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Natalia Antelava: „Jedes komplexe Problem ist ein Thema für Coda“

natalia-antelavaNatalia Antelava lebt in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Für die BBC hat sie als Korrespondentin viele Jahre lang aus dem Kaukasus, dem mittleren Osten und zuletzt aus der Ukraine berichtet. Für Coda ist sie bereits lange vor dem Launch der Plattform mit dem „Best Startups for News“-Preis des Global Editors Network bedacht worden. Im Herbst soll Coda starten, beim Scoopcamp in Hamburg stellt Antelava das Projekt vor. Als Medienpartner sprach VOCER vorab mit der Journalistin.

VOCER: Natalia, ihr wollt bei Coda über Krisen berichten. Wie definiert ihr eine Krise?

Natalia Antelava: Für unseren Prototypen wollen wir uns mit den Problemen der LGBT-Szene in Russland auseinandersetzen. Die Mainstreammedien berichten über die russische Anti-Schwulen-Propaganda, wenn das Thema in den üblichen Nachrichtenstrom rast, zum Beispiel die Demos für die Schwulenrechte während der Olympischen Winterspiele in Sotschi oder wenn der Kreml Facebook nach vermeintlich anstößigen Emojis durchsucht. Manche dieser Berichte sind sehr ausführlich. Aber sie sind meist sehr Nachrichten-getrieben und diese Geschichten schaffen es meist nicht, die historischen, ökonomischen und politischen Kräfte einzufangen, die die wachsende Homophobie in Russland erklären. Dabei werden oft auch nicht die täglichen Erlebnisse von schwulen und lesbischen Menschen betrachtet. Das sind die Lücken, die wir füllen wollen.

Lass uns kurz in die Zukunft blicken: Dieser Prototyp geht im Herbst online. Wie sieht nach diesem Aufschlag eine typische Coda-Story aus?

Eine nukleare Katastrophe in Japan, der Krieg in Libyen, in Syrien, in der Ukraine – das sind unsere Themen. Wir werden aber auch die Finanz- und Bankenkrise angehen. Die Flüchtlingsthematik. Wir haben auch schon darüber nachgedacht, dem Rechtsruck der Politik in Europa nachzuspüren. Krisen, die wir bei Coda angehen, müssen nicht global sein, sie können auch lokal sein. Jedes komplexe Problem, das ausführlich erklärt werden muss, ist ein Thema für Coda.

Was passt nicht zu euch?

Wir werden uns weniger mit Wahlen beschäftigen, wir werden auch nicht notwendigerweise jede Naturkatastrophe abdecken – es sei denn, sie haben langanhaltende Konsequenzen. Die Mainstreammedien machen schon einen sehr guten Job.

Dennoch habt ihr genug Lücken gesehen, die ihr nun besetzen wollt. Welche fehlende Berichterstattung hat euch so sehr aufgeregt, dass ihr Coda gründen musstet?

Um ehrlich zu sein, habe ich vor allem über unterschiedliche Ansätze nachgedacht, um die Frustration über mein eigenes Versagen zu verarbeiten. Ich habe selbst Geschichten nicht lange genug verfolgt, weil sie plötzlich aufploppten und dann wieder im Nachrichtenstrom verschwanden.

Gab es da eine Geschichte, die dir besonders in Erinnerung geblieben ist?

Ja, ich erinnere mich an einen Moment am Flughafen Sanaa. Ich war für einen Monat für die BBC im Jemen gewesen und wusste, dass meine Geschichte lange nicht zu Ende erzählt war. Aber ich wurde abgezogen, und meine Redakteure in London konnten mich nicht ersetzen, also wurde nicht weiter berichtet. Es war keine bewusste Entscheidung, diese Story im Jemen fallen zu lassen, aber ich wusste, ohne einen Korrespondenten vor Ort und die Beziehungspflege würde es nicht weitergehen. Nach diesem Trip habe ich aktiv angefangen, Ideen zu entwickeln, wie man große Krisen über längere Zeit begleiten kann, und mit der Zeit und nach langen Gesprächen mit Kollegen ist Coda entstanden. Die finale Idee fügt sich sehr stark ins digitale Zeitalter ein, gleichzeitig erlauben die digitalen Plattformen es uns, in den altmodischen, fokussierten Journalismus zurückzukehren.

Wie viele Leute werdet ihr auf einzelne Themen ansetzen, wie organisiert ihr die Teams?

Unterschiedlich. Für unseren kleinen Prototypen haben wir sechs Leute, die sich auf die Recherche konzentrieren. Hinzu kommt ein Technikteam. Das Rechercheteam werden wir wahrscheinlich auf sieben oder acht Personen aufstocken, sobald wir live gehen. Später wollen wir mit zehn bis zwölf weiteren Leuten als Unterstützung zusammenarbeiten.

Dieses Team sitzt nicht an einem Ort, sondern arbeitet verstreut. Wie gelingt euch die Kommunikation?

Slack, die ganze Zeit! Es hat unsere Kommunikation total verändert und unsere Leben entschieden leichter gemacht. Wir haben ab und an Telefonkonferenzen, aber der Großteil unseres Austauschs läuft über Slack sehr gut.

Ihr nehmt jede Krise ein Jahr lang in den Blick. Woher kommt diese Deadline?

Naja, du weißt ja, wie Journalisten sind – wir würden ja gar nicht ohne Deadline funktionieren. (lacht) Aber es gibt natürlich auch einen ernsten Grund dafür. Ein Jahr ist zwar sehr willkürlich, aber es muss an einem gewissen Punkt redaktionelle Begrenzungen geben – wie es auch die maximale Zeichen- und Wortzahl gibt. Wir finden, ein Jahr ist ein fairer Zeitraum, um sich einem komplexen Thema ausführlich zu widmen, bevor man weiterziehen und die nächste lohnende Geschichte in den Blick nehmen kann. Wir wollen keine lokale Agentur werden, die sich auf bestimmte Orte spezialisiert – unser Ziel ist es, redaktionellen Fokus, journalistische Exzellenz und gutes Storytelling zu liefern.

Journalisten denken im Moment angestrengt darüber nach, wie digitales Storytelling aussehen könnte. Aber interessiert das das Publikum überhaupt?

Ich liebe diese Frage, und wir haben schon sehr ausführlich darüber diskutiert. Wir sind entschieden nicht der Meinung, dass man immer alle Medien vermischen muss. Wir sind sehr puristisch, Textstücke werden ausschließlich aus Text bestehen, Videos werden als alleinstehende Videos funktionieren. Bei Coda wird’s keine Multimedia-Spektakel geben.

Das klingt so, als würde ein Aber folgen …

… aber jede Coda, jede lange Krisen-Berichterstattung, wird unterschiedliche Formate enthalten.

Wie kann man sich das vorstellen?

Wir werden Video-Elemente haben, wir werden Fotos zeigen, wir werden lange Recherchen und kurze Meldungen haben. Und unser Kurationstool „Currents“ ist ein wenig unsere Storytelling-Neuerfindung. „Currents“ versammelt all diese Formate. Jedes Stück Inhalt, egal welchen Formats, wird in einem oder mehreren „Currents“ gleichzeitig leben, und der Blick auf alle diese „Currents“ gleichzeitig wird es dem Publikum erlauben, aus der Vogelperspektive auf jede Krise zu blicken. Aber sobald du auf eine spezielle Story klickst, wird sie in einem Format sein, das du entweder lesen, sehen oder dir anhören musst. Das digitale Zeitalter gibt uns großartige Möglichkeiten, flexibel zu sein. Wir lassen die Story das Format bestimmen und pressen Geschichten nicht mehr in ein bestimmtes Format.