„Der Circle“: Die Diktatur der gläsernen Masse
Wer es mit fragwürdigen Methoden zu Macht und Reichtum bringt, muss damit rechnen, dass die Kunst ein wenig freundliches Bild von ihm zeichnet. Das erging schon Bill Gates so, der 2001 im Thriller „Startup“ als psychopathischer Unternehmer, der über Leichen geht, dargestellt wurde. Wenig schmeichelhaft fiel auch das Porträt von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg 2010 in „The Social Network“ aus. In Dave Eggers neuem Roman „Der Circle“ ist nun Google an der Reihe. Doch auch wenn einer der Gründer des gleichnamigen Unternehmens im Roman mit seiner geringen Sozialkompetenz etwas an Sergey Brin erinnert, steht hier nicht eine Person, sondern das Unternehmen Circle im Vordergrund. Dabei handelt es sich um eine kaum verschleierte fiktionale Version des Internetriesen aus Mountain View.
Der Circle besitzt eine unangefochtene Vormachtstellung in sämtlichen Telekommunikations- und Online-Sparten, von SMS über Suchmaschinen bis Social Networking. Maßgeblich für den Erfolg des Konzerns ist das simple Prinzip, einen Account für sämtliche Funktionen im Netz zu nutzen (per „TruYou“ können User auch im Netz bezahlen). Oberstes Gebot ist dabei die völlige Transparenz: Pseudonyme sind nicht gestattet.
Als die Protagonistin, eine junge Frau namens Mae Holland, im Kundenservice des Circle anfängt, beginnt dieser seine Transparenzbestrebungen geografisch und gesellschaftlich massiv auszudehnen: In einem ersten Schritt werden weltweit kleine versteckte Kameras angebracht, die User online steuern können. Die öffentliche Totalüberwachung soll Verbrechen aufklären beziehungsweise vorbeugen und helfen, Diktatoren das Handwerk zu legen, weil sie nicht mehr im Verborgenen agieren können. Im zweiten Schritt beginnen immer mehr Politiker und Privatpersonen, ihr Leben nahezu ganztägig zu filmen und für alle im Internet öffentlich zu dokumentieren. Wer ständig überwacht wird, passt sein Verhalten entsprechend an, so die Circle-Logik. Die bedingungslose Transparenz soll jede Person zu einem besseren Menschen machen. Nur ein schlechter Mensch habe etwas zu verbergen. Auch intimste Momente werden in der Cloud gespeichert und dürfen nicht gelöscht werden. Die Gesundheitswerte der Circle-Mitarbeiter werden ebenfalls mit Hilfe von allerlei Gadgets ständig überwacht. Die Betriebsärztin hat jederzeit Zugriff auf alle aktuellen Werte und die komplette Krankengeschichte — alles, um Krankheiten schneller erkennen und behandeln zu können. Die Kernprinzipien des Circle lauten daher „Geheimnisse sind Lügen; Teilen ist Heilen; Alles Private ist Diebstahl“.
Während die begeisterte Mae in der Firmenhierarchie stetig aufsteigt, arbeitet der Circle daran, den Kreis endgültig zu schließen: Das Unternehmen soll die Aufgaben des klammen und ineffizienten Staates übernehmen. Kinder sollen zur Verbrechensprävention und zur Überwachung ihrer Schulleistungen gechipt werden; alle Erwachsenen sollen zur Nutzung des Circle-Kontos verpflichtet werden. Schließlich sollen die per Circle weltweit durchgeführten Volksabstimmungen Parlamente und Regierungen ersetzen. Jeder soll unmittelbar und sofort mitbestimmen können. Die utopischen Ziele sind 100 Prozent Demokratie und eine Welt ohne Verbrechen, ohne Korruption, ohne Epidemien. So weit, so dystopisch.
Überstrapazierte Glaubwürdigkeit
Eggers‘ Zukunftsvision kommt wenig fantastisch daher: Am Körper tragbare Geräte (‚wearables‘), Drohnen und Minikameras sind bereits Realität, wenn auch längst nicht so verbreitet wie im Roman. Eggers entwirft eine Welt, in der solche Dinge Normalität geworden sind. Die klare Botschaft seiner Vision lautet: Die auf die Spitze getriebene Offenheit wird in ein totalitäres System der Überwachung ohne jegliche Rückzugsmöglichkeit münden. Am Ende steht statt demokratischer Teilhabe eine Diktatur der Masse. Leider wird einem diese Botschaft auf den über 500 Seiten immer und immer wieder auf wenig subtile Art eingehämmert.
Es hilft auch nicht, dass sich das Machtstreben des Circle quasi im luftleeren Raum entfaltet. Zu den logistischen Details äußert sich Eggers nicht. Der Konzern kann auch nach Belieben schalten und walten, ohne jemals auf ernsthaften Widerstand zu treffen. Politik, Wirtschaft und Bevölkerung ziehen entweder begeistert mit oder ergeben sich kampflos ihrem Schicksal. Konsequenzen? Fehlanzeige! Die wenigen skeptischen Stimmen äußern eine Kritik, die bestenfalls naiv und plump daherkommt und schließlich folgenlos bleibt. Bei aller satirischen Freiheit wird hier die Glaubwürdigkeit jedoch arg überstrapaziert.
Größter Schwachpunkt sind die Charaktere
Echte Spannung kommt auch auf der menschlichen Ebene nicht auf: Die Charaktere sind der größte Schwachpunkt des Romans. Sie sind allesamt so flach wie ihre omnipräsenten Displays. Die Dialoge sind durchgehend so hölzern, dass die Sprechweise mitunter peinlich anmutet. So wirken die Figuren wie Pappaufsteller, von denen jeder einen bestimmten Typen vertreten soll (die ambitionierte Neue, der eiskalte Geschäftsmann, der besorgte Skeptiker usw.). Ändern sie dann doch einmal ihr Verhalten, passiert dies schlagartig und ohne dass nachvollziehbar wäre, wie diese Entwicklung sich vollzogen hat.
Auch die Protagonistin, Mae, bietet kaum Identifikationsfläche. Als Neuanfängerin im Circle ist sie zunächst unsicher und versucht es allen recht zu machen, am Ende ist sie eine fanatische Vorreiterin – und immer noch unsicher und bemüht, es allen recht zu machen. Immer neue Arbeitsbelastungen (sie startet mit drei Bildschirmen und hat am Ende neun sowie zwei Armdisplays und ein Headset) nimmt sie genauso bereitwillig in Kauf wie das immer tiefere Eindringen von Millionen Fremden in ihre Privatsphäre. Echte Zweifel kommen ihr nie. Selbst als sie den Tod eines Menschen aus ihrem Umfeld mitverschuldet, fühlt sie sich kein bisschen schuldig. In wenigen Sätzen werden solche Konflikte vom Autor einfach weggewischt.
Darin liegt ein großes Problem des „Circle“, denn was Eggers als dramatischen Höhepunkt gedacht hat, löst bei den Figuren wie beim Leser allenfalls ein Achselzucken aus. George Orwells „1984“ erlaubt uns, die Welt durch die Augen der Menschen zu sehen, die unter dem totalitären System zu leiden haben, die es fürchten und aktiv bekämpfen. Dem „Circle“ fehlen ein menschliches Element, das die Auswirkungen glaubhaft nachvollziehbar macht, und eine Dynamik, durch die der Ist-Zustand infrage gestellt oder zumindest weiterentwickelt wird.
Die Autorin Juli Zeh hat literarische Kritik an „Der Circle“ als bloßes „Pinscher-Gekläff“ abgetan — aber es handelt sich nun einmal um einen Roman und da gilt es, auch Handwerkliches wie Plot und Charakterzeichnung zu beurteilen. Selbst wenn das Buch bewusst so konstruiert sein sollte — als Roman funktioniert „Der Circle“ ganz einfach nicht. Eine non-fiktionale Auseinandersetzung wäre vielleicht passender gewesen. Warum Eggers sich dagegen entschieden hat, ist angesichts des Erfolgs von kritischen Sachbuchautoren wie Naomi Klein („No Logo“, „Die Schock-Strategie“) oder Thomas Piketty („Das Kapital im 21. Jahrhundert“) nicht zu verstehen. Seine Warnung wäre womöglich deutlicher und wirkungsvoller ausgefallen. Angesichts der jüngsten NSA-/GCHQ-/BND-Skandale wirkt der Romanstoff außerdem schon bei seinem Erscheinen auf Deutsch etwas überholt. Torsten Larbig hat einige Beispiele gesammelt, wie man es besser hätte machen können. In der vorliegenden Form verfehlt „Der Circle“ sein aufklärerisches Ziel, denn die allzu simple Gesellschaftskritik wirkt umso weniger aufrüttelnd, da sie in einen halbgaren Roman verpackt ist.
Dave Eggers: „Der Circle“. Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Auf Deutsch erschienen am 14.08.2014 bei Kiepenheuer & Witsch.