Crowdsourcing-Effekte für die tägliche Arbeit
In Zeiten von Social Media ist ein Journalist nicht mehr nur ein Journalist. Er geht nicht mehr nur seiner klassischen Arbeit nach, recherchiert, schreibt, führt Interviews, fotografiert, filmt oder schneidet Beiträge. Mit Facebook, Twitter und Google+, Blogs und Videoplattformen bekommt er viele neue Möglichkeiten, sich im Netz als Marke zu positionieren und die Leser nicht mehr nur an ein Medienprodukt zu binden, sondern auch an sich als Person. Ein Überblick über transparente Medienmenschen und spannende Projekte.
Er ist mehr als ein Medienmacher, er wird in gewisser Weise selbst zum Medium und hat durch die sozialen Netzwerke die Chance, eine eigene, persönliche Leserschaft aufzubauen. Der Journalist von heute ist kommunikativer und transparenter als je zuvor. Während die Leser früher ihren Lieblingsautor oder -reporter meist nur in einem Medium, etwa der abonnierten Tageszeitung, verfolgen konnten, können sie ihm heute ständig bei der Arbeit über die Schulter schauen. Ein Klick auf „Folgen“, „Abonnieren“ oder „Gefällt mir“ reicht aus, schon ist der Konsument mittendrin im journalistischen Alltag.
Wer die Leser an der Recherche teilhaben lässt, erweitert nicht nur den eigenen Themenhorizont, sondern bindet die Leser oft auch an sich. Das Prinzip dahinter ist simpel: Ich setze mich mit deinem Gedankengang auseinander, also möchte ich auch sehen, ob das Endprodukt mit meinem Gedankengang übereinstimmt. Journalisten werden so schnell zu Marken, bauen die von Erik Deckers und Kyle Lacy in ihrem gleichnamigen Buch beschriebene „Ich-Marke“ auf. Mancher Leser interessiert sich nun für jeden Schritt, den der Journalist macht. Es hat etwas von einer Fanschaft, auch wenn das in keinem Fall das Ziel eines Journalisten sein sollte. Viel mehr sollten die Vorteile von Social Media und der Kommunikation mit dem Leser im Vordergrund stehen.
„Werde ein Community-Manager“
Diese liegen laut Andreas Weck, Projektleiter beim Onlinemagazin „Netzpiloten.de“ „auf der Hand“: „Zum einen kann man seine Beiträge über diesen Weg an die eigens aufgebaute und interessierte Leserschaft herantragen. Zum anderen helfen solche Social-Media-Accounts, auch Themen und Meinungen mit den Lesern zu besprechen – was nicht zuletzt auch für die eigene Recherche nützlich ist“, schreibt er in einem Beitrag über „Fähigkeiten, die der Journalist von heute drauf haben sollte“. Darin stellt er – neben der Erkenntnis, dass er ein Allrounder sein sollte – unter anderem fest, dass sich Journalisten intensiv mit dem Thema „Social Journalism“ auseinandersetzen und zum „Community-Manager“ werden sollten.
Eine eigene Community zu haben, erscheint erstrebenswert: Je größer die Leserschaft der eigenen Artikel, desto größer der (Klick-)Erfolg bei den einzelnen Arbeitgebern. Es ist gerade für freie Journalisten zunehmend existenziell, aus sich und der eigenen Arbeit eine Marke zu machen. Auftraggeber werden eher aufmerksam, wenn die Marke oder – wie Weck es nennt – die Community um den potenziellen Auftragnehmer groß ist. Das liegt aber vor allem in der Natur der Sache – große Aufmerksamkeit geht meistens einher mit großem Interesse.
Für Andreas Weck ist Social Media jedenfalls ein Instrument zur persönlichen Bindung des Konsumenten: „Die Leserbindung hat über Social Media, zumindest für Autoren, eine neue Qualität gewonnen. Früher waren die Strukturen da ziemlich linear: Man hat einen Beitrag geschrieben, der wurde veröffentlicht und als Leser hatte man lediglich die Chance einen Leserbrief zu schreiben, der in der Regel vom Autor unbeantwortet blieb“, sagt er. Über Facebook und Co. könne man nun mit dem Autor, wenn er sich denn für Social Media entschieden hat, direkt kommunizieren. „Ich für meinen Teil schreibe mit einigen ‚Stamm-Lesern‘ von mir über meine Artikelthemen. Das schätzen diejenigen schon. Und sind dadurch sicherlich auch interessierter an anderen von mir bearbeiteten Themen.“
„Ohne Kommunikation hätten wir weniger Leser“
Auch für Markus Beckedahl, Betreiber des bekannten Blogs „Netzpolitik.org“, ist Social Media bei der Arbeit wichtig: „Mein Twitter-Stream ist mittlerweile neben meinem RSS-Reader zu meiner Hauptinformationsquelle geworden, ergänzt durch soziale Netzwerke wie Facebook und Google+“, berichtet er. „Gleichzeitig ist es mir auch sehr wichtig, als Netzknoten auf vielen Plattformen ansprechbar zu sein und mit Leserinnen und Lesern kommunizieren zu können. Oftmals erhalte ich dabei wichtige Informationen für meine Arbeit.“ Dem Kontakt mit den Lesern rechnet Beckedahl auch einen Teil des Erfolges von „Netzpolitik.org“ zu: „Ich glaube, dass eine Kommunikation mit unseren Lesern auf Augenhöhe ein Grund für unseren Erfolg und für die Leserbindung ist. Zumindest hätten wir ohne diese Art der Kommunikation weniger Unterstützung und sicher auch weniger Leser.“
Storify-Slideshow: „Netzpolitik.org“ holt Lesermeinungen ein
Ein weiteres Beispiel für transparenten und kommunikativen Journalismus ist Gunnar Sohn. Er ist Chefredakteur des Onlinemagazins „NeueNachricht“ und Kolumnist für das Debattenmagazin „The European“. Er nutzt häufig soziale Netzwerke und multimediale, interaktive Möglichkeiten wie Google Hangout für seine Recherche, zum Beispiel in diesem Beitrag. Indem er seine Recherche öffentlich macht, bekäme er auch weitere Reaktionen, Meinungen, Kommentare oder Hinweise auf Studien, erzählt er und nennt diese Resonanz „Crowdsourcing-Effekte für die tägliche Arbeit“. Sohn weiß aber auch: „Man kann das sicherlich nicht mit jedem Thema machen. Aber es könnte häufiger eingesetzt werden.“
Storify-Slideshow: Der transparente Journalismus
So zum Beispiel auch für die Recherche nach Gesprächspartnern. Der freie Autor Daniel Bröckerhoff beispielsweise suchte im Zuge der Sexismus-Aufregung um FDP-Spitzenpolitiker Rainer Brüderle für einen Beitrag für das NDR-Medienmagazin „Zapp“ Betroffene. Über Twitter bat er um Mithilfe und Verbreitung.
Wir gucken dann mal, was wir für @zappmm zum Thema #Journalismus, #Politik und #Sexismus machen können. Wer will auspacken? Pls RT!
— Daniel Bröckerhoff (@doktordab) Januar 24, 2013
„Der Vorteil ist: Wenn sich jemand auf Twitter äußert, ist es sehr wahrscheinlich, dass er oder sie auch mit mir spricht, da es ja ein Bedürfnis nach Kommunikation gibt. Wenn ich irgendwo anrufe, ohne zu wissen, ob derjenige oder diejenige überhaupt darüber reden will, dauert das alles viel länger“, erklärt Bröckerhoff. Auch er weiß um die Chancen von Crowdsourcing und ist der Meinung, Journalisten sollten sich ihrem Publikum mehr öffnen: „Der Zuschauer oder Leser sieht, dass es sich hier um einen Menschen handelt, der ansprechbar, aber auch fehlbar ist. Und ich als Journalist kann gezielt auf mein Publikum zugehen und eingehen, was das Ergebnis nur besser machen kann.“
Andere Länder machen es vor
Die Arbeit mit sozialen Medien kann im Journalismus viele Facetten haben. Eins jedoch gilt für sie alle: Wer transparent und kommunikativ die neuen Möglichkeiten einsetzt, kann einen enormen Mehrwert aus der Auseinandersetzung mit den Konsumenten ziehen. Gerade für freie Autoren ist es zunehmend wichtig, eine eigene Leserschaft aufzubauen und sich selbst als Marke zu positionieren. Schon bald könnte dieses Thema bereits bei der Bewerbung relevant werden: Journalisten mit Leserschaft bedeuten auch mehr Leser für das jeweilige Unternehmen.
Eine vernünftige, sympathische und ehrliche Präsenz in den sozialen Netzwerken kann den Journalisten also nicht schaden und sollte auch in Deutschland dringend vermehrt praktiziert werden. In anderen Ländern, etwa den USA, ist es inzwischen schon ganz normal, wenn einzelne Journalisten mit Hunderttausenden von Followern oder Fans im sozialen Netz auftreten. Das liegt insbesondere daran, dass sie Social Media – ähnlich intensiv wie Gunnar Sohn – gezielt und transparent für die Recherche einsetzen, dabei vor multimedialen Möglichkeiten nicht zurückschrecken und mutig sind, neue Dinge auszuprobieren.
Übrigens: Beim Stichwort Transparenz gibt es auch Extrembeispiele, wie etwa Mario Sixtus, der jüngst die Website „Wo ist Sixtus?“ online schaltete. Dort kann seine Leser- und Zuschauerschaft via Google Latitude auf die Minute genau nachvollziehen, wo sich der freie Autor im Moment aufhält. Zwar ist „Wo ist Sixtus?“ für ihn nur ein Experiment, in dem er die Angst um öffentliche (Geo-)Daten thematisiert, für den Leser bietet es aber die Möglichkeit, die Aktivitäten von Sixtus noch intensiver zu verfolgen. So kann man „Liquid Journalism“ natürlich auch definieren.