Wie Schiffeversenken, nur ernster
Wozu noch Journalismus? Wenn ich es auf einen Satz reduzieren müsste, würde ich sagen: Die Zukunft des Journalismus besteht darin, herauszufinden, was die vernetzte Maschine nicht kann (und es zu nutzen). Einige Strukturteile des Internet machen der herkömmlichen Art und Weise, Journalismus zu betreiben, erheblich zu schaffen – der Welt größter Werbevermarkter Google zum Beispiel, der statt Seifenopern erfolgreich das Suchen als attraktiven Menschenmagnetismus anbietet; oder nicht ganz 200 Millionen Blogs, digitale Journale, deren Betreiber sich als zumindest Amateurjournalisten sehen; nicht selten sind sie besser.
Nicht zuletzt werden die herkömmlich von Menschen herangeschafften Nachrichten und Informationen zunehmend auf ein neues Ziel ausgerichtet: Sie sollen nicht mehr in erster Linie für Menschen verständlich und lesbar sein, sondern zuallererst findbar – für die Suchmaschinen. Dadurch beginnen die Texte sich zu verändern.
Es ist ein Spiel wie Schiffeversenken, nur größer und ernster: Da es Geschäftsgeheimnis von Google ist, nach welchen (so viel weiß man: der etwa 200) Kriterien ein Artikel in den Ergebnislisten nach vorn sortiert wird oder unter ferner liefen verschimmelt, wird herumprobiert was das Zeug hält, ob es nicht vielleicht besser ist, Worte, die in der Überschrift vorkommen, noch ein paarmal in den Text zu streuen, und so weiter. Wie sorgsam gearbeitete Geschenke einem Herrscher wird die journalistische Arbeit der Maschine dargereicht.
Denn Google, Inbegriff des digitalen Wandels, scheint immer wichtiger zu werden für das Überleben des Journalismus in einer Zeit, in der jedermann über eine Nachrichtenversorgung verfügt, wie sie noch vor ein paar Jahren nur große Redaktionen mit kostspieligen Agenturtickern hatten; zugleich wird Google gefürchtet und gehasst.
Verheißungen und Hoffnungen
Ende der neunziger Jahre sah ich einen Bericht über die ersten Internet-Aktivitäten im afrikanischen Mali. Ein Wissenschaftler an der Universität in der Hauptstadt Bamako erzählte von den schlechten Telefonverbindungen im Land und wie sich Fernkontakte durch die Möglichkeiten des Internet verbessert hatten. Dann zeigte er ein in der Entwicklung befindliches System von Bildschirmsymbolen, mit dessen Hilfe auch Analphabeten mit einem Computer und dem Internet umgehen können sollten. Mehr als 80 Prozent der 15,5 Millionen Einwohner Malis können nicht lesen und schreiben. Und die Symbole auf dem Bildschirm sollten von allen Mitgliedern der etwa 30 verschiedenen Ethnien des Landes verstanden werden.
Erst fand ich das großartig, dann beunruhigend. Hieß das für die nahe Zukunft möglicherweise, dass ganze Völker gar nicht mehr den Umweg über die Alphabetisierung nehmen, sondern gewissermaßen geradewegs in den Cyberspace eintreten werden?
Mögliche Abschaffung der Schrift
Das Netz stand damals gerade erst ein paar Jahre im Blickpunkt der Öffentlichkeit, 1993 war es vom Himmel gefallen, und es hatte mich als jemanden, der schreibt, mit Verheißungen und Hoffnungen gelockt. Denn das Internet war – und das ist es auch immer noch – ein zum größten Teil textgetragenes, von Schrift und Sprache durchquertes Medium.
Die mögliche Abschaffung – oder Überwindung – der Schrift, wie man will, war nun etwas, das nicht nur den Journalismus in seinen Grundfesten bedrohte (obwohl wir spätestens seit dem Vietnamkrieg wissen, dass man mit Bildern sogar einen Krieg verlieren kann, betrachtet der geschriebene Journalismus sich insgeheim als die Königsform).
Ein Ereignis in dieser Zeit, vor allem aber, wie die Welt davon Kenntnis erhielt, brachte den Journalismus der Zukunft aufs Tapet: Der Bombenanschlag in Oklahoma City am 19. April 1995 wurde als Erstes von keinem der herkömmlichen Nachrichtenmedien gemeldet, sondern von Augenzeugen, die, was sie vor ihren Fenstern sahen, sofort in ihre Computer tippten – und zwar in den Internet Relay Chat (IRC), eine der ersten weltweiten Internet-Plaudergelegenheiten.
In einem sofort eingerichteten IRC-Kanal #oklahoma sammelten sich ständig neue Beobachtungen, Informationen und Kommentare. Und als CNN und die anderen zu berichten begannen, war das IRC Teil der spektakulären Neuigkeit. Hier, so hieß es in der Zeit nach dem Ereignis immer wieder, beginne der Weg des Journalismus ins 21. Jahrhundert.
Twitter statt ICR
Heute interessiert sich kaum noch jemand fürs IRC (dafür aber für eine verkürzte und beschleunigte Form des Austauschs in dieser Form namens Twitter), und auch die Schrift ist nicht abgeschafft worden zugunsten von Symbolen oder Gesten, mit denen wir uns der digitalen Welt mitteilen. Aber wieder gibt es Untergangsvisionen den klassischen Journalismus betreffend. Soll man abwarten und Tee trinken, bis die Aufregung sich nachmals gelegt hat und die nächste Sau durchs globale Dorf getrieben wird?
Diesmal ist die Situation anders. Und es gibt nicht einfach nur einen Schurken namens Google, der die gedruckten Zeitungen um ihr sauer erworbenes (sic!) Geld bringt, aus dem der „Hochqualitätsjournalismus“ (so Bernd Kundrun, vormals Vorstandsvorsitzender von Gruner + Jahr) sich finanziert.
Dave Berry und seine Kolumne
Der amerikanische Medienwissenschaftler und Autor Clay Shirky beschreibt in einem bemerkenswerten Essay („Zeitungen – Nachdenken über das Undenkbare“, hier auf Englisch nachzulesen), wie die von einer Zeitung angestellten Nachforschungen verliefen, als die populäre Kolumne des Humoristen und Pulitzer-Preisträgers Dave Berry unerlaubt im Internet verbreitet wurde. So fanden sich im Netz unter anderem eine eigene Dave-Berry-Newsgroup und eine Mailingliste, die von ein paar tausend Leuten gelesen wurde.
Und es fand sich ein Teenager aus dem mittleren Westen, der die Kolumnen von Hand im Internet verbreitete. Er liebte die Sachen von Berry so sehr, dass er dafür zu sorgen versuchte, dass möglichst jeder sie lesen konnte. Shirky erinnert sich an eine Bemerkung des damaligen Online-Chefs der „New York Times“, Gordy Thompson, zu diesem Phänomen: „Wenn ein 14-jähriger Junge dein Business in seiner Freizeit hochgehen lassen kann – und zwar nicht, weil er dich hasst, sondern weil er dich liebt -, dann hast du ein Problem.“
User als Rosinenpicker
Und es ist nicht das einzige Problem, mit dem Journalisten und ihre Verleger nun zu kämpfen haben. Ein weiterer dramatischer Effekt des digitalen Verbreitungsmediums Internet ist, dass es etliche herkömmliche Methoden der Bündelung kultureller Einzelteile wieder in ihre Elemente zerlegt. Musiker waren die Ersten, die das Phänomen am eigenen Leib zu spüren bekamen. Ihre klassische Bündelungsform, das Album, hat im Internet praktisch aufgehört zu existieren, die User sind zu Rosinenpickern geworden und holen sich nur noch einzelne Tracks, die ihnen gefallen. Film- und Fernsehleute sehen es an der Partikularisierung langer Lichtspiele, die in zwei, drei Minuten lange YouTube-Clips zerfallen, die dann in Blogs neu gemischt und zusammengestellt wieder auftauchen.
Auch die Struktur, in der die verschiedenen Aspekte der Welt bisher in einer gedruckten Zeitung vor uns ausgebreitet wurden, löst sich im Netz auf. Schon auf den Online-Ablegern der altgedienten Blätter werden Texte ersichtlich heftiger zerteilt als in Print – um geldwerte Klicks einzusammeln und Kleinanzeigen oder Teaser-Kästen dazwischenschieben zu können.
Nennen wir es Arbyte
Vollends quantenphysikalisch, also voller Unbestimmtheiten, geht es mit journalistischer Arbeit in den neuesten Großstrukturen des Internets zu, den sozialen Netzen. Hier wird deutlich, was sich gerade verändert: aus Massenmedien werden Medienmassen. Man liest nicht mehr eine Tageszeitung und zwei, drei Wochenzeitungen, sondern man steht über Facebook und Twitter mit Freunden und Bekannten in Kontakt, von denen jeder auch andere Publikationen und Blogs liest als man selbst und, wenn er etwas besonders interessant findet, einen Hinweis plus Link auf den Artikel von sich gibt. Die Summe dieser Empfehlungen, denen man so zu folgen bereit ist, ergibt ein neues Gewebe aus Nachrichten und Unterhaltung, das mit den konventionellen Rubriken der Zeitungen nur noch wenig zu tun hat.
Es ist eine Art flüssige Zeitung, es strömt, ist individualisiert und besitzt eine neue, übergeordnete Qualität, die eine einzelne Zeitung prinzipiell nicht leisten kann, eben weil die nur eine ist.
Wie einst die Zeitschriften im Kaffeehaus
Google News ist das heißumfehdete Lieblingsbeispiel vieler Verleger und Journalisten, wenn es um die neuen, kulturellen Molekülverbindungen geht, die sich im Internet aus dem atomisierten herkömmlichen Material formen lassen. Das Prinzip ist schon bedeutend älter und auch nicht an das Internet gebunden: Als Österreicher habe ich früh schätzen gelernt, dass man, wenn einem der Kauf mehrerer Tages- und Wochenzeitungen zu teuer ist, einfach in ein Kaffeehaus gehen kann, wo man für den Kaffee ein bisschen mehr ausgibt als zu Haus, dafür aber eine umfassende Auswahl an Presseerzeugnissen ausliegt.
Im Netz, wo nun die gesamte Weltpresse ausliegt, erhält das Auswählen, verbunden mit Kurzfassungen, eine neue Qualität. Was Google News im Großen und Websites wie die „Perlentaucher“ im kleineren Maßstab tun, ist: Sie schenken dem interessierten Leser Lebenszeit. Überinformation ist der Smog des Informationszeitalters.
Je kompakter und intelligenter jemand heute Information aufbereitet, desto wertvoller wird sein Beitrag. Wer wüsste das besser als ein Journalist? Es wird auch weiterhin erstklassige Reporter und Autoren geben, die uns mit klaren Blicken auf die Welt versorgen. Die Zeit, in der Journalismus nur von einer begrenzten Berufsgruppe ausgeübt wurde, geht jedoch zu Ende. In der Internet-Ära sind wir alle dazu verdammt, Journalisten zu sein.
Form von Widerstand
Nun geht es um Fragen wie die, was eigentlich freie Meinungsäußerung bedeutet, wenn sie plötzlich tatsächlich stattfindet – nicht mehr nur handverlesen auf Leserbriefseiten oder in repräsentativen Debatten, sondern wenn plötzlich haufenweise und ungebremst drauflosgemeint wird. In Kommentarfächern und Foren wird etwas Neues erlebbar, etwas Schönes und Schauerliches, nämlich die unrasierten und ungewaschenen Formen von Meinungsäußerung.
Das ist anstrengend. Nennen wir es Arbyte. Journalismus ist die zivilisierteste Form von Widerstand. So groß kann keine Krise sein, dass er verschwände.
Ursprünglich ist dieses Essay als Teil der „SZ“-Reihe „Wozu noch Journalismus“ erschienen, die auch als Buch erhältlich ist. VOCER veröffentlicht ausgewählte Beiträge in teils leicht aktualisierter Form.