Aufmerksamkeit ist die Leitwährung
Nach Auskunft des Handbuches „Journalismus und Medien“ ist journalistische Recherche ein professionelles Verfahren, mit dem Aussagen über Vorgänge, beschafft, geprüft und beurteilt werden. Die Recherche setzt eine aktive Rolle des Journalisten voraus. Die Entgegennahme und redaktionelle Bearbeitung von Texten fällt nicht unter Recherche.
Den eigenen Ergebnissen misstrauen, Fakten bewerten, jede Quelle mehrmals auf ihre Glaubwürdigkeit prüfen. Das gehört zum Recherchejournalismus. „If your mother says, she loves you, check it out“, verlangte der Lokalchef der Zeitung „Chicago Tribune“ von seinen Mitarbeitern. Er hatte den Spruch auf seinem Schreibtisch.
Hass, Wut und Spott aus dem Netz
Die Zeiten haben sich geändert, nicht nur für die in wirtschaftliche Not geratene Chicagoer Zeitung. Anfang des Jahres ist das Wort „Shitstorm“ zum Anglizismus des Jahres gewählt worden. Der Begriff, so die Jury, fülle „eine Lücke im deutschen Wortschatz, die sich durch Veränderungen in der öffentlichen Diskussionskultur aufgetan hat. Diese neue Art des Protests unterscheidet sich in Ausmaß und Art deutlich von allem, was man in früheren Zeiten als Reaktion auf eine Äußerung oder Handlung erwarten konnte“. Shitstorm trifft die Lage: Wem die Scheiße um die Ohren fliegt, dem vergehen Hören und Sehen. Der verliert die Orientierung. Es gibt, vor allem im Internet, den Hass, die Wut, den Spott. Es gibt vor allem im Netz gossenhafte Wortprügeleien, die eine Schar meist anonymer Blogger mit Diskussion und Freiheit verwechselt.
Der klassische alte Skandal, der bei all dem Shit immer mehr in Vergessenheit gerät, ging noch auf das altgriechische scandalon zurück: Das Wort bedeutete ursprünglich das Stellhölzchen einer Tierfalle, welche zuklappt, wenn das Hölzchen berührt wird. Der Unglückliche saß dann in der Falle und wurde vom Publikum bestaunt. Das Opfer wurde so zum negativen Vorbild, zum „Unwunschbild“, wie der Philosoph Ernst Bloch einmal geschrieben hat. Voraussetzung für einen ordentlichen Skandal war es allerdings, dass es dem Skandalierer überhaupt gelang, ein Ereignis als Skandal zu definieren.
„Was dem einen ein Skandal, ist dem anderen vielleicht eine ephemere Bagatelle, dem Dritten eine durchaus korrekte Handlungsweise und dem Vierten womöglich gar schon der beifallheischende Nachweis besonderer Befähigungen“, befand der Soziologe Ronald Hitzler in den achtziger Jahren in einem vielbeachteten Aufsatz.
Meist definieren Medien, was ein Skandal wird oder eine Bagatelle bleibt. Für den Boulevard beispielsweise kann jedes Verhalten, das nicht ganz der Norm entspricht, ein Skandal sein. Nicht selten haben die Skandalierer eine Gemeinde, die ihnen gerne folgt. Oft will das Publikum durch die Entdeckung eines angeblich neuen Sachverhalts nur im eigenen Vorurteil bestätigt werden.
Bei der Frage, Skandal oder kein Skandal, kommt auch auf den Zeitpunkt an, und natürlich: auf die Aura. Die römische Kaiserin Messalina kopulierte öffentlich im Wettstreit mit einer bekannten Kurtisane mit 25 Männern. Das hat ihrem Image so wenig geschadet, wie dem FC-Bayern-Ehrenpräsidenten Franz Beckenbauer sein unehelich und noch dazu auf der Club-Weihnachtsfeier gezeugtes Kind. Die Frage, ob es Aura gibt, lässt sich an einer Messaliana und erst recht an einem Beckenbauer zweifelsfrei mit Ja beantworten.
Verschleiern, um Recht zu behalten
Das Publikum und auch viele Journalisten leben gut mit der Legende, dass der frühere Kieler CDU-Ministerpräsident Uwe Barschel in den achtziger Jahren mit den perfidesten Methoden seine Gegner ausschalten wollte. Er war für viele Leute, nur Täter, kein bisschen Opfer. Mitte der neunziger Jahre fand ein neuer Untersuchungsausschuss heraus, dass Barschel durchaus auch Täter, aber viel mehr noch Opfer der Machenschaften seines Medienreferenten war. Wer hat danach das eigene Bild von Waterkantgate korrigiert, wer wollte es überhaupt noch korrigieren?
Die Fehlspur wird verdeckt, die Legende gewoben. Gern wird dann Heinrich Böll zitiert: „Es bleiben Nebel, es bleiben Unklarheiten, es bleibt Ungeklärtes, nicht wirklich gelichtet.“ Das Klare muss unklar werden, damit man Recht behält, das eigentlich Unrecht ist.
Ein weiterer schwerer Fall war Jürgen W. Möllemann. Durch Verquickungen von Geschäften mit der Politik stand er seit zwei Jahrzehnten im Dauerverdacht korrupter Machenschaften. Aber außer Vermutungen gibt es keinen Beleg dafür, dass er auch in Waffengeschäfte verwickelt gewesen sein könnte. „Keine Anhaltspunkte“ hatten die Ermittler.
Warum beriefen sich dennoch Medien auf anonyme Ermittler, um den Eindruck zu erwecken, er habe mit Waffengeschäften das große Geld gemacht? Kam es bei Möllemann nicht mehr darauf an, ob etwas wahr ist oder unwahr? Dürfen wir den Toten, noch ein bisschen zumindest, jagen? Kommt doch nicht drauf an.
Oder die Geschichte der Terrorvereinigung „Nationalsozialistischer Untergrund“. Im November vergangenen Jahres war klar geworden, dass eine braune Bande neun Migranten und eine Polizistin ermordet hatte, ohne dass Ermittler auch nur eine Ahnung hatten, wer hinter der Mordserie steckte. Die thüringische Polizei hatte die Täter laufen lassen und danach versagten Verfassungsschutz und Zielfahnder. Und die bis zu 160 Ermittler, die der Blutspur folgten, waren sich fast alle sicher, dass das Motiv ganz gewiss im Bereich der Organisierten Kriminalität zu suchen sei. Die Opfer und ihre Familien wurden kriminalisiert.
Einige Zeitungen witterten eine braune Staatsaffäre. Sie gingen von einer Kumpanei des Staates mit den Mördern aus und streuten den Verdacht, dass Quellen des Verfassungsschutzes eng mit den Mördern zusammengearbeitet hätten. Nichts davon stimmte. Am saubersten hatten, wie sich später herausstellte, die vorgeblich unsauberen Quellen gearbeitet. Ihre Berichte waren leider nicht ordentlich ausgewertet und nicht an die richtigen Stellen weitergeleitet worden. Ein Desaster? Ja. Ein Staatsversagen? Ja. Aber doch ganz anders als es zunächst von Journalisten bedeutet worden war.
Gegen eigene Vorurteile publizieren
Enthüllungsjournalismus muss mehr sein als die Auswertung von Ermittlungsakten oder das Verfassen von Kommentaren. Es braucht journalistische Aufklärer, die ergebnisoffen ans Werk gehen. Und die, wenn es denn angebracht ist, auch gegen ihre Vorurteile publizieren.
Einen neuen Einblick in eine neue Dimension der Skandale liefert das Buch „Der entfesselte Skandal – Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter“ von Bernhard Pörksen und Hanne Detel. Ein wichtiger Punkt des Buches ist die These, dass sich in der Digitalen Welt ein neues Skandalschema entwickelt hat. Früher fand er in einer linearen Medienwelt statt. Heute habe er sich davon entkoppelt. Das Publikum werde zum Akteur, gesellschaftliche Fallhöhe sei kein Schlüsselkriterium mehr, auch sei die Frage der gesellschaftlichen Bedeutung nicht mehr ausschließlich entscheidend.
Jeder könne heute effektiv skandalisieren, wenn es ihm gelinge, durch Medien, im Social Web, auf den Multimedia-Plattformen, Skandalierungsprozesse einzuleiten.
Es gebe neue Opfer, darunter Ohnmächtige, komplett Unschuldige und bislang der Öffentlichkeit Unbekannte, die zum Objekt kollektiver Empörung und unerwünschter Aufmerksamkeitsexzesse werden könnten. Die Diagnose, dass gegen Ohnmächtige oder kleine Leute kein Skandal ausbreche, wie Johannes Gross noch vor fast einem halben Jahrhundert meinte, war nie richtig.
Boulevard und Cybermob
Der Boulevard, die Gosse lässt sich beim Skandalieren selten davon abhalten, dass es um Ohnmächtige oder kleine Leute geht. Der Einbruch in die Privatsphäre auch der kleinen Leute ist Teil des Geschäfts.
Aber es gibt neuerdings den Cybermob, der Menschen jagt und Menschenfleisch sucht. Die Autoren beschreiben, wie eine junge Frau in Washington, die von ihren Sex-Abenteuern in ihrer Arbeitswelt berichtet, zu einer öffentlichen Figur wird, deren Geschichte sich rasend im Netz ausbreitet. Da wird eine junge Frau, die Unsinn über ein Erdbeben und die Opfer des Erdbebens geredet hat, gejagt, gehetzt und von der Welle der Empörung erdrückt. Alte, längst vergessene Geschichten werden im Netz zu einer Waffe.
Angriff auf die Freiheit der Presse
Die kollektive Phantasie braucht immer neue Opfer, immer neue Täter und vor allem – klare Verhältnisse. Nur nicht zögern. Vom vorgeblich oder tatsächlich investigativ arbeitenden Journalisten wird verlangt, dass er die Schuldfrage stellt: Überall Übeltäter, Schufte und trockne Schleicher. Wer ist schuld? Immer ist doch irgendeiner schuld. Das kleine Wort ermöglicht das Rechthaben, die Empörung und die stiftet Ordnung, weil sie die Schuldigen benennt. Man braucht nicht mehr zu zweifeln, man weiß doch, wie es läuft.
Es gibt im Journalismus die Währung, die alle belohnt, die Aufmerksamkeit um jeden Preis schaffen wollen. Aufmerksamkeit ist die Leitwährung. Der oft skrupellose Zugriff auf das Potenzial der Aufmerksamkeit des Lesers, Hörers, Zuschauers ist ein Angriff auf die Freiheit der Presse. Die ganz großen Gefahren für den Journalismus entstehen dort, wo die Aufmerksamkeit die Relevanz auffrisst.
Gutes im Bösen, das Böses im Guten
Die Möglichkeit, eine Menge von Daten auf eine kleine Silberscheibe zu transformieren, verändert den Enthüllungsjournalismus. Noch in den achtziger Jahren wäre es unvorstellbar gewesen, dass ein untreuer Angestellter oder ein ehrlicher Informant die kompletten Aufzeichnungen Hunderter schwerreicher Steuerhinterzieher an Medien lancieren konnte. Das Kopieren aller Unterlagen eines Liechtensteiner Treuhänders hätte jede Quelle überfordert.
Heute reicht das Laden eines einzigen Memory-Sticks für die Beschaffung Tausender Dokumente. Durch die Wucht der überlieferten Berichte werden Staatsdebatten ausgelöst.
Nur nebenbei: Ob eine Quelle uneigennützig dem Guten zum Durchbruch verhelfen möchte oder aus niederen Motiven sprudelt, ist für den Enthüllungsjournalismus meist unerheblich. Spätestens seit dem 1714 erschienenen Werk „Die Bienenfabel, oder Private Laster, öffentliche Vorteile“ des niederländischen Sozialtheoretikers Bernard Mandeville, gilt die Theorie, dass auch Handlungen aus verwerflichen Motiven für das Gemeinwohl förderlich sein können. Diese Feststellung galt auch für Julian Assange, den die einen für einen Helden der Wahrheit und die anderen für einen geltungssüchtigen Egozentriker hielten. Das Gute im Bösen und das Böse im Guten liegen manchmal auch im Journalismus dicht beieinander.
Von Indern und Robotern
Aber für die Auswertung der Dokumente braucht es Leute, Zeit und Geld. Daran hapert es oft. Der wirtschaftliche Druck, unter dem insbesondere die Verlage stehen, führt zu kuriosen Entwicklungen.
Beispiel eins: Im kalifornischen Pasadena gibt es einen ebenso sparsamen wie erfindungsreichen Verleger. Weil die Sitzungen des Stadtrats von Pasadena im Internet direkt übertragen werden, schickt er nicht einen Mitarbeiter ins Rathaus, denn davon hat er keinen mehr, sondern beauftragt einen Journalisten in Indien, über die Sitzungen zu berichten. Der sieht sich die Sitzungen im Internet an und schreibt auf, was er hört und sieht. Das ist preisgünstiger und kostengünstiger als der kostengünstigste Journalist in Kalifornien.
Beispiel zwei: Baseball ist ein Spiel mit viel Statistik. Neulich kam ein Tüftler auf die Idee, mit den Statistiken einen Computer zu speisen, der dann einen Spielbericht fertigte. Der Tüftler mit dem Computer ließ unabhängig davon Spielberichte von richtigen Journalisten schreiben und präsentierte die Arbeit einer Jury. Die konnte nicht herausfinden, welcher Text vom Computer stammte und welcher Text Werkstück eines Journalisten war. Im Finanzjournalismus stützt sich eine Institution wie Forbes auf eine Firma mit dem Namen „Narrative Science“, die Daten in Texte verwandelt. Eins der Programme von „Narrative Science“ kann Artikel verfassen, wie sich der amerikanische Wahlkampf in sozialen Netzwerken abspielt. Zehn Dollar für 3000 Zeichen. Der Roboterjournalismus kann Texte in kürzester Zeit produzieren.
Wenn wir die Computer und alles andere überstehen wollen, müssen wir also Dinge abliefern, die ein Computer nicht machen kann. Wir müssen anders schreiben, andere strukturelle Zusammenhänge zeigen, die man so einfach nicht findet anderswo. Computer haben keine Haltung. Journalisten können Haltung haben. Haltung bedeutet, für etwas einstehen, sich nicht verbiegen lassen; nicht von kurzfristigen Moden und auch nicht von der Sucht nach Anerkennung.