Die Zukunft des Fernsehens ist das Nahsehen
In die Zukunft des Fernsehens zu schauen, heißt zunächst einmal, mit einem Missverständnis aufzuräumen. Denn es ist schon reichlich irreführend, allein vom „Fern-Sehen“ zu sprechen. Freilich ist das Fernsehen auch ein Fenster in die Ferne, oft sogar in die entrückten Traumwelten Hollywoods. Und es hat diesen Anspruch bereits mit der Übertragung der Mondlandung geradezu sinnbildlich eingelöst.
Bisweilen starrt auch heute noch scheinbar die gesamte Weltbevölkerung gemeinsam durch dieses Fenster in die Ferne, wenn „Jahrhunderthochzeiten“, Fußballweltmeisterschaften oder auch Terroranschläge zum „Talk of the Town“ im globalen Dorf werden. So ist das. Eigentlich.
Denn seine heimliche und oft genug unheimliche Kernqualität hat das Fernsehen im „Nah-Sehen“. Der Fernsehapparat ist nämlich nicht nur ein Teleskop für den Blick in die Ferne, sondern ein sehr viel besseres Endoskop für den Blick in unser Innerstes.
Wenn wir das Fernsehen einschalten, dann wollen wir dabei auch immer uns selbst entdecken. Wenn es darum geht, unsere Bedürfnisse und Ängste zu formulieren, unsere Werte zu verhandeln, immer wieder neu zu definieren, was unsere Gesellschaft ausmacht und zusammenhält, dann spielt das Fernsehen wie kein anderes Medium seine Stärken aus. Dann funktioniert es als Selbstvergewisserungsmaschine des Menschen. Und zwar in den staatstragenden Talkrunden der öffentlich-rechtlichen Sender wie im oft lärmenden Nachmittagsprogramm der Privaten.
Wirkliche Wirklichkeit
So viel Kulturrelativismus mag schmerzen: Aber letztlich treten Frank Plasberg und Barbara Salesch in derselben Disziplin an – nur vor unterschiedlichem Publikum. Dem einen billigen wir dabei moralischen Mehrwert zu, weil bei ihm „Politik auf Wirklichkeit trifft“, während die andere erst gar nicht zu verbergen versucht, dass es die wirkliche Wirklichkeit im Fernsehen sowieso sehr schwer hat.
Selbst in der bizarren Maske der Scripted Reality trifft das Fernsehen ganz offenbar eine Lebenswirklichkeit vieler Zuschauer. Die ewig gleichen Streitereien der Laienensembles im Nachmittagsprogramm spielen sich zwar nur vorgeblich mitten im Leben ab, aber sie dienen ihren Zuschauern doch zum Abgleich mit den eigenen Realitäten und Wertvorstellungen. Die gleiche Motivation ist es, die Millionen zu den Talkshows der Illnerplasbergwills treibt. Und bezeichnenderweise machen die politischen Debattierrunden oft genug den Eindruck, sie folgten ihrerseits den immer gleichen Drehbuch-Textbausteinen.
Die besondere Faszination und Attraktivität des Nahsehens lässt sich exemplarisch an einer Sendung nachvollziehen, die Jahr für Jahr – auch gerade erst wieder – ein Millionenpublikum lockt. Kurioserweise kommt dieser moderne Nahseh-Klassiker aus der denkbar größten Ferne zu uns: Im australischen Dschungel wird eine Reihe Halbprominenter in ein Camp gesteckt, um in einer Art sozialdarwinistischem Turnier zur Wahl des Dschungelkönigs anzutreten.
Natürlich ist das bizarres Spektakel, Mediensatire, moderne Comedia dell’arte und gleichzeitig Spielshow. Aber für Millionen von Zuschauern ist es vor allem leidenschaftliche Auseinandersetzung mit den Untiefen ihrer eigenen menschlichen Natur: mit Liebe, Intrige, Eifersucht, Freundschaft, Schwäche, Hochmut und Demut.
Mehr als ein Angebot zum Eskapismus
Es wäre zu kurz gedacht, solches Programm als Jahrmarkt abzutun, als bizarre Belustigung oder gar als Angebot zum Eskapismus. Wer will, findet all das ebenfalls im Fernsehen – und nicht zu knapp. Aber noch viel üppiger und verlässlicher stehen da bereits das Internet, die Welt der Computer- und Online-Spiele sowie Kino, DVD und Video On Demand bereit. Als reine Bespaßungsmaschine gerät das klassische Fernsehen gegenüber dieser schillernden Konkurrenz längst ins Hintertreffen. Geradezu exemplarisch zerbröselte die jahrelang unangefochtene Vormachtstellung des Showklassikers „Wetten dass..?!“ am Samstagabend, einstmals stolz beworben als „Europas größte Fernsehshow“. Klassischer Fernsehbudenzauber ist ein Auslaufmodell.
Seine volle und ureigene Kraft und Faszination entfaltet das Fernsehen hingegen in den gemeinschaftlichen Nahseh-Erlebnissen. Also immer dann, wenn entweder das Weltgeschehen uns zur moralischen Verortung drängt oder wenn uns menschliche Schicksale zur Auseinandersetzung mit unseren Ängsten und Hoffnungen bewegen. Das galt beispielsweise auch für die Bilder der Reaktorkatastrophe von Fukushima. Sie kamen zwar aus dem fernen Japan zu uns, aber in ihrer Wucht und Tragik haben sie die Mehrheit der Deutschen zu einer radikalen Neupositionierung in der Kernkraftfrage animiert.
Kein anderes Medium besitzt die Kraft, Millionen von Menschen zur gleichen Zeit dazu zu bewegen, ihr eigenes Wertebild zu hinterfragen. Und darin liegt bis auf weiteres das Alleinstellungsmerkmal des Fernsehens. Weil nämlich die Fragen an uns selbst mit dem Lauf der Dinge nicht aufhören wollen. In Zeiten der galoppierenden Globalisierung werden sie sogar immer drängender, weil sich die Grenzen und Regeln, innerhalb derer wir uns lange Zeit sicher fühlen konnten, nach und nach auflösen.
Diese nahbaren Momente sind es, die ich im Fernsehen suche – als Zuschauer und als Macher. Wenn ich gelegentlich gefragt werde, welchen Gesprächsgast ich mir im „sternTV“-Studio wünsche, muss ich daher stets die Erwartung eines prominenten Namens enttäuschen. Medienprofis lassen Momente echter Nähe eher selten zu. Die Stars des Nahsehens sind die Menschen mit gelebter Erfahrung: der Bergsteiger, der trotz Blindheit auf die höchsten Gipfel steigt; der junge Deutsch-Kurde, der aus dem Gefängnis einer Zwangsehe ausgebrochen ist; die 36-jährige Mutter, die der tödlichen Nervenkrankheit ALS mit ansteckendem Lebensmut gegenübertritt. Ihre Antworten auf die Fragen des Lebens geben dem Fernsehen echte Relevanz.
Darum kann ich als „sternTV“-Moderator über den Vorwurf der thematischen Beliebigkeit auch nur schmunzeln: Hartz IV und E10, Missbrauch und Misswahlen, Jugendgewalt und Jugendwahn… Das klingt nur vordergründig wüst. Dahinter scheinen die zentralen Fragen des Nahsehens durch: Wer sind wir? Für welche Werte stehen wir? Wie wollen wir leben? Wie begegnen wir Krisen und Herausforderungen? Für all diese Fragen kann es keine abschließenden Antworten geben. Ihnen immer wieder neu nachzuspüren, ist das große Privileg meines Berufs.
Das Internet in Lauerstellung
Das Fernsehen muss sich um seine Zukunft also eigentlich keine Sorgen machen. Denn kein anderes Medium funktioniert so gut als Marktplatz ganzer Gesellschaften.
Kein anderes Medium? Nicht ganz.
Auch hier ist das Internet in Lauerstellung. Mit steigenden Bandbreiten wird es dem Fernsehen in immer mehr Bereichen den Rang ablaufen. Beim Blick in die Ferne ist es schon heute für viele erste Wahl, weil es schneller und vielfältiger ist als die alte Glotze. Weil das andere Ende der Welt im Netz tatsächlich nur einen Mausklick entfernt liegt. Und weil wir seinen reichen Schatz an Informationen und Illusionen auch zeitsouverän heben können.
Wer sich auch nur eine Nacht durch die YouTube-Galaxie hat treiben lassen, wird die Vorstellung eines zeitgebundenen, linearen Bewegtbild-Streams – vulgo: Fernsehen – fortan sogar eher putzig finden.
Die Welt der Blogs, Internetforen und sozialen Netzwerke zeigt längst die ungeheuren sozialen Gravitationskräfte, die vom Bedürfnis ausgehen, sich selbst zu erklären und mit anderen zu verhandeln. „Sich Erkennen, Erkannt- und Anerkanntwerden“, so hat die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus das Streben des Menschen nach Identität beschrieben. Im Internet findet er das ideale Werkzeug dazu. Und einige Video-Pioniere im Netz nutzen es bereits zur Introspektion und für subjektive Debatten-Angebote.
Alle aktive Akteure im globalen Dorf
Möglicherweise werden wir sogar irgendwann alle selbst zu Akteuren des Nahsehens im Netz – wenn wir es denn wollen. Webcam und Mikrofon gehören längst zur Computer-Grundausstattung und erlauben die Interaktion in Echtzeit. Auf der amerikanischen Website vokle.com lässt sich schon heute beobachten, wie Internetnutzer von Zuhause aus ihre eigenen Talkshows ins Netz schicken.
Auch der frühere US-Vizepräsident Al Gore hat sich der Plattform bereits bedient, um ein „global town hall meeting“ abzuhalten – eine weltumspannende Online-Diskussion in bewegten Bildern. In der Regel sind es aber jugendliche Nobodys, die dort den Austausch über Technik, Musik oder Was-auch-immer suchen. Von Wohnzimmer zu Wohnzimmer. Näher kann Fernsehen kaum sein. Der alte Brecht würde in Verzückung geraten, weil nun tatsächlich jeder Empfänger auch ein Sender ist.
Wenn das auch diejenigen realisieren, die sich heute noch für „die Sender“ halten, dann hat das Fernsehen eine spannende Zukunft vor sich. Die Menschen werden im Dickicht der Informationen und aufgeworfenen Fragen auch weiterhin nach Lotsen verlangen, die die Kommunikation darüber strukturieren. Die Fernsehmacher dürfen die digitale Revolution bloß nicht selbstgefällig verschlafen. Wenn sie es schaffen, zeitsouveräne Kommunikationsangebote auf verschiedensten Plattformen zu machen, dann wird das Fernsehen uns allen in Zukunft sogar noch näher kommen.