senior Editor „Gazeta Wyborcza“, Warschau). Weitere Infos gibt es auf dieser Seite.