Crowdstory: WhatsApp für die Ohren
Ein Hinterhaus in Berlin-Schöneberg. Andrin Schumann gibt das erste Mal ein Interview über sich selbst. Im Gespräch ist sie direkt, hält Blickkontakt, lacht viel. Als sie zehn Jahre alt war, spielte sie bereits „Redaktion“ auf dem Sofa ihrer Großmutter, schrieb Nachrichten und nahm diese auf Kassette auf. Jetzt steht Andrin Schumann am Anfang ihrer Karriere. Im Jahr 2014 hat sie gemeinsam mit zwei anderen jungen Frauen Crowdstory auf die Beine gestellt. Eine Sendung, in der die Crowd ihre Geschichten selbst erzählt. Bebildert, moderiert, in Radio und Netz nachzuhören.
Dort berichtet ein junger Spanier, wie er lernen musste, dass warmes Bier in Deutschland nicht als Delikatesse gilt. Zur nächsten Geschichte erscheint ein Luftballon mit dem Schriftzug „Ich lebe“ im Bild, gleich darauf werden die Macherinnen im Studio gezeigt. „Crowdstory ist die Sendung, die eure WhatsApp-Geschichten erzählt“, erklärt eine von ihnen. Die Geschichten, die gezeigt werden, sind ehrlich, nah am Menschen, aus dem Leben gegriffen. Sie kommen direkt vom Protagonisten, wurden per WhatsApp-Sprachnachricht an das Team geschickt.Crowdsourcen per WhatsApp
Crowdstory ist visuelles Radio. Also Video? Nicht ganz. Der Podcast stellt den Sound, das gesprochene Wort, die akustische Atmosphäre in den Mittelpunkt. In maximal einer Minute erzählen die Protagonisten ihre Geschichten. Dazu gibt es Zeichnungen, Fotos, kurze Videoaufnahmen. Ohne die Soundebene sagen die einem aber eher wenig. Erst durch die Erzählungen kann den Bildern ein Sinn zugeordnet werden.
Auch Andrin Schumanns Geschichte passt in weniger als 60 Sekunden: Studium in Leipzig und Berlin, Halt bei ZDF Aspekte, Radio Bremen, der Taz, Preußisch Blau. Dass Schumann zu Crowdstory kam, schildert sie wie einen Zufall: Einer ihrer ehemaligen Professoren leitete ihr die Ausschreibung des Medieninnovationszentrums Babelsberg (MIZ) weiter. Dieses fördert „innovative crossmediale Projekte“, in Kooperation mit wechselnden Medienpartnern – in diesem Fall Topradio. Schumann bewarb sich, wurde eingeladen, von einer Jury ausgewählt und mit zwei anderen in ein Büro gesteckt.
Zu kreativ für Journalismus
Kurze Zeit später stehen die Drei in diesem riesigen Raum in Potsdam, sie sind zu einem Team geworden. Die Wände des Büros sind über und über mit bunten Klebezetteln gepflastert. Sie alle tragen Ideen auf sich, Notizen, Einfälle. „Manchmal gerät man völlig in einen Rausch, weil einem noch was Tolles einfällt und noch was Tolles“, sagt Schumann. „Es hat sich fast zu kreativ für reinen Journalismus angefühlt.“ Dabei hilft, dass Schumann sich selbst nicht zu ernst nimmt. Für ein Posting im Netz bringt die junge Journalistin schon mal Puppen zum Knutschen.
Da wo jetzt Crowdstory ist, war vor einem Jahr nichts. Ein neues Format sollte entstehen, einzige Vorgabe: Radiotalksendung in crossmedial. „Ihr guckt dann mal. Scheitern ist auch erlaubt“, hieß es von MIZ und Topradio. Auch wenn es viele Ideen letztlich nicht geschafft haben: Gescheitert ist Crowdstory sicher nicht. Nach einem Pilotprojekt – dem Kiss FM Soundexperiment – sind zwei Folgen von Crowdstory erschienen, „Krass“ und „Neuanfang“.
Für eine Geschichte, in der es um einen Mord geht, stellten Schumann und ihre Kolleginnen den Tatort mit Kunstblut nach. Eine Substanz, die sich hervorragend für Waschmittel-Werbungen eignen würde: kaum wegzukriegen. Am Montag darauf bekam das Team eine E-Mail von einer besorgten Mitarbeiterin des MIZ: “Das nächste Mal, wenn sie so etwas machten, sollen sie bitte vorher Bescheid geben.” Die Kollegin hatte die Polizei gerufen, weil an besagter Stelle oft ein Obdachloser liegt. Andrin Schumann lacht. Zum Glück war es falscher Alarm.
„Scheitern ist auch erlaubt!“
Die Idee, Geschichten über WhatsApp zu sammeln, ist leichter ausgesprochen als umgesetzt. Anders als auf Facebook oder Twitter stolpern die Nutzer nicht zufällig über WhatsApp-Profile. Um eine Nachricht an das Crowdstory-Team zu schicken, müssen Nutzer erst dessen Handynummer speichern. Vieles, was die Crowdstory-Macher dann zugeschickt bekamen, waren erstmal Reaktionen – auf das Projekt, auf ihre Herangehensweise. “Das ist toll, dass wir auch mal nach unseren Geschichten gefragt werden”, hieß es da. Sonst passiere das im Journalismus ja eigentlich nie.
Aus mehreren hundert Zuschriften blieben rund 40 Geschichten, die potentiell in die erste Sendung aufgenommen werden konnten. Das Team ließ einige Beiträge ausscheiden – schlechte Aufnahmen, nichtssagende oder zu merkwürdige Geschichten. Übrig blieben 17 Stories zum Thema „Krass“.
„Unser Baby“ nennt Schumann Crowdstory
Crowdstory ist jung. Von jungen Journalisten für junge Rezipienten, über ein junges Medium entstanden. Bei der Arbeit an Crowdstory waren in der Konzeption fast keine Grenzen gesteckt. „Wir waren drei Leute, die waren total gleichgestellt. Wir hatten keine Hierarchien“, sagt Schumann. So etwas muss nicht immer gut gehen. Aber die Crowdstory-Macherinnen hatten Glück. „Es war ganz viel Schulhofatmosphäre, dass man sich so kaputt lachen kann.“ Ob die Geschichten relevant, gesellschaftlich schwerwiegend, von großem Interesse für andere sind – dieses Urteil will Crowdstory den Hörern überlassen. Schumann findet, das Projekt sei das Beste, was sie bisher gemacht hat.
Das Radio in Deutschland beschreitet nur sehr zurückhaltend neue Wege. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk sind die Flure grau, die Wege lang – nur selten schlüpft eine Innovation durch die Passierschein-A38-Maschinerie. Im Privatradio fehlen die Budgets: zu wenig Zeit, zu wenig Geld, viele Sender kämpfen um ihre Existenz. Crowdstory ist vielleicht nicht die Universalantwort auf die Frage, was das Radio in Zeiten von Spotify und YouTube anstellen muss, um junge Nutzer zu begeistern. Aber es zeigt, wie moderne Radioprojekte funktionieren können, wenn neue Ideen umgesetzt werden.
Mit dem neuen Jahr fand Crowdstory allerdings sein vorläufiges Ende, die Finanzierung von MIZ und Topradio lief aus. Ob es dennoch weitergeht, steht noch nicht fest. Schumann ist jetzt freie Journalistin, ihr Büro nicht mehr auf dem Sofa ihrer Großmutter, sondern in der eigenen Wohnung. Was die Zukunft für sie bringt, weiß sie noch nicht genau. Nur, dass viele ihrer eigenen Ideen darauf warten, umgesetzt zu werden. Und dass sie nun den Mut hat, diese auszuprobieren. Weil sie gemerkt hat: „Die eigenen Ideen kommen auch gut an.“
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