Der neue Leser
Ich will es Ihnen offen sagen: Der neue Journalismus, von dem in diesem Dossier die Rede ist, braucht auch einen neuen Leser. Ohne Mediennutzer der Zukunft wird es keinen Journalismus der Zukunft geben, so einfach ist das.
Wenn wir den neuen Journalismus als einen auf nachhaltige Wirkung und Leserbindung orientierten, diskursiven, möglicherweise gar von Anzeigenzwängen befreiten Journalismus definieren – dann muss ihm von der anderen Seite ein aufmerksamer, bewusster, zugeneigter Mediennutzer* entgegenkommen.
Jemand, der bereit ist, mediale Qualität wertzuschätzen und seinen Beitrag dafür zu leisten, sei es mit Aufmerksamkeit, mit Empfehlungen – oder, ja, auch mit Geld.
In einem Boot
Produktion und Rezeption von Medien werden in Zukunft nicht mehr trennbar sein. Nicht nur, weil die digitalen Technologien diese Trennung aufweichen. Nicht nur, weil mit Web 2.0 und Wikipedia der Prosument die Medienlandschaft prägt oder weil jeder ein Publisher sein kann.
Sondern weil beide Seiten – Produzenten und Nutzer von Medien – gemeinsam Verantwortung für die Medienlandschaft von morgen tragen. Weil auch hier Angebot und Nachfrage regieren. Es steht nichts Geringeres auf dem Spiel als die Zukunft des Journalismus. Wird es uns gelingen, den Journalismus in die neue Welt zu übersetzen? Wie lässt sich mediale Qualität in einem algorithmengetriebenen Gewerbe retten? Wie wird sich der Printjournalismus der digitalen Ära von dem der vordigitalen Ära unterscheiden? Können wir eine medienübergreifende Kategorie des Journalismus denken?
Der Journalismus der Zukunft braucht den Leser der Zukunft. Dieser ist ein Beiträger, ein Nachdenker, ein Mitmacher. Er sucht die Qualität bewusst auf. Er hört zu. Er ist involviert, er trägt bei. Er ist neugierig, er lässt sich inspirieren und überraschen. Er kommt wieder. Er ist bereit, Aufmerksamkeit zu investieren. Er ist treu und bindungsfähig.
Auch das noch
Oje, mag so mancher sagen. Muss ich das jetzt auch noch? Mich beteiligen? Was soll ich denn noch alles tun? Ja, das ist viel verlangt. Und, ja, das ist anstrengend. Er hat es nicht leicht, der Leser von morgen.
Aber so ist es eben. Und der Leser kann es sich nicht leicht machen. Genauso wenig wie der Journalist – in seiner Redaktion, auf verlorenem Posten. Flipcam, Twitter, Podcast: Was soll ich denn noch alles machen?, fragt auch er. Und wie der Leser kann er es sich ebenfalls nicht leicht machen.
Es-sich-einfach-Machen, selbst wenn man es wollte, geht nicht mehr. Früher, als es drei Fernsehprogramme und eine überschaubare Anzahl an Tages- und Wochenzeitungen gab, war das anders. Da war es noch einfach, die Orientierung zu behalten ohne auswählen zu müssen. Da konnten sich Mediennutzer noch einfach durchrezipieren.
Aber jetzt? Dasitzen und ohne Auswahl alles wegkonsumieren, verzehren, aufzehren: Das ist vorbei.
Wer auswählt, muss wissen nach welchen Kriterien
Niemand kann heute Medien nutzen, ohne gleichzeitig sehr viel mehr Medien nicht zu nutzen. Immer wichtiger wird: Was lese ich nicht? Welchen Link klicke ich nicht an? Das bedeutet Auswahl, und Auswahl bedeutet Entscheidung, und Entscheidung bedeutet Verantwortung – und da hat man schon den Salat.
So wie die Demokratie einen mündigen Bürger braucht, braucht der neue Journalismus den mündigen Nutzer. Den Nutzer, der Kontexte herstellen kann und das Wichtige vom Unwichtigen unterscheidet. Den Nutzer, der auswählt und abwägt. Der gelernt hat, ohne Unruhe Dinge zu verpassen, und der seinen Kopf von zuviel Ballast freihält. So wie Literaturstudenten lernen, ohne das Gefühl der Überforderung durch eine Bibliothek zu schlendern, in dem festen Wissen: Das wirst du niemals alles lesen können!
Je größer die Fülle an Medien und Möglichkeiten ist, umso wichtiger werden also Qualitätskriterien. Denn wer auswählt, muss auch wissen, nach welchen Kriterien und Parametern er seine Mediennutzung auswählt.
Etwas spitz und missbilligend heißt es gelegentlich, der Mediennutzer von heute sei ein Rosinenpicker. Einer, der wegklickt, wenn ihm etwas nicht passt. Einer, der umschaltet, wenn ihm ein Programm oder ein Werbeblock nicht zusagen. Der Vorwurf der Undankbarkeit schwingt da mit. Dabei handeln die Nutzer völlig angemessen: Sie wählen das aus, was das Geeignetste für sie ist. Sie wenden ihre Kraft nur für das auf, was für sie persönlich den Einsatz lohnt.
Was soll denn ein mündiger Mediennutzer auch anderes sein als ein Rosinenpicker? Ein Müllschlucker?
Womit wir bei den Verlegern wären. Der neue Mediennutzer ist anspruchsvoll. Er haushaltet mit seiner Aufmerksamkeit. Für den Verleger von morgen bedeutet das: Wer den neuen Nutzer an sich binden möchte, muss ihm mehr bieten als Gewinnspiele oder Klickstrecken. Der Leser möchte, dass man ihm zuhört und mit ihm spricht.
Der neue Journalismus braucht Verbündete
Verlagshäuser müssen glaubwürdig sein und sich das Vertrauen der Nutzer erst verdienen. Auch der Verleger kann es sich in Zukunft nicht leicht machen. Um Loyalität zu werben, bedeutet, sich wirklich Mühe zu geben. Das heißt nicht, dem Nutzer nach dem Mund zu reden oder in seichte und gefällige Publikationen auszuweichen.
Sondern im Gegenteil: Position beziehen, als Absender erkennbar – auch: wiedererkennbar – sein. Während Verleger einen verschreckten Schritt zurückweichen, sollten sie eher das Gegenteil wagen: einen beherzten Schritt nach vorne schreiten und dem Nutzer etwas bieten, das seine Loyalität verdient. Mit seiner Aufmerksamkeit haushalten. Eine tragfähige Bindung mit ihm eingehen. Die Aufgabe für den neuen Verleger lautet: Den Rosinenpicker lieben lernen.
Der neue Journalismus wird gelingen, aber er braucht Verbündete. Er braucht Nutzer, Journalisten und Verleger, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind und entsprechend handeln. Verbündet euch mit dem Journalismus, den ihr in Zukunft haben wollt!
* Bitte lesen Sie die Begriffe „Nutzer“ und „Leser“ medien- und geschlechtsübergreifend als „Druck-, Funk-, Fernseh- und digitale Medien nutzende Frauen und Männer“.