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Blackbox: Context, the King

„Why are we serving people the news without the background narrative necessary to make sense of the news?” – Jay Rosen

Die Finanzkrise erzeugt ein schwarzes Loch. Schon wenige Sekunden nachdem es entstanden ist, füllt es sich mit den ersten Narrationen, mit Helden- und Opfergeschichten. In dieser Gravitation wirkt besonders die Schuldfrage als mächtige Kraft. Die ersten Maßlosen und Gierigen, manchmal die erstbesten, werden gefunden – die Profiteure der Krise. Aber auch diejenigen, die sich vom kollabierenden Stern blenden ließen, stehen bald in der Kritik, allen voran: Wirtschaftsjournalisten.

Ein ganzer Forschungszweig der Kommunikationswissenschaften widmet sich der Frage, was schief gelaufen ist. Viele Studien kommen zum Ergebnis, dass tatsächlich wenig berichtet wurde über die Risiken des wuchernden Finanzsektors, Deregulierung galt zumeist als fortschrittlich, Streben nach zweistelliger Rendite als legitim. Gleichzeitig gab es aber auch immer wieder Journalisten, die auf die Gefahren hingewiesen haben, die etwa von undurchsichtigen Finanzprodukten ausging.

Ein Abbild der Gesellschaft

Wirtschaftsjournalismus war damit auch ein Abbild der Gesellschaft, der Ökonomik, der Politik, der Akteure am Finanzmarkt: viele Berauschte, wenige Warner. Das was Wirtschaftsjournalisten geleistet haben, deckt sich dabei mit ihrem Selbstverständnis: Sie bilden die Aktualität ab, Ereignisse und Diskurse, erklären das Verhalten der Akteure, bewerten es kritisch, orientiert an den Meinungen von prominenten Experten. Will man konstruktive Fehleranalyse betreiben, ist die Schuld einzelner Journalisten oder Redaktionen also die falsche Kategorie – Wirtschaftsjournalismus funktioniert so, wie er traditionell angelegt ist. Will man herausfinden, warum es Journalismus nicht gelingt, Bewusstsein für bestimmte Schieflagen zu schaffen, muss man an anderer Stelle ansetzen: bei den Mechanismen der Massenmedien. Eine mögliche Stellschraube: Kontext.

Wir lesen hunderte Artikel und verstehen: keinen einzigen

Als der New Yorker Journalismusprofessor Jay Rosen versuchte, die Finanzkrise zu verstehen, las er hunderte Artikel zur Subprime-Krise. Sein Problem: Er verstand keinen einzigen. Dabei waren die Artikel durchaus informativ ­– sein Problem, sagt Rosen, sei vielmehr gewesen, dass er nicht informierbar war. Das änderte sich erst, als er eine Folge von „This American Life“ hörte, einer einstündigen monothematischen Radiosendung. Erst das Feature zur Finanzkrise vermittelte ihm das nötige Kontextwissen, um die tagesaktuelle Berichterstattung zu verstehen. Für Rosen ist das ein Paradebeispiel für contextual journalism. Journalismus also, der den Kontext ergänzt, der in der Aktualität verlorengeht. Etwas weitergedacht, ließe sich Kontext-Journalismus wie folgt umreißen:

  • Journalismus, der Hintergrundwissen vermittelt, um zuvor Uninformierbaren den Zugang zu aktueller Berichterstattung zu erleichtern.
  • Berichterstattung, die nicht fragmentiert sondern monothematisch Themenfelder erschließt und Zusammenhänge herstellt.
  • Journalismus, der Themen verfolgt, die nicht auf der tagesaktuellen Nachrichtenagenda stehen – um auf unerkannte Risiken und vernachlässigte Themen aufmerksam zu machen.
  • Journalismus, der tagesaktuelle Berichterstattung mit zeitlosen Wissensressourcen sekundiert.

Für diese Art des Journalismus braucht es neue Formen. Formen, die einerseits Kontext und Tiefe vermitteln, andererseits zeitgemäß en passant rezipierbar sind, auf dem Handy in der U-Bahn: ein Kontext-Snack quasi.

Der Name dieses Laborversuchs: Blackbox.wiki. Blackbox wird als visueller Kontext-Blog funktionieren, kurze Texte, begleitet von informierenden Animationen und kurzen Videos – grundsätzlich, erklärend, faktenbasiert. In einer Serie wird ein Themenfeld erschlossen. Jede Folge, jede Blackbox, ist dabei gleichsam die Fußnote zu einem undurchsichtigen Konzept, das dem Leser in der alltäglichen Berichterstattung den Zugang zu einem relevanten Diskurs erschwert. Der Blog veranschaulicht basale Begriffe der Wirtschaftsberichterstattung, die zwar oft genutzt aber selten grundsätzlich erklärt werden. Blackbox.wiki ist also als Wissensressource konzipiert, die Rezipienten den Einstieg in relevante Wirtschaftsdiskurse erleichtert.

Blackbox macht informierbar

Unser erstes Themenfeld wird verschiedene Facetten des Themas Cyberspionage/-sabotage beleuchten. Ein Thema, das in den vergangenen Monaten immer wieder in der Berichterstattung auftauchte: Im Zusammenhang mit dem Sony-Hack beispielsweise, mit dem Angriff auf TV5 oder natürlich aktuell im Zuge der Enthüllungen rund um den BND, der für die NSA europäische Unternehmen ausspioniert haben soll.

Ein Thema, das also immer wieder in der Berichterstattung auftaucht – dann aber so kursorisch, so abstrakt, dass es keinen der tatsächlichen Bedrohung angemessenen Wiederhall erzeugt. Das hat verschiedene Gründe: Zum einen ist das Thema schwer zu fassen, Unternehmer, die Hackern zum Opfer fielen, äußern sich dazu nur ungern. Die Protagonisten fehlen also, die Bilder sowieso. Themen, die sich kaum visualisieren lassen, haben es immer schwer. Hinzukommt, dass das Thema „Angriffe auf Unternehmen“ in der Berichterstattung schnell von verwandten Diskursen überlagert wird: Immer geht es auch um Geheimdienste, Terrorismus, Verschwörungen. Die Bedrohung für den deutschen Mittelstand wird da schnell sekundär.

Deutschland ist Hauptangriffsziel

So kann sich kaum jemand vorstellen, dass Unternehmen über Nacht aufgrund eines Cyberangriffs Insolvenz anmelden müssen – doch diese Fälle häufen sich. Firmen werden ausgespäht, Kapital wird von Computern gestohlen, ohne dass den Dieben Konsequenzen drohen. Deutschland ist Hauptangriffsziel. Unternehmen werden durch zunehmende Vernetzung immer anfälliger – Stichwort Industrie 4.0 -, das Millionengeschäft mit Spionage- und Sabotage-Software floriert währenddessen, so dass die existenziell bedrohlichen Angriffe zunehmen. Doch obwohl sich das Sicherheitsgefühl der Deutschen laut Studien seit den NSA-Enthüllungen erheblich verschlechtert hat, hat dies nicht zu einer erhöhten Vorsicht geführt – das BSI spricht von einer verbreiteten „digitalen Sorglosigkeit“.

Dass Cyberspionage irgendwann zur nächsten Wirtschaftskrise führen könnte, kann sich heute noch niemand vorstellen. Doch sind es gerade die Bedrohungen, die sich in keinem wirtschaftswissenschaftlichen Modell finden, für die es keinen Indikator gibt, die zulange unsichtbar bleiben und zu fatalen Schieflagen führen. Heute gibt es ganz neue Risiken, die wachsen und unseren Wohlstand bedrohen. Wirtschaftsjournalisten müssen nicht nur frühzeitig vor ihnen warnen, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Sie müssen auch den Kontext vermitteln, der die Öffentlichkeit erst warnbar macht.