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Die Wiederentdeckung der Menschenwürde

Illustration: Christiane Strauss

Ich trete seit langem für ein gesetzliches Verbot von Schauspielern in Talkshows ein.

„Ich möchte gar keine 20 mehr sein – Gott, was war ich damals naiv!“

„Ich hab‘ da einen Bauern, vierzig Kilometer außerhalb von München, bei dem kauf‘ ich inzwischen  a l l e s  ein, da weiß ich einfach wo’s herkommt.“

„Ich lebe ja in Berlin und Rom und wenn ich meinen Freunden in Italien erzähle, worüber man sich in Deutschland so alles aufregt – na, ich kann Ihnen sagen, darüber lachen die aber nur!“

All das bliebe uns erspart.

Erst kürzlich hat die Schauspielerin Erika Pluhar bei Markus Lanz lauter ähnlich schreckliche Dinge gesagt – in der aufgesetzt gewichtigen Manier, in der ältere Schauspielerinnen sich am liebsten reden hören. Man konnte es nicht ertragen. Besonders unerträglich war, dass sie Recht hatte. Frau Pluhar lobte, was Lanz bei der Verleihung der Goldenen Kamera über die wohl vergleichsweise menschenwürdige Castingshow „The Voice of Germany“ gesagt hatte. Sie befand:

„Und da hat mir sehr gefallen, dass Sie das Wort Würde benutzt haben. Das habe ich lange, lange nicht in der Fernsehlandschaft gehört. (…) Lebensqualität, Würde, das sind Begriffe, die mir im Älterwerden immer wichtiger werden.“

Lassen wir die Lebensqualität mal weg. Und auch das Älterwerden und die Verengung auf die Fernsehlandschaft – „Medienlandschaft“ trifft es besser. So gestrafft stimmt Frau Pluhars Aussage! Natürlich, sie klingt immer noch so banal, mainstreamig und vorhersehbar Applaus-generierend, dass man sich kaum traut, sie auszusprechen. Aber sie stimmt!

Und weil im Moment nicht nur Frau Pluhar und Herr Lanz, sondern endlich auch viele Kommentatoren von Tageszeitungen und Magazinen die Menschenwürde für sich entdeckt haben und nach ihrer erfolgreich beendeten Treibjagd mit generöser Herablassung fordern, dass Christian Wulff wenigstens vor unwürdigen Ehrensold- und Zapfenstreichdiskussionen bewahrt werden möge, traue auch ich mich, den Anfang unseres Grundgesetzes zu zitieren – Artikel 1 Absatz 1 Satz 1 lehrt und fordert:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Die Menschenwürde steht nicht nur an erster Stelle unseres Grundgesetzes. Sie steht auch systematisch über allen anderen Grundrechten einschließlich des für die Verfassungsrechtspraxis nur mittelmäßig bedeutsamen, um nicht zu sagen hundsgewöhnlichen Durchschnittsgrundrechts der Pressefreiheit. Letztere wird von Journalisten freilich ungleich häufiger beschworen als die Menschenwürde. Von allen Grundrechten fällt nur Artikel 1 GG unter die Ewigkeitsgarantie unserer Verfassung:

„Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche (…) die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“ (Artikel 79 Abs. 3 GG)

Die Pflicht zur Achtung der Menschenwürde ist, anders als die Pressefreiheit, also auf ewig einer Verfassungsänderung entzogen. Um es deutlicher zu sagen:

  1. Der Mensch steht im Zentrum unserer Rechtsordnung, nicht die Medien.
  2. Die Würde jedes Menschen, mit dem Ihr Medienschaffenden Euch beschäftigt, ist wichtiger als Eure Arbeit.
  3. Die Pressefreiheit ist antastbar. Sie kann jederzeit eingeschränkt werden, wenn Ihr Euch nicht benehmt.

Vor allem die dritte Botschaft sollte geeignet sein, in der von maßloser Hybris geprägten Vorstellungswelt vieler Medienschaffender anzukommen. Wer seine Freiheit nicht verantwortungsvoll einsetzt, kann sie verlieren. Wer aber richtig gewichtet und die Menschenwürde sogar von Bundespräsidenten und Castingshowkandidaten achtet, muss sich keine (binsen-)weisen Ermahnungen von Schauspielerinnen (und VOCER-Kolumnisten) mehr anhören.

Über das Talkshowverbot für Schauspieler sollten wir trotzdem nachdenken.