Andreas Hummelmeier: „Man kann sich nicht vor Userkommentaren drücken“
Stephan Weichert: Herr Hummelmeier, was bedeutet die größere Teilhabe des Publikums im Digitalen für Sie persönlich und für Ihre ehemalige Redaktion?
Andreas Hummelmeier: Wir kriegen in wenigen Minuten mit, ob ein Thema großes Interesse findet, ob die Art und Weise, wie wir etwas darstellen, akzeptiert wird oder ob es daran Kritik gibt. Insofern ist dieses Feedback für uns Teil des Alltags geworden. Ich persönlich empfinde das als Bereicherung, weil ich denke, dass jeder Journalist es schätzen sollte, wenn er gesagt bekommt: „Interessant zu lesen“ – oder auch wenn er gesagt bekommt: „Den Ansatz dieses Beitrags verstehe ich überhaupt nicht“. All das ergibt ein unmittelbares Feedback in einer Größenordnung, für die wir extra Kollegen brauchen, die sich ausschließlich damit beschäftigen.
Wie würden Sie den Grad der Beteiligung Ihrer User beschreiben? Haben Sie ein aktives Publikum?
Ich denke, wir haben ein aktives und kritisches Publikum. Die meisten unserer User sind regelmäßige Konsumenten von Nachrichten. Und wir haben eine große Gemeinde von regelmäßigen Kommentatoren, die immer wieder einzelne Themen befeuern, die sie besonders interessieren – beispielsweise Syrien oder die Homo-Ehe und ganz besonders intensiv die Ukraine-Krise. Es gibt aber auch Interessengruppen, die regelmäßig reagieren, zum Beispiel Anhänger oder Funktionäre von Parteien.
Warum lassen sich Journalisten überhaupt auf diese Publikumsbeteiligung ein?
Darauf habe ich eine zweigeteilte Antwort: Das Berufsbild des Journalisten ändert sich gerade dramatisch. Der alte Gatekeeper kriegt eine neue Funktion. Natürlich bedarf es weiterhin dieser Gatekeeper-Funktion, einfach weil die Masse an Nachrichten viel größer geworden ist. Ich glaube schon, dass es auch in Zukunft Instanzen geben muss, die das in irgendeiner Weise organisieren. Diese Instanzen müssen sich aber zunehmend legitimieren. Die Nutzer sind kritischer geworden und auch die Wege zu reagieren, haben sich verändert. Journalisten können sich heute nicht mehr in „splendid isolation“ zurückziehen und sagen: „Ich erkläre euch die Welt und ihr habt es so zu akzeptieren, wie ich das sehe.“ Das gilt speziell für die Öffentlich-Rechtlichen. Ich glaube, dass eine Institution, die von der Allgemeinheit finanziert wird, ganz besonders in der Pflicht ist, transparent zu arbeiten, sich der Kritik zu stellen und die Möglichkeit zum Feedback zu geben.
Auf welchen Ebenen kann denn diese Partizipation auch nach Ihrer Erfahrung einen qualitativen Mehrwert bringen?
Es gibt natürlich ein Grundrauschen, das nicht unbedingt auf besonders hohem Niveau stattfindet. Es gibt aber auch User, die uns auf Fehler hinweisen und auf neue Aspekte von Themen hinweisen. Abgesehen von solchen qualitativen Ansprüchen halte ich die Möglichkeit des Austausches für immanent für die digitalen Medien. Der Austausch, die Interaktion im Netz gehört einfach dazu so wie früher das tägliche Gespräch in der Pausenhalle, im Bus oder bei der Zigarette draußen vor Tür. Medien müssen einfach mitmachen – und Öffentlich-Rechtliche erst recht.
Es gibt Momente, in denen die Nutzereinbindung auch kontraproduktiv werden kann, im schlimmsten Fall sogar kriminell. Haben Sie dafür ein Beispiel?
Ja, wir haben das relativ häufig. Wir haben das fast immer bei unserer Israel-Berichterstattung oder bei der Diskussion um die Homo-Ehe. Ich habe den Eindruck, dass die Themen „Gleichstellung Mann und Frau“, „Eherecht“ und ähnliches besonders häufig zu emotionalen Reaktionen führen. Dass wir die Kommentarfunktion abschalten, ist bei uns aber die große Ausnahme. Stattdessen gibt es bei uns die Regelung, dass Kommentare vorher freigeschaltet werden müssen. Es gibt eine Netiquette, an die die User sich zu halten haben. Pöbeleien, Gewaltverherrlichung oder Pornografie schalten wir nicht frei.
Beobachten Sie auch Hetzjagden und Shitstorms?
Um mal mit etwas Positivem zu beginnen: Wir hatten vor einiger Zeit einen Candystorm. Da ging es um den US-Soldaten Bradley Manning, der bzw. die sich jetzt Chelsea Manning nennt und als Frau lebt. Wir haben diese Person konsequent als Chelsea Manning benannt. Und da haben wir viele sehr positive Reaktionen zurückbekommen. Es gibt aber auch mit unterschiedlicher Heftigkeit geführte ideologische Auseinandersetzungen. Es gibt beispielsweise eine Seite im Netz, auf der es eine Rubrik mit abgelehnten Tagesschau.de-Userkommentaren zum Thema Syrien gibt. Dort veröffentlichen Leute, die die Assad-Politik für richtig halten, ihre Kommentare, unterstellen uns Zensur und versuchen, der „Tagesschau“ eine antisyrische Haltung nachzuweisen. Das geht auch teilweise ins Persönliche. Ich habe von einem der Herren zu Weihnachten ein speziell für mich geschriebenes Gedicht bekommen, das als Illustration einen Grabstein hatte. Auf einer Seite gab es eine Diskussion, ob man mich anzeigen sollte wegen „Aufstachelns zum Angriffskrieg“. Bislang ist es aber nur bei diesen verbalen Angriffen geblieben und ich persönlich kann das aushalten.
Wird der Dialog in der Redaktion eher als Bereicherung oder als lästig empfunden?
Es ist zunächst mit Arbeit verbunden. Wir haben zusätzlichen Personalbedarf, um das zu machen, aber aus meiner Sicht ist das ohne Alternative. „Splendid isolation“ funktioniert nicht mehr. Man kann sich nicht vor Userkommentaren drücken. Wenn wir die Kommentarfunktion abschalten würden, würden wir eben Mails bekommen oder vielleicht sogar ganz altmodisch Briefe. Wir würden aber vor allen Dingen an Akzeptanz verlieren, weil der Eindruck entstünde, wir kümmern uns nicht um das, was die Menschen uns sagen wollen.
Wird das Publikum je auf Augenhöhe mit Journalisten agieren können, im Sinne von „Journalismus machen“?
Da bin ich skeptisch. Es ist jedenfalls mein Eindruck, dass die Rückmeldungen vor allem Meinungen enthalten. Und dementsprechend ist für eine Nachrichtenseite mit dem Selbstverständnis, Fakten von Meinung zu trennen, die Ressource eine sehr übersichtliche. Ich glaube, dass es vielleicht Anregungen oder Themenhinweise gibt, auch einen Einfluss auf die Gewichtung von Themen. Aber dass wir unmittelbar Inhalte daraus nutzen werden, das wird sicherlich die große Ausnahme sein.
Was glauben Sie, wie sich die Rolle von Publikum und Journalisten in zehn Jahren ändern werden?
Ich habe gelernt, mit Vorhersagen ganz vorsichtig zu sein. Manchmal hilft es, wenn man für den Blick voraus auch den Blick zurück macht. Mein Arbeitsalltag hat sich in den 20 Jahren fundamental verändert. Ich glaube, dass es diese Veränderungen weiter geben wird und dass es eine Bereitschaft bei uns geben muss, sich zu verändern. Ich beobachte, dass es ein ernstzunehmendes Bedürfnis bei Usern gibt, zu reagieren und ernst genommen zu werden. Aber es gibt auch nach wie vor ein starkes Interesse, zusammengefasst auf einer Seite oder in einer Sendung zu erfahren, was eigentlich los ist in der Welt. Und das ist im Moment noch unser Hauptaugenmerk.
Dieses Interview ist für die Studie „Digitaler Journalismus. Dynamik – Teilhabe – Technik“ geführt worden. Sie ist von der Landesanstalt für Medien (LfM) in Nordrhein-Westfalen in Auftrag gegeben worden und leistet eine wissenschaftliche Positionsbestimmung neuer kommunikativer Leistungen, identifiziert Entwicklungspotenziale insbesondere bei der Einbindung des Publikums und technischer Innovationen im Journalismus, nimmt aber auch Herausforderungen und Risiken in den Blick. Die Autoren sind Volker Lilienthal, Stephan Weichert, Dennis Reineck, Annika Sehl und Silvia Worm.