Dirk von Gehlen: Kultur wird Software
Wie verändert die Digitalisierung Kultur? Eine Antwort darauf gibt der Journalist Dirk von Gehlen in seinem Buch „Eine neue Version ist verfügbar„. Dabei ließ von Gehlen das Buch selbst zu einem Experiment werden, indem er es nicht nur vorab von Lesern finanzieren ließ, sondern sie auch in die Entstehung mit einbezog. Damit erprobte er die in seinem Buch aufgestellte These, dass der unkopierbare Moment der erlebten Teilnahme der wahre Wert digitaler Kulturprodukte sei. In diesen Tagen erschien das Buch in einer aktuellen Version auch für die breite Öffentlichkeit im Metrolit-Verlag. Dirk von Gehlen leitet bei der Süddeutschen Zeitung die Abteilung „Social Media/Innovation“ und beschäftigt sich schon seit längerem mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf unsere Gesellschaft.
VOCER: Warum brannte Ihnen die Frage, wie die Digitalisierung Kultur verändert, so sehr unter den Nägeln, dass Sie darüber ein Buch geschrieben haben?
Dirk von Gehlen: Ich bin Journalist und beobachte seit ein paar Jahren, wie sich Dinge verändern, von denen man dachte, dass sie Gewissheiten sind. Deswegen habe ich schon vor einiger Zeit angefangen, mich mit dem Thema Urheberrecht und Copyright zu beschäftigen. Ich habe 2011 bei Suhrkamp ein Buch veröffentlicht, das heißt „Mashup. Lob der Kopie“ und das neue Buchexperiement ist die daran anknüpfende Fortentwicklung. „Mashup“ beschreibt, wie die digitale Kopie uns vor neue Herausforderungen stellt und „Eine neue Vision ist verfügbar“ will darauf eine Antwort versuchen.
Welche Antwort haben Sie gefunden?
Wenn wir Inhalte kostenfrei duplizieren können – und das ist die Möglichkeit, die die digitale Kopie uns erstmals in der Menschheitsgeschichte schenkt – dann ist der Inhalt nicht mehr das Einzige, was den Wert in sich trägt. Deshalb müssen wir uns fragen, wo Wert sonst noch herkommen kann. Zum Beispiel in der Entstehung von Inhalten. Das kennen wir auch von der Faitrade oder Biobewegung: Der Produktionsprozess hebt den Wert des Produktes. Ich habe mich gefragt, ob das nicht auch bei Kunst und Kultur geht. Dabei bin ich darauf gestoßen, dass es bei Software schon lange so ist. Deshalb glaube ich, dass Kultur dadurch, dass sie digitalisiert wird, den gleichen Grundbedingungen gehorcht wie Software. Sie ist in Versionen verfügbar.
Foto: Gerald von Foris
In Ihrem Buch taucht in diesem Zusammenhang immer wieder der Begriff „Verflüssigung“ auf. Was verstehen Sie darunter?
Die Verflüssigung kann man sich am besten vor Augen führen, wenn man Wikipedia und den klassischen Brockhaus anschaut. Der Brockhaus ist ein festes, unveränderliches Werkstück auf Papier. Den kann man nicht mehr ändern, vielleicht in der nächsten Auflage, aber nicht den, der bei mir im Regal steht. Ein Wikipedia-Artikel hingegen liegt in Versionen vor. Ich kann die Vorgeschichte dieses Artikels nachvollziehen und ich kann auch eine neue ergänzen. Ich glaube, das ist die wichtigste klimatische Veränderung für Kultur: Sie ist nicht länger abgeschlossen und unveränderlich, sondern digitale Kultur ist immer auch Anschlusskultur, die veränderlich bleibt. Das nenne ich Verflüssigung. Die Grundkomponente eines einmal fertiggestellten Lexikonartikels ist das Feste, das Unveränderliche und die Grundkomponente eines digitalen Produktes, einer Software, ist die Verflüssigung, die Veränderbarkeit.
Was folgt daraus für die Kulturproduktion?
Ich glaube, dass man diese Form der Versionierung nicht erst nach Veröffentlichung eines fertigen Werkstücks erleben kann, sondern eigentlich schon im Entstehen – in der Art und Weise, wie das Produkt sich immer weiter verfestigt bis zu einer Veröffentlichungsversion. Wenn ich dabei gewesen wäre, wie Nirvana „Smells Like Teen Spirit“ eingespielt hätten, dann wäre das etwas, was ich heute jedem erzählen würde. Das ist etwas, dass ich als Fan wertschätze, was mir ein besonderes Erlebnis bietet. Und dafür bin ich bereit, Geld zu zahlen. Diese Frage war mein Ansatzpunkt: Was schätzen Menschen wert? Und da, wo Wertschätzung ist, ist auch Wertschöpfung möglich. Das liegt in dem Unkopierbaren eines solchen Moments, der heute durch die Digitalisierung verfügbar ist.
Bei Ihrem Buchexperiment haben Sie diese Idee auch gleich in die Tat umgesetzt. Wie schwer war es, ein Publikum zu finden?
Ich habe den Lesern eine Grundidee des Buches gegeben und dabei ist schon zu Beginn ein ganz interessanter Aspekt aufgefallen: Ich habe viele Interviews zu dem Buch gegeben bevor es überhaupt existiert hat. Die These hat ausgereicht und viele brauchten das Buch gar nicht, um darüber ein Interview zu führen. Das Format Buch ist schon so fest eingebrannt, dass die Vorstellung dessen völlig ausreicht. Ich könnte diese Thesen einfach so behaupten, aber dadurch, dass sie als Buch vorstellbar sind, werden sie stärker.
Wird das Buch gerade deshalb nicht aussterben, sondern einen Wert als Werk behalten?
Ich bin fest davon überzeugt, dass das Buch als Kategorie niemals aussterben wird. Es wird sich wie jegliche Form von Kultur verändern. Wir stehen am Anfang dieses Prozesses. Das E-Book ist eigentlich eine Adaption des Papierbuches auf einem elektronischen Verbreitungsweg. Ich denke, dass es nicht nur um eine neue Verbreitung geht, sondern dass der Inhalt, also der Werkstoff selbst, wie Eis in der Sonne schmilzt, sich verändert, verflüssigt, in einen anderen Aggregatzustand übergeht. Das heißt nicht, dass er verschwindet, sondern dass er eine andere Form annimmt und wir genauer hingucken müssen. Und wir kommen mit dem neuen Aggregatzustand einfach noch nicht klar und verstehen nicht, was es bedeutet, wenn Inhalte digitalisiert werden.
Wie verändern sich damit die klassischen Rollen von Autor und Verlag?
Wir müssen den Dialog mit dem Leser viel stärker suchen. Das Internet ist ein Netz. Das ist etwas anderes als eine Rampe. Es geht nicht darum, dass wir Inhalte auf dem Leser abwerfen, sondern dass wir mit ihm vernetzt sind. Für Verlage, die ihre Qualität darin sehen, dass sie Papier bedrucken können, wird es schwierig. Verlage, die sich als Partner der Autoren verstehen, die ihre Auswahlkompetenz in den Mittelpunkt stellen, die werden eine sehr gute Zukunft haben. Ich habe dieses Experiment allein unternommen, ohne Partner, ohne Verlag im Hintergrund. Es war unfassbar anstrengend und ich würde es so nicht noch einmal machen wollen. Das heißt, ich würde auf jeden Fall immer auf die Suche nach einem Verlag gehen, der als Partner mit mir zusammenarbeitet.
Sie haben das Buch mit Crowdfunding finanziert. Warum?
Als ich letztes Jahr mit dem Projekt begonnen habe, war der Hype um Crowdfunding noch nicht so groß. Ich wollte auch nicht unbedingt Crowdfunding machen, im Gegenteil – mir war das immer suspekt. Es wirkte für mich immer so, dass man das eben macht, wenn man keinen Verlag findet. Ich bin dann durch die These meines Buches darauf gekommen, dass es etwas anderes ist. Crowdfunding ist eine Form der Liebhaberkulturfinanzierung. Es kann dazu führen, dass Produkte am Ende in einer sehr viel höheren Qualität erstellt werden können, als für einen Massenmarkt.
Mit diesem Video warb Dirk von Gehlen auf startnext.de für sein Buchexperiment.
Innerhalb weniger Tage war Ihr Buch finanziert. Nicht jedem gelingt das. Verraten Sie uns Ihr Erfolgsrezept?
Der wichtigste Punkt ist, dass Crowdfunding scheitern kann. Aber das ist auch ein Hinwies darauf, dass es funktioniert. Wenn alle Projekte finanziert werden, wäre irgendetwas falsch. Der besondere Reiz des Crowdfundings liegt darin, dass ich als Konsument eine Rolle spiele – was bei klassischen Kulturprodukten oft nicht der Fall ist. Die Frage ist, ob einem Künstler das gelingt: Ein Projekt so auf die Beine zu stellen, dass er seinem Publikum das Gefühl gibt, dass es eine Rolle spielt. Projekte scheitern, wenn Künstler sich keine Gedanken darüber machen, sondern denken, das ist eine leichte Art und Weise Geld zu verdienen. Das ist es definitiv nicht. Es ist extrem arbeitsintensiv. Man muss jeden Tag neue Geschichten erzählen, Fragen beantworten und das Gespräch suchen. Es ist aber auch total beglückend, wenn man sieht, dass es Leute gibt, die sich nicht nur für das interessieren, was man tut, sondern auch dafür bereit sind, Geld auszugeben. Das ist wohl das schönste Kompliment für einen Autoren.
In diesen Tagen findet wie schon seit vielen Jahrzehnten die Frankfurter Buchmesse statt. Wie zeitgemäß ist so eine papierne Veranstaltung in unserer digitalen Welt?
Die Buchmesse ist schon sehr digital. Es gibt einen Hashtag, die Buchmesse ist im Netz vertreten, sie ist ein virtueller Raum geworden. Den realen Raum dazu gibt es in Frankfurt in den Messehallen. Faszinierend finde ich, wie die Buchbranche gerade versucht, die Frage zu beantworten, was ein Buch ist. Man denkt, dass eine Messe, die Buchmesse heißt, darauf eine Antwort hat. Für mich sind Bücher vor allem Dialog. Bücher sind Salons der Gegenwart, in denen Menschen miteinander in Austausch treten können. Ich habe das Gefühl, dass die Buchbranche in einem extremen Zweifel- und Findungsprozess ist. Dass sie diese Debatten führt, finde ich sehr positiv. Es ist aber auch deprimierend, dass viel geredet, selten aber etwas ausprobiert wird. In Deutschland fehlt oft der Mut, ein Experiment zu unternehmen, weil man nicht so gern öffentlich scheitern möchte, da es als Makel gesehen wird.
Was wünschen Sie sich von den Verlagen?
Auch die amerikanische Startup-Szene weiß nicht, wie unsere digitale Zukunft aussieht. Trotzdem rennen sie erst einmal los und probieren etwas aus. Man kann einen neuen Weg nur finden, wenn man losgeht und dazu gehört auch, dass man mal hinfällt und wieder aufstehen muss. Scheitern ist das Beste, was einem passieren kann, weil man daraus lernt.
In der Self-Publishing Area der Buchmesse (Halle 3.1 G 65) spricht Dirk von Gehlen am Mittwoch, 9.Oktober 2013, von 16.15 bis 16.45 Uhr über sein Buch-Experiment „Eine neue Version ist verfügbar“. Außerdem ist er am Donnerstag, 10. Oktober 2013, um 12 Uhr in der Halle 4.1. am Stand G35/36 des Metrolit-Verlages anzutreffen.