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„Bleeding Edge“: Hardboiled im Deep Web

Illustration: Rita Kohel

Vor zwei Wochen hat sich das Datum der Anschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington zum 13. Mal gejährt. Inzwischen steht das neue One World Trade Center kurz vor der Vollendung, Osama bin Laden ist tot, die instabile Lage in Afghanistan ist längst traurige Normalität. Doch die terroristischen Zerstörungsakte haben einen fruchtbaren Nährboden hinterlassen, auf dem noch heute allerlei Verschwörungstheorien gedeihen. Und auch jenseits von 9/11 hat Paranoia derzeit Hochkonjunktur: Snowden- und Wikileaks-Enthüllungen, Propaganda im Ukraine-Konflikt und das Treiben kommerzieller und staatlicher Datenkraken beunruhigen auch Menschen, die keine Aluhut tragenden Truther sind.

U1_978-3-498-05315-4.inddWarum also nicht das alles in einen Topf werfen und mit einer Portion verquerem Humor abschmecken? Thomas Pynchon ist ohnehin eine Art literarischer Fachmann für Paranoia. In seinen Romanen geraten Figuren häufig in Netze von Verschwörungen, die so kompliziert verwebt sind, dass am Ende alles mit jedem zusammenhängt und kein Beteiligter unverdächtig bleibt.

Pynchons neuester Roman, „Bleeding Edge“ (ein Begriff für radikal neue, aber auch gefährliche Technologie), beginnt im Frühling 2001, kurz nach dem Platzen der Dotcom-Blase. Maxine Tarnow ist freie Wirtschaftsdetektivin in New York. Ein alter Bekannter bittet sie, sich die Bücher der IT-Sicherheitsfirma hashslingrz anzusehen, weil er unlautere Machenschaften vermutet. Genauer geht es um mysteriöse Finanztransaktionen in den Nahen Osten. Maxines Ermittlungen führen sie auf Kollisionskurs mit Gabriel Ice, ebenso schillernder wie geheimnisvoller Chef von hashslingrz, sowie mit einer ziemlich langen Reihe weiterer schräger Charaktere, zu denen ein eiskalter neoliberaler Geheimdienstler, ein russischer Ex-Spetznatz-Mafioso und seine zwei rappenden Handlanger, ein forensischer Schnüffler mit ausgesprochen feiner Nase (im wahrsten Sinne des Wortes) und nicht zuletzt ihre eigene Familie (ihr Schwager mit möglichen Verbindungen zum Mossad heuert bei Ice an) gehören.

Verworrene Spurensuche in Cyber- und Meatspace

In typischer Pynchon-Manier verläuft die Spurensuche alles andere als geradlinig und jede neue Erkenntnis führt zu mindestens zwei neuen Ungereimtheiten. Neue Bekanntschaften sind mal hilfreich, mal gefährlich, gerne auch beides. So stößt Maxine unter anderem auf Verschwörungstheorien zu Zeitreise-Experimenten des US-Militärs auf Long Island  (in Verbindung mit dem Absturz von Flug TWA 800), mögliche Pläne, ein Flugzeug über Manhattan mit einer Stinger-Rakete abzuschießen und auf eine Art „Second Life“ namens „DeepArcher“ (gesprochen wie departure), verborgen im Deep Web, das völlige Freiheit verspricht und so süchtig macht, dass die Grenze zur Realität verschwimmt. Nebenbei muss sie ihre technikbegeisterten Söhne im Auge behalten und mit der Rückkehr ihres Ex-Mannes zurechtkommen. Die Ereignisse münden schließlich in das unheilvolle Fanal des 11. Septembers, doch die Handlungsfäden enden dort nicht. Während die Falken an der Spitze der US-Politik zum Krieg gegen den Terror rüsten, sehen die Truther sich in ihren Theorien bestätigt. Für Maxine jedoch bleiben die Fragen, wer was wann warum mit oder gegen wen mit welcher Folge getan hat, weitgehend offen.

Es passiert also eine ganze Menge und selbst bei, für Pynchons Verhältnisse, reduzierter Komplexität kann man als Leser schon einmal den Überblick verlieren — was angesichts der Thematik durchaus gewollt sein mag. Außerdem hilft sein zwischen platten Wortspielen und scharfsinnigen Bemerkungen pendelnder Humor über etwaige Frusterscheinungen hinweg. Dazu gehören auch die zahlreichen Popkultur-Anspielungen — unter anderem spielen Maxines Söhne einen an „Grand Theft Auto“ erinnernden Egoshooter, bei der Unhöflichkeiten wie sich in der Schlange vorzudrängeln mit brutaler Gewalt geahndet werden.

Abrechnung mit dem Kapitalismus

Bei aller für ihn obligatorischen Zotigkeit, konstruiert Pynchon eine lebendige Welt, in der immer wieder reale Ereignisse mit Fiktion verwoben werden. Maxine beschreibt sich zwar selbst als typische jüdische Mutter, die Details der verschiedenen Lebenswelten (vor allem die Hackerszene und das New Yorker Judentum) bewahren die Charaktere davor, zu Klischees zu verkommen. Die Protagonistin kommt dabei als eine moderne Version des Hardboiled-Detectives daher. In typischer Noir-Manier agiert sie selbst nach dem Verlust ihrer Lizenz in einem legalen Graubereich, lässt sich auf die (z. T. intime) Zusammenarbeit mit fragwürdigen Partnern ein und obwohl sie eigentlich nur eine Buchprüferin ist, trägt sie eine Waffe bei sich. Aber sie ist andererseits auch eine New Yorkerin aus der Mittelschicht, die ihre Kinder auf eine alternative Schule schickt und Shoppingtouren mit ihrer Freundin erträgt.

Paranoia und Verschwörungstheorien sind für Pynchon ein altvertrautes Metier — und passen gut zu seiner notorischen Öffentlichkeitsscheu: Sein letztes bekanntes Foto ist Jahrzehnte alt, bei Veranstaltungen wie Preisverleihungen lässt er sich von Schauspielern vertreten, mit Journalisten spricht er so gut wie nie. Bei Gastauftritten in der Zeichentrickserie „Die Simpsons“ wird er mit einer Papiertüte auf dem Kopf dargestellt. Aber in „Bleeding Edge“ wird nicht einfach eine Verschwörung um ihrer selbst willen inszeniert. Wiederholt findet sich Kritik, die sich auch auf die realen Gegebenheiten der heutigen Zeit übertragen lässt: am von Profitgier getriebenem Gentrifizierungsprozess (in der realen wie in der virtuellen Welt), den Gefahren digitaler Technologie und dem Umgang von Politik und Medien mit der Tragödie des 11. Septembers.

„Your Internet (…) this magical convenience that creeps now like a smell through the smalles details of our lives, the shopping, the housework, the homework, the taxes, absorbing our energy, eating up our precious time. And there’s no innocence. Anywhere. Never Was. (…) Call it freedom, it’s based on control. Everybody connected together, impossible anybody should get lost, ever again. Take the next step, connect it to these cell phones, you’ve got a total Web of surveillance, inescapable.“

Am schärfsten aber wird mit dem kapitalistischen System abgerechnet, das für den ganzen Schlamassel verantwortlich gemacht wird. Immer wieder geht es ums Geld: Maxine jagt keine Kapitalverbrecher, sondern Wirtschaftsbetrüger, ihr Mann arbeitet als Börsenspekulant und kurz vor dem Anschlag auf das World Trade Center — Symbol der amerikanischen Wirtschaftsmacht — werden Aktiengeschäfte getätigt, die verdächtig nach Insiderhandel aussehen. Der Tenor dieser Anklagen lautet in etwa: Das Internet und der Kapitalismus sind Systeme, die Freiheit und eigenständiges Handeln versprechen, in Wahrheit aber der Kontrolle und der Machtsicherung dienen.

„Late capitalism is a pyramid racket on a global scale, the kind of pyramid you do human sacrifices up on top of, meantime getting the suckers to believe it’s all gonna go on forever.“

Wie viel davon Pynchons eigener Meinung und wie viel seinen Figuren zuzuschreiben ist, darüber lässt sich nur spekulieren. So entzieht der Autor sich dem Problem, belehrend aufzutreten. Stattdessen bleibt es den Lesern überlassen, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Eindeutige Antworten liefert „Bleeding Edge“ jedenfalls nicht. Und wie die altlinke Bloggerin March Kelleher im Buch sagt, manchmal sind Verschwörungstheorien ein hilfreiches Mittel, um mit der eigenen Ohnmacht in einer überwältigend komplexen Welt fertig zu werden.


Thomas Pynchon: Bleeding Edge erscheint in deutscher Übersetzung am 26.09.2014 im Rowohlt Verlag (608 S., gebunden). Diese Rezension basiert auf der englischsprachigen Ausgabe, erschienen als Taschenbuch bei Penguin Books am 26.08.2014.