10 Dinge, die wir in drei Jahren Crowdspondent gelernt haben
Crowdspondent wird drei Jahre alt!
In dieser Zeit ist viel passiert und wir haben einiges gelernt. Unter anderem das:
1) Wenn du ein Projekt an den Start bringst und das Projekt geheim halten willst, schicke es nicht an einen befreundeten Journalisten mit großer Followerzahl zum Probelesen. Er könnte es vor Begeisterung twittern und dann bist du in den 24 Stunden, in denen du dein Baby eigentlich in Ruhe auf die Welt bringen wolltest, schon damit beschäftigt, Leute zu beschwichtigen, die sich über noch vorhandene kleine Fehler aufregen
2) Wenn du die Idee hast, dass du in den letzten drei Monaten Journalistenschulzeit noch mal schnell nach Brasilien ausbüchst, um gemeinsam mit Lesern, die es noch nicht gibt, Journalismus zu machen: Zieh in Betracht, dass du in drei Jahren immer noch versuchen wirst, diese Idee zu perfektionieren.
3) Falls du etwas mit jemand anderem im Team aufbauen willst (wozu wir dringend raten, denn zwei Journalisten sind schlauer als einer): Erfinde dein eigenes Assessment-Center! Wir haben vor der Gründung von Crowdspondent einen Test gemacht: Wir sind zusammen zehn Tage lang für einen Roadtrip nach Polen gereist. Ohne zu wissen, wo wir hinfahren, wo wir schlafen, was wir machen. Danach wussten wir: Gutes Team.
4) Die meisten Journalisten sind konservativ. Studien zufolge sind deutsche Journalisten eher links eingestellt. Trotzdem sind viele – so unsere persönliche Erfahrung – ziemlich konservativ, wenn es um das Bewahren ihrer eigenen Berufswelt geht: Dieses Internet, hin oder her, sie wollen den Journalismus von früher konservieren, auch wenn viele Leser inzwischen keine Lust mehr auf Konservenobst haben. Geh also nicht davon aus, dass dir deine Kollegen jubelnd um den Hals fallen, wenn du versuchst, ihnen frisches Lesefutter anzudrehen. Sie werden dich erst mal darauf hinweisen, dass deine Tomate an der einen Stelle noch nicht ganz reif ist und die Banane eine braune Delle hat. Und vermutlich haben sie damit sogar Recht, was aber kein Grund ist, gleich wieder zur Konserve zu greifen.
5) Schubs Kritiker nicht weg, sondern hör ihnen zu, …
Wenn andere Journalisten dein Herzblut-Projekt öffentlich kritisieren: Halte dich nicht an Kleinigkeiten auf, die in den Texten deiner Kollegen nicht korrekt sind (dein Alter, dein Name, deine Finanzierungsmethode, erst wenn du selbst zum Gegenstand der Berichterstattung wirst, merkst du, warum sich Leser so oft aufregen …). Frag dich lieber, in welchen Punkten der Kritiker recht haben könnte. Ja, die letzte Deutschland-Recherchetour war vielleicht ein wenig zu oberflächlich. Ja, du hättest vor dem Abflug noch besser japanisch lernen können. Ja, vielleicht hast du an der einen Stelle zu viel über dich geschrieben und zu wenig über den Protagonisten und das war doof. Ruf die Leute an, red mit ihnen, frag sie, wie es aus ihrer Sicht besser gehen würde. Und wenn der SPIEGEL über dich schreibt: „Sie haben ihr Glück gefunden. Es ist das Glück der Nische. Aber es ist Glück.“ Dann ärgere dich nicht über das Wort Nische.
6) … aber sprich nicht nur mit Kollegen. Nach der drölfundsechzigsten Medienkonferenz, auf der über die Zukunft des Journalismus geweint wird, ist es dann aber auch mal wieder Zeit, rauszugehen und mit echten Menschen zu sprechen. Also mit Leuten, die nicht wissen, was turi und Meedia sind, die Snowfall einfach nur für das englische Wort für Schneefall halten und die Snapchat nicht für Journalismus, sondern für Sauffotos von letzter Nacht benutzen. Von ihnen kannst du am meisten darüber lernen, was du besser machen kannst und wie du sie überhaupt noch erreichst.
7) Crowdspondent war immer auch eine Art Internationale Konfliktforschung, denn wir sind monatelang zusammen auf Recherchereisen in der ganzen Welt unterwegs. Auf diesen häufig auch körperlich strapaziösen Touren haben wir gelernt, dass sich fast alle Konflikte beheben lassen, indem sich die Konfliktpartner zwei Fragen stellen: „Genug gegessen?“ und „Genug geschlafen?“ Wenn diese Fragen von beiden Konfliktteilnehmern mit „Ja“ beantwortet werden, gibt es ein ernsthaftes Problem. Ansonsten: Essen, schlafen, dann erst wieder über den Filmschnitt oder die Formulierung des Textes diskutieren.
8) Vertrau der Crowd. Wir waren oft in Situationen, in denen wir nicht weiterwussten: Der Blog zerschossen, das Recherchethema weg, der Protagonist abgesprungen. Wir konnten uns aber immer auf unsere Leser verlassen. Auch wenn es sich natürlich erst mal nicht so toll anfühlt zu gestehen, dass man Hilfe braucht: Eine gut gepflegte Community hat für sowas Verständnis und oft schneller bessere Ideen als du. Sie findet den Ansprechpartner im Sperrgebiet von Fukushima, sie kann dich in die Favelas von Rio de Janeiro führen oder in die Nürnberger Psychiatrie. Weil sie besseren Kontakte hat.
9) Größe ist nicht alles. 100 000 Facebook-Likes sind nichts wert, wenn es sich um einen eingekauften Haufen von Fake-Profilen handelt. Geile Überschriften, die massenhaft Leute auf deine Seite ziehen, sind ebenfalls null wert, wenn deine Leser danach enttäuscht wieder abspringen. Wir haben gelernt, dass wir uns über ein paar tausend Leute, die mit Interesse, schlauen Anmerkungen und ja, auch fundierter Kritik, 47 Minuten Japan-Reportage anschauen mehr freuen, als über Hunderttausende, die sich auf der Suche nach Fastfood-Journalismus in eine Clickbaitfalle begebem haben. Wir haben nie einen Cent in Werbung gesteckt oder in gesponserte Postings. Unsere kleine Community ist mit viel Reporterschweiß über Jahre erarbeitet und verzeiht es uns auch, wenn sie mal 73 Tage nichts von uns hören, weil wir über einen Text länger nachdenken müssen.
10) Wenn du je ein journalistisches Crowdfunding durchziehen solltest: Überleg dir genau, welche Summe du nimmst. Wir haben im vergangenen Jahr gelernt, dass wir mit 5000 Euro Recherchekosten einfach nicht hinkommen, wenn wir ein passables Ergebnis erzielen wollen. Gerade im vergangenen Jahr haben wir gemerkt, dass uns Unabhängigkeit wichtiger ist als Geld, aber dass wir Geld brauchen, um arbeiten zu können. Wir haben das daran gemerkt, dass wir die von unseren Lesern gewünschten hintergründigen und politischen Berichte aus Japan kaum an andere Medien verkaufen konnten, weil diese Medien sich eher „verrückte Manga-Geschichten“ o.ä. wünschten. Wir mussten also eigenes Geld in die Aufbereitung der Recherche-Ergebnisse stecken. Da wir neben Crowdspondent recht spießig im klassischen Journalismus arbeiten, konnten wir uns das einmal leisten, aber das können wir nicht jedes Jahr. Sonst ist unsere nächste Publikation ein Schuldnerberatungs-Selbstversuch mit Peter Zwegat. Deshalb versuchen wir es diesmal eine Nummer größer: Wir wollen zusammen mit der Crowd zehn politikjournalistische Videos konzipieren und umsetzen und brauchen dafür 10 000 Euro. Und wenn das mit dem Geld einsammeln nicht klappt? Tja, dann müssen wir noch mal neu umdenken, mit den Lesern und Zuschauerinnen besprechen, was schief lief, alles umschmeißen und wieder von vorn beginnen. So wie wir das in den letzten Jahren oft getan haben, wenn etwas nicht funktioniert hat. Hier geht’s zu unserer aktuellen Kampagne.