Der Tag, an dem die Republik erwachte
Am 26. Oktober 1962 endete die idyllische Zeit der alten Bundesrepublik, und es begann der bis heute größte Polit-Krimi in ihrer Geschichte. In einer jähen Eruption brachen bis dahin verborgene „Tendenzen zu einem Obrigkeitsstaat auf… weitgehend ähnlich der wilhelminischen Zeit“, so der Philosoph Karl Jaspers, ans Tageslicht.
An jenem 26. Oktober 1962, kurz nach 21 Uhr, stürmten zunächst acht Beamte der Bonner Sicherungstruppe des Bundeskriminalamts die Redaktion des „Spiegel“ im Hamburger Pressehaus, verstärkt alsbald durch drei Überfallkommandos und 20 Hamburger Polizisten, die per Amtshilfe angefordert worden waren. Sie wiesen dem amtierenden Chefredakteur Claus Jacobi Haftbefehle des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof vor: gegen den „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein und den stellvertretenden Chefredakteur Conrad Ahlers, ferner einen Durchsuchungsbefehl für die gesamte Redaktion, alles begründet mit einer unerhörten Beschuldigung: Der „Spiegel“ habe Artikel veröffentlicht, „die sich mit wichtigen Fragen der Landesverteidigung in einer Art und Weise befassten, die den Bestand der Bundesrepublik sowie die Sicherheit und Freiheit des deutschen Volkes gefährdeten“.
Also waren wir verdächtig des „Landesverrats, der landesverräterischen Fälschung und der aktiven Bestechung“ – die Bestechung, lediglich mit der „Lebenserfahrung“ begründet, wurde schon kurz darauf sang- und klanglos wieder fallengelassen. Dass überhaupt wegen Bestechung ermittelt wurde, erklärte der Bundesanwalt Joachim Loesdau damit, dass Überweisungen unter Tarnnamen hätten getätigt sein können, „wie bei Verrätern üblich“.
Das Ganze war gezielt auf den „Spiegel“-Titel vom 8. Oktober, Nr. 41/1962, mit dem Titelbild des Bundeswehr-Generalinspekteurs Friedrich Foertsch und der Überschrift „Bedingt abwehrbereit“. Er behandelte die Nato-Übung „Fallex 62“, die mit einem für die Bundeswehr schmachvollen Ergebnis geendet hatte: In dem am grünen Tisch durchgespielten Ernstfall eines Konflikts mit dem Warschauer Pakt fehlte es der stets hochgelobten Bundeswehr an allem: an Soldaten, Waffen und Gerät. Sie wäre schon in kürzester Zeit zusammengebrochen – aber 15 Millionen Westdeutsche wären dann schon tot gewesen.
Die USA kannten die schweren Mängel und hatten auf Besserung gedrungen. Doch Verteidigungsminister Franz Josef Strauß hatte andere Pläne: Er wollte eine Offensive des Ostens durch eigene deutsche Atomwaffen stoppen, mit diesen Waffen gar einen vorbeugenden Schlag (preemptive strike) führen, nach der Maßgabe: „Eine Atombombe ist so viel wert wie eine Brigade und außerdem viel billiger.“
Arbeit mit Beamten im Rücken
Zu den Bundeswehroffizieren, die Strauß‘ Strategie-Phantasien für hochgefährlich hielten, gehörte der Oberst Alfred Martin, Leiter des Führungsreferats im Führungsstab des Heeres. Aus Gewissensgründen vertraute er sich den „Spiegel“-Leuten Ahlers und Hans Schmelz an, und diese verarbeiteten Martins Aussagen mit Hunderten anderen Informationen zu einer großen militärpolitischen Analyse, eben der Titel-Geschichte „Fallex 62“.
Bei uns in der Redaktion galt der „Fallex“-Titel keineswegs als sensationell, nicht mal als gute Titelgeschichte, sondern als langatmig und nur für Experten verdaulich. Nun aber brachte uns dieser Artikel völlig unerwartet die Polizei ins Haus.
Alle noch anwesenden Redakteure – es war Freitagnacht und Redaktionsschluss – wurden aufgefordert, ihre Räume ohne Mitnahme eines einzigen Blatts Papier sofort zu verlassen. Erst auf den Protest hin, dann werde die nächste „Spiegel“-Nummer nicht erscheinen können, fanden sich die anwesenden Staatsanwälte bereit, wenigstens einer begrenzten Zahl von Journalisten die Weiterarbeit an der fertigzustellenden neuen Ausgabe zu gestatten – mit jeweils einem Beamten im Rücken.
Sie beschlagnahmten 30.000 Blatt
Sie alle unterstanden dem Ersten Staatsanwalt Siegfried Buback, dem später von der RAF ermordeten Generalbundesanwalt, der im Gegenzug für die großzügig erlaubte begrenzte Weiterarbeit die Vorlage aller Druckfahnen der für die neue Ausgabe vorgesehenen Artikel verlangte. Die Bundesanwaltschaft, bis dahin vorwiegend mit der Jagd auf kleine kommunistische Spione befasst, hatte aber die Größe eines Pressebetriebs wie den des „Spiegel“ total unterschätzt. In sieben Stockwerken sollten 170 Räume durchsucht werden, insgesamt 2900 Quadratmeter. Dort war der Inhalt von 17.000 Leitzordnern und 4000 Schnellheftern, insgesamt 5,5 Millionen Blatt Papier, zu lesen. Immerhin 30.000 Blatt schienen den Staatsschützern so verdächtig zu sein, dass sie diese beschlagnahmten, darunter auffällig viele, die sich mit Strauß beschäftigten.
Beschlagnahmt wurden auch sämtliche Schreibmaschinen – man müsse Schriftvergleiche anstellen können, hieß es. In der Telefon- und Fernschreibzentrale saßen Polizisten. Sie mussten sich in den nächsten Tagen beleidigende Anrufe anhören wie „Gestapo!“ oder auch Blödeleien wie: „Hier Augstein, ich bin bei meinem Freund Strauß, wir haben uns wieder vertragen. Sie können abziehen.“
Es konnte kein Zweifel bestehen: Der „Spiegel“ war ausgeschaltet, besetzt, außer der Zentrale in Hamburg auch das Bonner Büro, ein Monat verging, ehe die letzten Besatzer abgezogen waren. 103 Tage saß Augstein in Untersuchungshaft, 81 Tage Schmelz, 55 Tage Ahlers.
Die Stimmung in der Redaktion war in jener Nacht alles andere als heroisch. Niemand hatte so etwas je erwartet. Zwar war das Blatt damals eine exotische Erscheinung im deutschen Pressewesen, respektlos, oft frivol gegenüber Kirchen und Vertriebenenverbänden, rücksichtslos selbst gegenüber Anzeigenkunden, hochfahrend gegenüber den Mächtigen. Nun aber Landesverrat? Das war denn doch ein beklemmender Vorwurf, nahe an Hilfe für den Bolschewismus.
Und Beklommenheit blieb denn auch die vorwiegende Gefühlslage der Redaktion in der folgenden Woche. Wir waren jung, Augstein 38, das Durchschnittsalter lag bei Mitte 30, und wir waren wohl doch nicht so kampfwütig und abgebrüht, wie der schnodderige, oft arrogante Ton des Blattes glauben machte. Wir waren sämtlicher Arbeitsmittel beraubt, die Zukunft erschien düster. Die Chefredakteure Claus Jacobi und Johannes K. Engel sowie der Bonner Bürochef Hans Dieter Jaene waren gleichfalls festgesetzt worden. Verlagsdirektor Hans Detlev Becker, Augsteins alter Weggefährte, Cheforganisator des „Spiegel“ und Ex-Chefredakteur, versuchte, uns mit dem Aufruf Mut zu machen: „Sie sind nicht bei Al Capone angestellt, sondern bei Rudolf Augstein.“ Eine Woche später war auch Becker verhaftet.
Hätten die Redaktionen des „Stern“ und der „Zeit“ uns damals nicht Asyl mitsamt Betriebsmitteln gewährt, der nächste „Spiegel“ wäre nicht erschienen und vielleicht überhaupt kein „Spiegel“ mehr. So aber kam am 5. November die Nummer 45 mit dem verhafteten Rudolf Augstein auf dem Titelbild heraus, in 700.000 Exemplaren, 200.000 mehr als zuvor.
Dann passierte etwas, womit weder die beamteten Täter noch wir, die Opfer, gerechnet hatten: In der deutschen Öffentlichkeit brach ein nie da gewesener Sturm der Entrüstung los. Kein Thema, nicht mal die zeitweilige Kriegsgefahr im Gefolge der Kubakrise, beherrschte die Medien so intensiv wie die Aktion gegen den „Spiegel“. Und die allermeisten Kommentare ergriffen Partei für uns. In der „FAZ“ stellte etwa der Altkonservative Friedrich Sieburg feierlich fest: „Eine Freiheitsregung hat sich in unserem Leben bemerkbar gemacht. Sie ist bisher fast immer ausgeblieben, wenn man glaubte, auf sie hoffen zu dürfen. Aber nun ist sie zu spüren.“
„Spiegel tot, Freiheit tot“
An den Hochschulen verging kein Tag ohne Sit-ins, Demonstrationen und Protestaufrufe. „‚Spiegel‘ tot, Freiheit tot“, „Sie schlagen den ‚Spiegel‘ und meinen die Demokratie“ oder „Augstein raus, hinein mit Strauß“ wurden zündende Parolen. Tausende Studenten strömten zu Podiumsdiskussionen. Da wollten die Professoren nicht zurückstehen. Hunderte unterschrieben Protestaufrufe, 35 Rechts- und Staatswissenschaftler an der Universität Münster, 54 an der Universität Tübingen, 285 Professoren und Dozenten in Heidelberg. Insgesamt mehr als 600 Wissenschaftler. Schriftsteller und Künstler traten für den „Spiegel“ ein. Der konservative Schriftsteller Hans Habe, den der „Spiegel“ vielfach geschmäht hatte, schrieb: „Die Aktion gegen den ‚Spiegel‘ und seinen Herausgeber stellt den größten Skandal seit der Verhaftung Carl von Ossietzkys dar.“
Mut fassten wir damals auch, als die „Dummheiten, Blamagen und Verlegenheiten der Justiz“ sichtbar wurden, die Richard Schmid, Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart, den Angreifern vorhielt. Denn beim Vollzug der Haftbefehle gegen insgesamt sieben „Spiegel“-Leute war vieles ins Possenhafte geraten. Den Herausgeber Augstein konnte die geballte Polizeimacht zunächst nicht finden, obwohl er in Hamburg war, nur nicht an seinem Schreibtisch. In Düsseldorf hielten die Staatsschützer den Anzeigenvertreter Erich Fischer für Augstein, obschon sich die beiden kein bisschen ähnlich sahen – Fischer mächtig und groß, Augstein zierlich und klein – und nahmen ihn trotz aller Beteuerungen, er heiße Fischer, auf die Wache mit. Verdachtsgrund: Er fuhr einen Mercedes mit Hamburger Nummer als Dienstwagen.
Polizisten prüften die Einmachgläser im Keller
Vor dem Hamburger Pressehaus begann eine wilde Verfolgungsjagd der Staatsschützer auf einen Wagen, in dem sie die Chefredakteure Jacobi und Engel vermuteten. Im Kleingartenverein „Kolonie Goldkoppel“ entstieg dem Auto indes der Maurerpolier Werner Dolata – er musste fünf Mark Strafe wegen überhöhter Geschwindigkeit zahlen. Im Haus von Jacobi hoben die Polizisten die Matratzen aus den Kinderbetten, wendeten das Heu im Ponystall um und prüften die Einmachgläser im Keller.
Und dann erst am Tatort selbst, dem Pressehaus! Da hatte man übersehen, dass es einen siebten Stock gab, in dem die Wirtschaftsredaktion saß. Ressortchef Leo Brawand, der von dem Angriff Wind bekommen hatte, verkroch sich in seinem Schrank, wurde nicht entdeckt und entwich schließlich unter Bruch des Siegels an seiner Zimmertür. Nicht entdeckt wurde auch ein Film, den der „Spiegel“-Fotograf Frank Müller-May während des polizeilichen Überfalls aufgenommen hatte – eine Fotoassistentin schmuggelte ihn im Büstenhalter nach draußen.
Schließlich fanden die Strafverfolger aber doch noch, was sie suchten: die Spur zu einem Geheimnisträger im Verteidigungsministerium, der dem „Spiegel“ die angeblichen Staatsgeheimnisse verraten haben könnte: Im Safe von Augstein lag ein Papier mit Niederschriften, die Ahlers von seinen Gesprächen mit Oberst Martin angefertigt hatte.
Mit Martins Informationen war Ahlers äußerst behutsam verfahren. Er hatte 13 für den „Fallex“-Titel wichtige Einzelfragen dem Hamburger Residenten des Bundesnachrichtendienstes, Oberst Adolf Wicht, vorlegen lassen, dessen Zentrale in Pullach bei München nur zwei der 13 Punkte als kritisch unter dem Blickwinkel der Geheimhaltung bewertete. Ahlers hatte die Beanstandung beherzigt. Beide Offiziere, Martin und Wicht, wurden verhaftet. Den Entwurf zu seinem Artikel hatte Ahlers noch dem Hamburger Innensenator und SPD-Militärexperten Helmut Schmidt gezeigt, der lediglich zwei Punkte für bedenklich hielt. Gegen ihn wurde deshalb wegen Beihilfe zum Landesverrat ermittelt.
Wem hatten wir den Schlag zu verdanken? Schon früh hatte der Würzburger Rechtsprofessor Friedrich August von der Heydte den „Spiegel“ angezeigt. Er war ein konservativer Ultra und ein altgedienter Militärexperte – Hitler persönlich hatte dem Fallschirmjäger-Offizier am 18. Oktober 1944 das Eichenlaub zum Ritterkreuz überreicht, inzwischen war er Brigadegeneral d. R. der Bundeswehr.
Etwa zeitgleich war man in der Bundesanwaltschaft auf „Fallex“ aufmerksam geworden. Da die Bundesanwälte sich in Militärdingen nicht firm fühlten, begehrten sie fachliche Hilfe vom Verteidigungsministerium. Dort entdeckte ein Oberst Hans-Joachim von Hopffgarten, ein glühender Strauß-Anhänger, nicht weniger als 41 Staatsgeheimnisse, die in dem „Fallex“-Artikel verraten worden seien. Also meinte Strauß‘ Staatssekretär Volkmar Hopf, dass am Tatbestand des Landesverrats kein Zweifel bestehe. Schon am 12. Oktober beklagte sich Minister Strauß bei Adenauer, der „Spiegel“ habe „einen ungeheueren Verrat brisanter militärischer Geheimnisse“ begangen.
Natürlich war der Artikel eine „Kriegserklärung“ an Strauß, wie der Autor David Schoenbaum schreibt. De facto war dieser Krieg seit 1957 voll im Gange. Die Krawallrhetorik des Machtmenschen Strauß, sein Hang zu ungehemmtem Draufschlagen auf wirkliche oder nur vermutete Gegner, zeigten einen Politiker, der nach überwiegender Meinung im „Spiegel“ – aber keineswegs nur hier – für ein Ministeramt ungeeignet, als Verteidigungsminister gefährlich und als denkbarer Nachfolger Adenauers unmöglich war. Der württembergische Altliberale Reinhold Maier warnte damals: „Wer so spricht, der schießt auch.“
In einer ganzen Serie von Artikeln enthüllte der „Spiegel“ Fälle von Amts- und Machtmissbrauch des Ministers, seine Neigung, Spezis zu begünstigen und Gegner zu verdammen und sich selbst dabei stets als höchst korrekt, wenn nicht gar als Opfer hinzustellen. Ein wenig obsessiv mochte unsere Kampagne gegen Strauß schon sein. Augstein selbst räumte das in einem berühmten, meist nur unvollständig zitierten Satz ein: „Wir waren das Sturmgeschütz der Demokratie – mit verengten Sehschlitzen.“
Geheimnisse und die Mosaik-Theorie
Nach der damaligen Rechtslage half es dem „Spiegel“ nicht, dass er in einer umfassenden Dokumentation anhand von fast 35.000 Zeitungsausschnitten nachwies, dass sämtliche 41 angeblichen Staatsgeheimnisse schon zuvor irgendwo veröffentlicht waren, also so geheim gar nicht mehr sein konnten. Es galt die sogenannte Mosaik-Theorie: Ein Geheimnis konnte auch verraten, wer an sich bekannte Details zu einem neuen Bild mosaikhaft zusammenfügte.
Langsam, aber sicher geriet die „Spiegel“-Affäre in ein auch heute noch schwer zu durchleuchtendes Dickicht widersprüchlicher Verlautbarungen der Bundesanwaltschaft und des Verteidigungsministeriums. Am 18. Oktober erklärt Strauß‘ Staatssekretär Hopf den Bundesanwälten: „Der Herr Bundeskanzler ist sehr besorgt und hat sich für ein nachdrückliches Einschreiten ausgesprochen.“ Die Amerikaner hätten nämlich angedroht, den Deutschen Nato-Geheimnisse künftig nicht mehr zur Verfügung zu stellen – das war die erste der großen Lügen, die den Staatssekretär schließlich sein Amt kosteten; allerdings fiel er sanft: Er wurde Präsident des Bundesrechnungshofs.
Am 23. Oktober tippte Staatsanwalt Buback auf seiner kleinen Schreibmaschine persönlich die Anträge auf Durchsuchung des „Spiegel“ und die Verhaftung der Redakteure. Geschäftsstelle und Kanzlei wurden nicht informiert. Niemand sollte Wind bekommen von dem großen Schlag.
„Einstein“, „Dreifuß“ und „Viertakt“
So erhielt die auf Augstein angesetzte Observationsgruppe den Tarnnamen „Einstein“, leitende Redakteure hießen „Dreifuß“, „Viertakt“ und „Fünfkampf“, Augstein selbst war „Libelle“, Autor Ahlers „Fliege“, Ko-Autor Schmelz „Wespe“. Der neben Augstein hauptbeschuldigte Ahlers konnte in Hamburg nicht dingfest gemacht werden. Er machte mit seiner Frau Urlaub im Hotel „Los Nidos“ im spanischen Torremolinos. Dort ließ ihn Strauß über seinen Militärattaché in Madrid, Oberst Achim Oster, der die spanische Polizei mit falschen Angaben mobilisierte, nachts um drei Uhr festnehmen.
Kompetenzüberschreitung und Amtsmissbrauch kamen durch Strauß‘ Befehle an Oster klar zu Tage. Der Minister nächtens am Telefon: „Herr Oberst Oster, ich komme soeben vom Bundeskanzler, und dies, was ich jetzt sage, ist ein dienstlicher Befehl zugleich im Namen des Bundeskanzlers.“ Es sei „von entscheidender Bedeutung“, dass Ahlers so schnell wie möglich festgesetzt werde, damit der Generalbundesanwalt erfahre, wo das Loch im Verteidigungsministerium sei. Augstein sei schon in Kuba. Das Reizwort „Kuba“ stammte vermutlich aus einem abgehörten Telefonat, in dem der Spanienurlauber Ahlers den Chefredakteur Jacobi gefragt hatte, ob er wegen der Kubakrise zurückkommen solle. Daraufhin Jacobi: „Nicht nötig, Rudolf hat schon was gemacht.“
Um fünf Uhr morgens konnte Oster seinem Minister telefonisch den Vollzug melden. Es war Kidnapping von Amts wegen, bei dem Strauß zunächst jede Beteiligung abstritt und sie erst nach und nach vor dem Bundestag zugab. Er war erledigt.
Aber offenkundig war auch: Alle Kontrollen gegenüber einer machtversessenen Exekutive hatten in unvorstellbarer Weise versagt. Und das wurde auch noch für normal erklärt, als dem CSU-Bundesinnenminister Hermann Höcherl vor dem Bundestag das berüchtigte Wort entfuhr, Regierungen müssten eben manchmal „etwas außerhalb der Legalität“ handeln. Heute wäre eine solche Äußerung undenkbar.
Damals forderte selbst der Sozialdemokrat Herbert Wehner behutsam, gegen die Informanten müsse ebenso energisch vorgegangen werden wie gegen die Journalisten. Allzu engagiert mochte sich die SPD zunächst nicht äußern – sie war auf dem langen Marsch zur Regierungstauglichkeit. Erst mit Verzögerung stellte sie im Bundestag 18 Dringlichkeitsanträge, die zu den erregtesten, teilweise tumulthaften Debatten der damaligen Zeit führten.
Da brachte die FDP, Adenauers Koalitionspartner, eine politische Klärung. Sie zog ihre fünf Minister aus der Regierung ab, vor allem freilich aus Protest dagegen, dass Strauß‘ Staatssekretär Hopf seinem Kollegen im Justizministerium und den Bundesanwälten dringend angeraten hatte, den zuständigen Justizminister der FDP, Wolfgang Stammberger, über die anlaufende Aktion gegen den „Spiegel“ nicht zu informieren, ob auf Adenauers Weisung oder nicht, ist bis heute ungeklärt.
Verbissen hatte sich der alte Kanzler vor seinen Minister gestellt. Im Bundestag rief er: „Wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande“ und: „Wenn von einem Blatt, das in einer Auflage von 500.000 Exemplaren erscheint, systematisch, um Geld zu verdienen, Landesverrat betrieben wird . . .“, der Rest des Satzes ging in Empörungsrufen und lautem „Pfui, Pfui“ der Opposition unter. Adenauer blieb bei seiner Linie: „Gott, was ist mir schließlich Augstein. Der Mann hat Geld verdient auf seine Weise. Es gibt Leute, die ihm dabei geholfen haben, indem sie den ‚Spiegel‘ abonniert haben und Anzeigen hineingesetzt haben.“ Es war offenkundig: Der Kanzler wollte Leser wie Anzeigenkunden des „Spiegel“ abschrecken, also das Blatt erledigen.
Die „Spiegel“-Affäre endete im Wesentlichen am 13. Mai 1965. An diesem Tag verkündete der Dritte Strafsenat des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe: „Die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen die Angeklagten Augstein und Ahlers wird abgelehnt. Sie werden mangels Beweises außer Verfolgung gesetzt. Die Kosten des gegen sie gerichteten Verfahrens werden der Staatskasse auferlegt.“ Es war das erste Mal, dass das höchste Strafgericht einen vom höchsten Strafverfolger, dem Generalbundesanwalt, unterschriebenen Antrag auf Eröffnung des Hauptverfahrens ablehnte.
Strauß: Amtsanmaßung und der Freiheitsberaubung im Amt
Am 2. Juni 1965 kam die Bonner Staatsanwaltschaft aufgrund einer Anzeige zu der amtlichen Feststellung, dass sich Strauß im Fall Ahlers objektiv der Amtsanmaßung und der Freiheitsberaubung im Amt schuldig gemacht habe. Doch die Entlastung folgte auf dem Fuß: Der Minister müsse straffrei bleiben, weil ihm nicht zu widerlegen sei, dass er sich in einem „unvermeidbaren Verbotsirrtum“ befunden haben könnte. Das war ein Balanceakt in der Grauzone des juristisch Möglichen.
Ganz umsonst gelitten hatte der „Spiegel“ aber doch nicht. 1968 wurden die Landesverratstatbestände des Strafgesetzbuchs neu gefasst, und dabei der Geheimnisbegriff enger definiert, sodass das Risiko für Journalisten, die sich auf militärisches Gebiet vortrauen, seither geringer ist, als es 1962 war.
Als der Sturm auf den „Spiegel“ begann, wurde offenbar: Das gepriesene Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland schützte deren Bürger doch nicht, wie angenommen, vor Exzessen der Staatsgewalt. Viele der Amtsträger waren noch dem alten Denken verhaftet, nach dem das Interesse des Staates dem Informationsrecht des Bürgers und der Informationspflicht der Presse grundsätzlich übergeordnet sei.
Als die Affäre zu Ende ging, gab es eine positive Erkenntnis: Verfassungswidrige Exzesse der Staatsgewalt würden nicht mehr hingenommen. Sozusagen über Nacht hatte sich der brave, ordnungsliebende Bürger zum Rebellen gewandelt, der gegen die angebliche Weisheit von Richtern, Polizisten und Bürokraten mit Erfolg aufbegehrte und diesen Protest offenbar auch noch für völlig legitim hielt. Und, umstürzender noch, höchste deutsche Richter – wenn auch beileibe nicht alle – schlossen sich dieser Auffassung an.
„Die Staatsgewalt verlor für immer den Schimmer der Unfehlbarkeit“
Zu brutal und tollpatschig zugleich hatte die Justiz losgeschlagen, zu offenkundig war sie dem Verteidigungsminister gefällig gewesen. Der Publizist Sebastian Haffner, dem „Spiegel“ nicht sehr gewogen, schrieb damals: „Das Gesamtbild ist nicht das eines rechtsstaatlichen Ermittlungsverfahrens, sondern eines von Vernichtungswillen getragenen kriegsähnlichen Überfalls der Staatsgewalt auf missliche Staatsbürger, wie sie dem Deutschen aus der nationalsozialistischen Zeit geläufig ist.“ Nun aber kündigte sich eine Zeitenwende an. „Die Staatsgewalt verlor für immer den Schimmer der Unfehlbarkeit“ bilanzierte Rudolf Augstein.
Strauß verlor über die Affäre sein Ministeramt, Kanzler Adenauer überlebte sie politisch nur um ein Jahr. Vier Jahre später wurde der ehemalige exildeutsche Sozialdemokrat Willy Brandt Außenminister der Großen Koalition. Conrad Ahlers, einer der beiden Hauptbeschuldigten von 1962, stieg zum Vizechef des Bundespresseamts auf. Nochmals zwei Jahre danach brach die Revolte der Studenten los. Und einen Schlag der Staatsgewalt gegen die Pressefreiheit wie in der „Spiegel“-Affäre hat nie wieder eine Regierung versucht.
Die Affäre hatte noch ein Nachspiel: Als dem alten Ex-Kanzler der Ex-Häftling Ahlers über den Weg lief, fragte er ihn treuherzig: „Nun sagen Sie doch mal, Herr Ahlers, ist das wirklich wahr, dass Sie in Spanien im Gefängnis waren?“ Ahlers verschlug es die Sprache. Aber Adenauer ließ nicht locker: „Wer hat denn das bloß gemacht, dass Sie ins Gefängnis mussten?“
Dieser Text erschien zuvor bei „Süddeutsche.de„.