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Die Tabubruch-Gesellschaft

Alle Naslang tauchen sie auf. Alle paar Wochen oder Monate sind neue Akteure zur Stelle, die in der von Events und Entertainment geprägten Gesellschaft Tabus zu brechen angeben, in einer Steigerungsform gern „letzte Tabus“ genannt. Oft berühren sie die nach wie vor klassischen Bereiche des Tabuisierten: Sexualität, Tod und Religion.

Werden Tabubrüche oder Tabuansprüche entdeckt, entstehen üblicherweise auf- und absteigende Kurven der Empörung wie Faszination, es wird gefragt: Darf ein Fußballspieler, darf ein Soldat der Bundeswehr offen homosexuell sein? Geht eine Autorin zu weit, in der Art, wie sie Körpersäfte und intime Feuchtgebiete schildert? Müssen Jugendliche in der Schule über Transsexualität aufgeklärt werden? Sollen sie Killerspiele und Pornos konsumieren dürfen? Darf ein Mann offen über Potenzprobleme sprechen? Ist es zulässig, das demente Altern zu literarisieren? Kann es legitim sein, verstorbene Menschen zu plastinieren? Dürfen religiös besetzte Symbole karikiert werden? Gehört ein Mohammed-Kopf aus Pappmachee auf eine Opernbühne? Ist es in Ordnung, wenn Frauen barbusig im Park liegen, obwohl das fromme Leute stört?

Als politische „Tabus“ gelten ethische Gebote und Verbote, wie sie sich insbesondere in Deutschland auf den öffentlichen, verbalen und symbolischen Umgang mit dem Zivilisationsbruch des Holocaust beziehen. Wer etwa erklärt, seine Gruppe oder Partei sei „so erfolgreich“ wie die NSDAP, der wird sich binnen kürzester Zeit entschuldigen müssen. Wer die erstaunlich groteske These zusammenbastelt, wonach ein bundesdeutscher Schuldkomplex Ursache für deutsche Solidarität mit dem Projekt Europa sei, wie unlängst der habituelle „Tabubrecher“ Thilo Sarrazin, der kann sichergehen, weitere Schwankungen der Empörung und Faszination anzuschieben.

Wessen Tabu gilt?

In jeder Gesellschaft und Gruppe, auch in postmodernen Industriegesellschaften, in denen individuelle Freiheit und öffentliche Meinungsfreiheit schier schrankenlos scheinen, behaupten Tabus, sich wandelnde tabuisierte Bereiche, ihre Wirkmacht. Da diese Gesellschaften enorm heterogen und polyvalent sind, stellt sich die Frage nach dem Zulässigen und Normativen auch als eine des Machtgefälles zwischen Gruppen: Wessen Tabu gilt? Und: Sind Tabus im Sinne der Aufklärung stets Anzeichen für irrationale Affekte, politische Denkverbote? Oder können Tabus auch sinnstiftend sein, soziale Wirkung besitzen und Integrität beschützen?

Als Sigmund Freud 1913, ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg, seine Studie „Totem und Tabu“ veröffentlichte, die den programmatischen Untertitel „Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker“ trug, war das von Ethnologen inspirierte Werk eine Provokation. Sollte der durchschnittliche, neurotische Zeitgenosse im zivilisierten Europa ähnlich primitiv organisiert sein wie ein Wilder im Pazifik oder im Dschungel der Tropen?

Universale Basis von Tabus

Als universelle Basis des Tabus – eines nicht rational begründeten, ungeschriebenen Verbots oder eines Kodex von Verboten – sah Freud die Ambivalenz von Gefühlsregungen an. Inzest und Mord etwa seien verpönt, da genau solche ödipalen oder aggressiven Wünsche unbewusst eine starke Rolle spielen, Wünsche, die es nicht geben darf, die als unzulässig und nicht normkonform gelten. Zuwiderhandlung gegen das Tabu würden Ruf, Selbstbild und soziale Existenz bedrohen. Das Adjektiv „verpönt“, das heute unakzeptabel im nichtjuristischen Sinn meint, geht zurück auf das Lateinische „poena“, die Strafe.

Den Begriff „tabu“ wiederum, mit dem Freud sich auseinandersetzte, hatten Ethnologen während der Kolonialepoche in polynesischen Sprachen ausfindig gemacht, wo „tapu“, bezogen auf Objekte oder Orte die Bedeutung von „heilig“, „gefährlich“ oder „unberührbar“ besaß. Ähnliche Konzepte finden sich in allen Gesellschaftsformen, schon vor der Schrift. Anschaulich sind religiöse und säkulare Speisetabus: Ob ein Erdenbewohner das Fleisch von Pferd, Schwein, Affe, Rind oder Hund verzehren darf oder nicht, hängt davon ab, welcher Kodex in seiner Gruppe gilt und wie strikt er ausgelegt wird.

Werden Gebote und Verbote in Schriftform kodifiziert, bilden sie Normenkataloge, die „Tabus“ den Charakter gesetzlicher Vorschriften verleihen. Mit Verbot und Strafe belegt werden können Ehebruch, Homoerotik, Onanie, Blasphemie, Ketzerei oder der Widerstand gegen feudale, klerikale, patriarchale Machtverhältnisse. Kennzeichnend für ein strenges „Tabu“ ist die sozial existenzielle Bedrohung beim Übertreten, Missachten. In der Redeweise „Ich sterbe vor Scham“ ist dieser Sinn offenbart: Der ein Tabu gebrochen hat, stirbt einen sozialen Tod. So lautet der Titel eines Buches, das der amerikanische Autor Robert R. Arthur 2007 zu modernen Tabus herausbrachte: „You will die. The Burden of Modern Taboos“. Verbote und Gebote garantieren Kohäsion und Kontinuität für Gesellschaften und Gruppen, sie arbeiten mit Unterlassungsanweisungen und Bedrohungsszenarien, die über Inklusion und Exklusion – und damit über Machtfragen – entscheiden.

Normen sind beweglich

Wo in der Gegenwart öffentlich ein „Tabubruch“ geortet wird, ist verwaschene Begrifflichkeit am Werk, die mit der ethnologischen oder Freudianischen wenig gemein hat. In einem semantischen Wok werden hier Kategorien verrührt, ganz gleich, ob es nun darum geht, dass Gruppengefühle oder Gesetze verletzt wurden oder dass mit Regeln, Konventionen, Traditionen gebrochen wurde. So fällt die politische Dimension realer – positiver wie negativer – Tabubrüche begrifflich in eins mit eher präpolitischen Affekten und Affronts, die unter das Rubrum Geschmacklosigkeit, Unethisches oder Taktlosigkeit fallen.

Normen und Tabus sind beweglich, sie verändern ohne Unterlass Gestalt, Gehalt und Gegenstand. In seiner umfangreichen Studie zum Prozess der Zivilisation von 1969 untersucht der Kultursoziologe Norbert Elias den Wandel von „Peinlichkeitsschwelle und Schamgrenze“ seit dem Mittelalter, er benennt das Heraufsetzen der Schamgrenze als konstitutiv für diesen Prozess. War es im Mittelalter Usus, in einen Hemdzipfel zu schnäuzen oder auf den Boden der Gastwirtschaft zu spucken, wäre das heute „tabu“, ein Affront.

Galt es noch in der frühen Neuzeit als normal, wenn auch ältere Kinder und Erwachsene in derselben Kammer nächtigen, wird das nun als deviant betrachtet. Einige Konstanten bleiben im Tabu-Wandel versteckt: „Heidnische Fetische“ gelten aufgeklärten Gesellschaften als tabuisierte Idolatrie, anerkannt dagegen bleiben weiterhin sakrale Objekte wie Reliquien, Messwein, Oblaten oder Rosenkranz. Im Lauf des Übergangs von der höfischen Aristokratie zum Absolutismus und zum Bürgertum, das gleiche Rechte für sich forderte, ziehen Anteile höfischer Umgangsformen in das allgemeine „Triebhaushalten“ ein, wie Elias es nennt, es geht dabei um das Regulieren und Modellieren der Affekte, um Selbstkontrolle.

Mit der aufgeklärten Moderne dann sind neue Normen und Verbote eingewandert in die Tabuzone, die meisten deckungsgleich mit Verstößen gegen Menschenrecht und Rechtsstaat. Normverletzend, normenbrechend – „tabu“ geworden – sind etwa Rechtsradikalismus, Rassismus und Antisemitismus, das offene Diskriminieren einst marginalisierter Gruppen wie Homosexuelle, Behinderte oder Frauen. Für illegitim und unethisch erklärt wurden private Angriffe auf die psychische und physische Integrität des Anderen, etwa der Gebrauch von Gewalt gegen Frauen, Kinder, Hausangestellte und Lehrlinge, wie er noch vor wenigen Jahrzehnten mit Selbstverständlichkeit gestattet war.

Eine begehrte Ware

Der im Alltag heute so beliebte Ausspruch „Das geht gar nicht!“ – oft mit ironischer Betonung auf dem Wort „gar“ – kann sich auf eine geschmackliche Verirrung oder eine politisch inakzeptable Haltung beziehen, er impliziert dabei in seiner Mischung aus spottender Distanzierung und forcierter Abscheu, dass es im Belieben des Anderen liegt, sich so „unmöglich“ zu verhalten, kleiden und so weiter. Im Vordergrund steht hier der Distinktionsgewinn gegenüber dem, der nicht kapiert, was „gar nicht geht“.

Vom überkommenen „Tabu“ angesichts dessen, was „heilig“ oder „gefährlich“ ist, muss und will die coole Freiheit allerdings nichts wissen. In der Medienwelt ist der „Tabubruch“ im Gegenteil begehrte Ware geworden. Mehr und mehr wendet man sich in Talkshows und Coachingshows Schamfragen und dem Intimbereich zu – nur gelegentlich wehrt sich ein Talkshow-Teilnehmer gegen eine Frage: „Das ist zu persönlich“, „Das ist zu privat.“ Gerade im öffentlichen Raum werden Limits ausgehandelt und verschoben. Dem Heraufsetzen der Schamgrenze, das Norbert Elias als Symptom der Zivilisation beschrieb, folgt ein mediales Herabsetzen der Schamgrenze im medialen Geplauder. Da offenbaren Konsumenten ihre Esssucht, Spielsucht, Eifersucht, Eltern sprechen über „schwierige Kinder“, Geschiedene über ihre Scheidung, Alte über das Altern, Kranke über ihre Krankheit, Insolvente über ihr finanzielles Desaster. Je heikler der Gegenstand, desto höher die Quote, scheint die Kalkulation der Sender zu lauten. Verkauft werden die Formate als Tabubrüche in Serie, und es kann scheinen, als sei die demokratische Agora um lauter produktive Dimensionen medial erweitert: „Endlich wird mal darüber gesprochen!“

Produktiv Tabus brechen?

Nach diesem Schema stellt sich auch der Autor Sarrazin vor die Öffentlichkeit, wenn er nun erklärt, es müsse endlich über die monetäre Untauglichkeit der Bevölkerung südlicher Regionen gesprochen werden, es müsse anerkannt werden, dass „germanische“ Völker weniger korrupt seien als „romanische“, deutet er dabei an, Deutschland ließe sich von seinen angestammten „germanischen“ Fähigkeiten durch einen historischen Schuldkomplex abbringen. Indem der Autor unter anderem Max Webers Klassiker „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1904) trivialisiert und seine Thesen mit akuten, aktuellen Ressentiments anreichert, schürt er diese noch. Keineswegs aber bricht das produktiv ein „Tabu“.

Von einem produktiven Tabubruch ist mit Recht die Rede, wo bisher auf destruktive, blockierende Weise geschwiegen wurde, etwa wenn der Bürgermeister einer westeuropäischen Hauptstadt der Öffentlichkeit mitteilt, er sei schwul, und das sei „auch gut so“. Und von einem Tabu ist mit Fug die Rede, wo etwa ein Fußballspieler dasselbe nicht tun kann, ohne schwere soziale Sanktionen in seinem Umfeld zu befürchten. Werden Kinder sexuell ausgebeutet, begeht die Community der Täter einen negativen Tabubruch. Dass sie davon weiß, markiert sie unter anderem durch das Schweigegebot an ihre Opfer. Brechen die Betroffenen das Schweigen, ist das ein positiver, konstruktiver Tabubruch, ein notwendiger im Wortsinn: die Not wendend. Der negative Tabubruch ist immer mit Regression konnotiert, dem Tabuverletzer mangelt es an erwachsener Kontrolle über seine Triebe, seine Ausscheidungen, seine Aggressionen, seine Geltungssucht und so fort. Die Folge sind irrationales, infantiles, unethisches bis kriminelles Verhalten.

Über Geld spricht man nicht

An Thilo Sarrazins aktuellem, vermeintlichen „Tabubruch“ wird historische Regression sichtbar, und es werden dabei mehrere moderne Tabusphären instrumentalisiert: finanzielle Schulden (Euro-Krise), historische Schuld (Holocaust) und neorassistische Kulturalismen („Die Griechen/Spanier/Italiener taugen nichts“).

„Über Geld spricht man nicht“: Dieses im Kapitalismus gängige Tabu verleiht dem Sprechen über eigene Schulden, den Bezug von Transferleistungen, das Spenden von Geld, die Höhe des Gehalts oder des Vermögens eine peinliche, intimisierende Komponente. Sogar eine „Initiative Vermögender“, die ihre Steuerprivilegien anstößig finden, muss – vor zumindest ihresgleichen – „wider das Tabu der Vermögensbesteuerung“ angehen, wie es im April in einer Pressemitteilung der Gruppe hieß. Eine humorbegabte, deutsche Millionärin erfand dafür auf der Website der Gruppe den Slogan: „Ihr Reichen aller Länder, vereinigt euch!“

Skandalös. Und einen sympathischeren Tabubruch findet man in den Debatten der Gegenwart wohl kaum.


Zuerst erschienen im Tagesspiegel Online.