Die nostalgische Generation
Nostalgie ist eine der Eigenschaften, die den Menschen vom Tier unterscheiden, weil er ein Bewusstsein seiner selbst und für seine eigene Geschichte besitzt. Die Vergangenheit sieht im Rückblick immer hübscher aus als die Gegenwart. Meist auch hübscher, als sie eigentlich war. Früher war alles besser und zwar schon immer – von extremen Erlebnissen wie Kriegen oder Hungersnöten einmal abgesehen. Vermutlich deshalb, weil früher schon vorbei ist und man es ja überlebt hat. So schlimm kann es also nicht gewesen sein. Die Vergangenheit wirkt vertraut und deshalb nicht bedrohlich, im Gegensatz zur Zukunft, die ungewiss und damit furchteinflößend ist.
Vermutlich ist der Mechanismus einer, der einst Steinzeitmenschen davor bewahrte, durch schreckliche Erlebnisse so nachhaltig traumatisiert zu werden, dass sie dadurch lebensunfähig geworden wären. Es war einfach gesünder, den Hungerwinter oder die Begegnung mit dem Säbelzahntiger im Rückblick nicht mehr ganz so schlimm finden zu müssen.
Wahrscheinlich wären wir ohne Nostalgie alle depressiv.
Nostalgie führt aber heute auch dazu, dass die Digitalisierung bei vielen Menschen geradezu wütende Ablehnung auslöst. Meine These, dass alle Datenträger langsam aber sicher verschwinden werden und am Ende nur reine Datensätze übrigbleiben werden, praktisch unabhängig von einem konkreten Trägermedium, werden manche Leser mit einem Stirnrunzeln oder heftigem Kopfschütteln zur Kenntnis genommen haben. Für jeden, wirklich jeden sterbenden Datenträger finden sich Fans, Aficionados, manchmal Besessene, die bereit sind, ihn bis aufs Blut zu verteidigen. Datenträgernostalgiker.
Die Predigten der Datenträgernostalgiker
In ihren Predigten kommt immer das Wort „niemals“ vor, meistens kombiniert mit Begriffen wie „Sinnlichkeit“, „haptisch “ oder „emotional“. Es mag paradox anmuten, aber gerade in meiner Generation ist das sehr häufig. Beispielsweise gibt es in der Altersgruppe unter 40 eine große Zahl von glühenden Verehrern der Vinylschallplatte.
Vinyl erlebt seit Jahren einen sensationellen Aufschwung, Plattenläden und Versandhändler verzeichnen erfreut und verwundert, dass eine wachsende Zahl von Menschen lieber einen großen, glänzenden Datenträger aus Plastik in einer Papphülle kauft als eine CD oder ein Bündel Dateien. Plattenspieler sind jetzt Luxusobjekte, die Tausende, ja Zehntausende von Euro kosten können. Die Verfechter der Schallplatte preisen einen Klang, den sie als „wärmer“ empfinden, die haptischen Eigenschaften der Platten selbst, ihr Gewicht, natürlich die großen Hüllen, das Artwork, die „Liner Notes“.
Dass man mit der gleichen Begründung Fernbedienungen für TV-Geräte ablehnen könnte, kommt Vinylnostalgikern nicht in den Sinn. DJs, die darauf verweisen können, dass das Handwerk des Musikmischens nun einmal traditionell mit Plattenspieler, „Pitch Control“ und Crossfader ausgeübt wird, sind die wenigsten von ihnen.
Rascheln, blättern, riechen
Der meistverteidigte Datenträger aber ist derzeit das Zeitungspapier: Immer wieder ist zu lesen, das Internet könne die Zeitung als Nachrichtenmedium niemals ersetzen, weil Papier so schön raschelt, weil man Seiten von Hand umblättern muss, wegen des Geruchs der Druckerschwärze. Und weil, das allerdings wird nie so recht begründet, Journalismus auf Papier irgendwie „besser“ sei.
Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, pries sogar die Langsamkeit des Setz- und Druckprozesses einmal als unschlagbares Argument für die Zeitung und gegen das Netz. Nur die langsame Zeitung, so seine Argumentation, schaffe die Zeit zum Nachdenken, die guten Journalismus möglich mache. Die Zeitung sei „das verzögernde Moment in der gesellschaftlichen Kommunikation“. Das mache sie „für immer unverzichtbar“.
Das erinnert ein bisschen an die These, Platten klängen besser, weil man sie von Hand umdrehen muss.
Ins gleiche Horn stieß der ehemalige Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung“, Hans-Werner Kilz, bei einer Veranstaltung im September 2010. Die Zeitung, die auf Papier gedruckte wohl gemerkt, sei ein „separates Geschäft und eine völlig eigene Form von Nachrichtenjournalismus“, sagte Kilz. Und sprach dann in einem Nebensatz auch an, worin vermutlich das eigentliche Problem mit dem Internet liegt: Für Online-Werbung wird viel schlechter gezahlt als für gedruckte Anzeigen.
Für Kilz ist das jedoch nebensächlich: „Selbst wenn die Online-Angebote genug Geld einbringen würden, um alles allein produzieren und auch senden zu können, ist doch eines klar: Der Nachrichtenjournalismus im Netz wird nie so in die Tiefe gehen oder den investigativen Journalismus gar ersetzen können.“ Warum das so sein sollte, bleibt unklar ebenso wie die Frage, woher Kilz die Erkenntnis hat, dass es im Internet keinen investigativen Journalismus gebe.
Aus einem Holz wie „Mein Kampf“
Es ist verblüffend, wie intensiv der Datenträger Papier mit bestimmten, geradezu mythischen Eigenschaften aufgeladen wird – obwohl doch auch die „Bild“-Zeitung, Hardcore-Pornografie und sogar „Mein Kampf“ auf Papier gedruckt werden. Die einzige Erklärung ist, dass hier wieder einmal jemand der so unbedingten wie anlasslosen Überzeugung ist, dass Papier als Datenträger Bildschirmen überlegen sei. Dass Nachrichten irgendwie besser, wahrer, wertvoller werden, wenn man sie auf Papier druckt, das danach quer durchs Land gekarrt werden muss, damit die Papierstapel frühmorgens überall auf den Türschwellen der Abonnenten abgelegt werden können.
Die Tageszeitung ist in ihrer Darreichungsform längst ein Anachronismus, und diese kaum zu leugnende Erkenntnis bereitet so manchem solche Schmerzen, dass er sein Heil in begründungslosen Behauptungen sucht.
Ich habe dafür viel Verständnis. Ich bin, was das Papier angeht, selbst Datenträgernostalgiker. Ich habe eine Tages- und eine Wochenzeitung abonniert und natürlich den „Spiegel“.
Das Bücherregal ist das raumgreifendste Möbelstück in meinem Wohnzimmer, und ich habe in meinem ganzen Leben noch nie ein Buch weggeworfen. Ich liebe Bücher in Papierform und möchte sie auch in Zukunft nicht in einem Standardfont auf einem E-Ink-Bildschirm lesen oder gar auf einem PC-Monitor. Sie brauchen keine Batterie, Sand macht ihnen nichts aus, und man kann sie sogar in die Badewanne fallen lassen und mit einem bisschen Glück anschließend trotzdem noch zu Ende lesen. Mit einem Kindle geht das nicht.
Anachronismen als universelle Zeichen
Aber ich bin auch Realist: Sobald Preis, Qualität und Komfort stimmen, werden gedruckte Bücher den gleichen Weg gehen wie Vinylschallplatten: Sie werden zu kostspieligen Nostalgieobjekten werden, die sich nur leistet, wer bereit und fähig ist, für nostalgisches Wohlgefühl einen Aufpreis zu entrichten.
Die letzte Zuflucht derer, die ihren Lieblingsdatenträger vom Untergang bedroht sehen, sind stets ästhetische Argumente.
Immer gibt es haptische, olfaktorische oder emotionale Gründe dafür, dass das Alte besser, schöner, echter ist als das Neue. Es gibt sogar Menschen, die Disketten lieben. Als Sony 2010 ankündigte, die Produktion von 3,5-Zoll-Disketten endgültig einzustellen, erschienen weltweit melancholische Abgesänge. Ein Redakteur der US-IT-Website „ZDNet“ bekannte: „Na gut, ich nehme noch manchmal eine in die Hand, nur um die Metallabdeckung hin und her schnalzen zu lassen.“ Die Diskette wird in Sammlungen überleben – und, wie der gute alte Telefonhörer, als anachronistisches Piktogramm. Schließlich ist sie unser universelles Zeichen für „Speichern“. Unsere Kinder werden uns eines Tages fragen, warum.
Dieser Text ist ein überarbeiteter Auszug aus dem Buch „Nerd Attack! Eine Geschichte der digitalen Welt vom C64 bis zu Twitter und Facebook“.