Digitale Integration: Wir brauchen einen Ethikkodex
Es ist alles gesagt worden. Eigentlich. Nachdem die lautstarken Vorwürfe gegen Medienvertreter wegen der Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin im vergangenen Jahr ihren Scheitelpunkt erreicht haben, ist die Debatte über die „Pinocchio-Presse“ (Frauke Petry, AfD) und nachrichtliche „Schweigekartelle“ (Hans-Peter Friedrich, CSU) aber noch lange nicht abgeebbt. Immerhin stellt sich ein Ermüdungseffekt ein: Wie in den Wiederholungsschleifen, die der TV-Wetterfrosch Phil Connors (Bill Murray) in der US-Komödie „Und täglich grüßt das Murmeltier“ jeden Tag aufs Neue durchmacht, treffen in irgendeiner Talkshow die immer gleichen PolitHardliner auf Medienleute, um sich den immer gleichen Schlagabtausch mit den immer gleichen Kampfvokabeln über angebliche Verfehlungen der Presse zu liefern. Mindestens einmal pro Monat verfasst ein prominenter Chefredakteur ein Plädoyer für einen „Journalismus in Wochen der Hysterisierung“ (Brinkbäumer) oder warnt, dass „unser Ruf auf dem Spiel“ stehe (di Lorenzo).
Die schrillen Beiß- und Abwehrreflexe von Medienadvokaten und -gegnern sind selbst zur Tragödie geworden, die sich von der eigentlichen Debatte, die inzwischen weit in bürgerliche Kreise hineinreicht, entkoppelt hat. Sie ähnelt einem endlosen Spießrutenlauf, in dem die Medien zu Getriebenen werden, in dem die Entschuldigung für die eigene Arroganz zur Ultima Ratio hochstilisiert wird. Die Unverschämtesten unter den Beschwerdeführern gegen „Lügenpresse“ und „Systemmedien“ werden mit Ignoranz abgestraft. Doch man merkt, dass die Kontrahenten nach den ritualisierten Kämpfen, die sich um die Frage „Wie können wir den Glaubwürdigkeitsverlust des Journalismus stoppen?“ drehen, schlachtenmüde werden.
Jahrzehntelang „organisierte Leserverachtung“ betrieben
Dass die gesamte Branche, die gern politische Skandale aufdeckt und wirtschaftliche Unrechtmäßigkeiten enthüllt, nun selbst am Pranger steht und die tätlichen Angriffe auf Journalisten bei Pegida-Kundgebungen nicht zu übersehen sind, kommt nicht von ungefähr. Der langgediente Spiegel-Reporter Cordt Schnibben hat auf einer Tagung kürzlich einen pikanten Einblick in das historische Innenleben seiner Redaktion gewährt. Schnibben hat in dankenswerter Offenheit formuliert, dass er und seine damaligen Kollegen jahrzehntelang „organisierte Leserverachtung“ betrieben hätten. Kaum ein Spiegel-Redakteur las jemals freiwillig einen Leserbrief, das meiste Feedback der Leser landete im Papierkorb, und wenn nicht, wurde die Auseinandersetzung mit Lesermeinungen unter Redakteuren ins Lächerliche gezogen: Bei dicken Zigarren und Hochprozentigem machte man sich einen Jux daraus, die kuriosesten Zuschriften zu verreißen. Echter Leserdialog war seinerzeit alles andere als willkommen, Empathie galt als Eingeständnis professioneller Dünnhäutigkeit und Schwäche.
Inzwischen gehört nicht mehr Leserverachtung zum journalistischen Zeitvertreib, sondern organisierte „Leserverstehe“: Schnibben hat lange vor den hydraähnlichen Auswucherungen der Pegidisten einen ambitionierten Aufruf an die Spiegel-Leser gestartet – und landete prompt einen Überraschungserfolg: 1168 Leser bekannten dem Spiegel ihre Meinung über das Blatt, kritisierten Artikel, lobten Recherchen und monierten Versäumnisse.
Auch wenn die Öffnung eines Hauses, das unter Stefan Aust und früheren Chefredakteuren noch wie ein zweites Fort Knox wirkte, als sensibles Zugeständnis professioneller Nahbarkeit verstanden werden darf, als eine Art Erweckungserlebnis in Sachen Durchlässigkeit, wirken die meisten dieser Wiedergutmachungsversuche einstweilen noch wie günstige Placebos, die eher der Selbstmedikation dienen, statt den Dialog zu fördern: Mehr Transparenz wagen, Irrtümer eingestehen und Verfehlungen öffentlich richtigstellen, aber auch gesprächsbereiter gegenüber Nutzern sein, Medienkritik auf Augenhöhe ermöglichen, abweichende Argumente in Debatten zulassen, selbst wenn sie nicht unbedingt der Journalistenmeinung entsprechen.
Social-Media-Guidelines: gut gemeint, aber unzulänglich
Aber ist dieser Maßnahmenkatalog wackerer Medienvertreter, die verlorenen Boden wieder gutmachen wollen, konsequent genug? Wirkt das alles nicht etwas mutlos? Und vor allem: Zeugt es letztlich nicht von einer komplizierten Identitätskrise, in der der Journalismus selbst steckt? Zumindest ist es Ausdruck innerer Ohnmacht, wie Medien mit Vorwürfen gegen sich umgehen – eine Spiegelung journalistischer Unbeholfenheit in Zeiten sozialer Unsicherheit. Denn mit der schieren Masse von Pöblern, Störern und Wirrköpfen in den sozialen Netzwerken werden die meisten Redaktionen nicht fertig. Sie zwingt ihnen neue Verpflichtungen und Verantwortungen auf. Es ist kein Geheimnis, dass der Nutzerdialog inzwischen kein Ressourcenund Infrastrukturproblem allein darstellt, sondern vor allem ein Problem des barbarischen Umgangstons ist: Medienmacher werden hier, in der anonymen Virtualität, zu Zielscheiben von Hetzern und zum Gegenstand von Hasstiraden.
Anja Reschke, Abteilungsleiterin Innenpolitik des NDR, ist eines der prominentesten Beispiele: Ihr „Tagesthemen“-Kommentar, in dem sie zum „Aufstand der Anständigen“ aufrief, hat ihr nicht nur neue Facebook-Freunde eingebracht. Nach dem Appell gegen Flüchtlingshetze schlugen ihr Ressentiments und Drohungen im Netz entgegen. Das Ganze wiederholte sich, als Reschke Anfang Januar 2016 die Kölner Exzesse in der Silvesternacht in den „Tagesthemen“ kommentierte: Schon zu diesem Zeitpunkt ist dem NDR bewusst, dass einige User beim Thema Asylpolitik in Online-Kommentaren alle Hemmungen verlieren – und manche offenbar auch den Verstand.
Weil Reschkes Kommentare so viele Reaktionen hervorrief, hat das Social-Media-Team des NDR in Ergänzung zu seinen bestehenden Guidelines ein Memo über „Kritikwellen und Shitstorms“ aufgesetzt, um Diskurse einzuhegen: „Geht eine Redaktion transparent, sachlich und freundlich mit Kritik um, verlaufen Debatten erfahrungsgemäß zivilisierter und ebben schneller ab“, heißt es unter anderem. Solche Social-Media-Guidelines sind gut gemeinte, aber letztlich unzulängliche redaktionelle Maßnahmen gegen aggressive Agitation im Netz.
Jeder muss sich einer moralischen Praxis verpflichtet fühlen
Wer aber glaubt, die „Dialogisierung“ (Holquist) sei damit gescheitert, kann sich eines Besseren belehren lassen. Um die merkwürdige Überforderung der Journalisten und das verlorene Kräftemessen in der vergifteten Debattenkultur besser zu verstehen, lohnt ein Blick durch die Brille des Gelehrten Roger Silverstone: Der britische Medientheoretiker hat schon vor zehn Jahren von der anhaltenden Verseuchung und Verschmutzung unserer Medienatmosphäre als sozialem Problem gesprochen. In seinem 2006 erschienenen Werk „Media and Morality. On the rise of the Mediapoli“s skizziert er bereits in Grundzügen den Strukturwandel einer digital vernetzen Öffentlichkeit und legt den Grundstein für eine digitale Kommunikationsethik (Silverstone).
Für Silverstone geht es, im Ganzen gesehen, nicht darum, deviantes Verhalten – er nennt es die „Rhetorik des Bösen“ – in den Medien juristisch zu ahnden oder politisch zu regulieren, sondern es als Andersartigkeit zu umarmen. Seiner Auffassung nach verwandeln Medien die Welt in einen (digitalen) globalen Kommunikationsraum, indem sie als „Interface“ an der Vermittlung und Interpretation moralischer Wertvorstellungen mitwirken – sei es mit politischen oder kulturellen Absichten. Das heißt: Jeder, der in der „Mediapolis“ interagieren, veröffentlichen und debattieren will, muss sich einer moralischen Praxis verpflichtet fühlen.
Obwohl Silverstones Abhandlung zur „Krise der Moral und Ethik“ mehr als ein Jahrzehnt alt ist, ist sie um keinen Tag gealtert. Sie lässt sich in verblüffender Weise auf die Debatte um die wachsende Medienskepsis übertragen, die ja häufig eine normativ-ethische Ortung zugunsten hektischer Reflexe ausblendet. Die Kernfrage in Silverstones Analyse ist: „Unter welchen moralischen Bedingungen können und sollen die Massenmedien zur gesellschaftlichen Integration beitragen?“ Ähnlich den frühen Gedanken, die sich bei Marshall McLuhan finden, geht Silverstone davon aus, dass die Welt zunehmend medial erfahrbar wird, diese Erfahrbarkeit jedoch nicht in technologischen Kategorien gedacht werden darf, sondern sich über menschliche Interaktion sowie soziales und politisch-ökonomische Handeln erschließt.
Das Netz bleibt ungestüm
In der „Mediapolis“ sind Sprache und Kommunikation wichtige Ausdrucksformen, weshalb jedes Individuum automatisch an der Aushandlung sozialer Bedeutungen teilnimmt. Für Praktiker klingt das nach Elfenbeinturm, doch kann Silverstones „Ethik der Gastfreundschaft und der Gerechtigkeit“ als Folie für Toleranz im Netz, aber auch für mehr Entschiedenheit dienen, falls sich der soziale Mob nicht daran hält. Sie könnte zu verschiedenen systematischen Lösungen führen, um die gestörte digitale Debattenkultur in sozialen Netzwerken, vor denen immer mehr journalistische Redaktionen kapitulieren, wieder in den Griff zu bekommen. Weil das Netz ungestüm bleiben wird, ist Silverstones Denkansatz allemal konkret genug, um die Qualität und Tragweite öffentlicher Ad-hoc-Debatten im Netz mit ihren populistischen Hetzparolen intellektuell zu dechiffrieren.
Seinen kommunikationsethischen Überlegungen folgend, müssen die Mitglieder der „Digitalen Mediapolis“ sich darauf einlassen, respektvoll und tolerant miteinander umzugehen. Das Projekt einer zivilisierten Öffentlichkeit stellt sich vor allem im Netz als langwieriger Lernprozess dar. Das Miteinander harmoniert nur in einer Symmetrie von moralischer Nähe und Distanz, das solchen Eskalationsmechaniken in den sozialen Netzwerken abgeht, die auf extreme Polarisierung, Empörung und Hetze ausgelegt sind. Das Internet ist eben nicht nur technisches Supermedium, das publizistisches Handeln und dessen Wirkmacht bestimmt. Es ist auch sensibles Gemeinwesen mit eigenen Kodizes.
Es wird gängiger werden, dass Fanatiker fortwährend ihre konfuse Weltanschauung zu unterschiedlichen Themen durch Klicken von Like-Buttons und emotionale Kommentare äußern. Gerade deshalb muss der Journalismus die Rolle als Moderator einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung übernehmen, der die digitale Integration vorantreibt. Hier zeigen Ausschnitte aktueller empirischer Forschung, dass die Teilnahme des Publikums kaum Vorteile für die Social-Media-Abteilungen in Newsrooms mit sich bringt. Auch die Distanz zu den Nutzern wird als immer größer empfunden, anstatt sich zu verringern. In den unaufgeräumten Debatten sehen viele Redakteure inzwischen eine diabolische Zwickmühle, die satisfaktionsfähige Umgangsformen im Geiste eines „partizipativen Journalismus“, wie er hoffnungsvoll erforscht und vielerorts euphorisch beschrieben wurde, vermissen lässt.
Gesucht: eine digitale Sozialethik
Was Journalisten am wenigsten brauchen, sind undurchsichtige Regelwerke, wie sie einen einzelnen Shitstorm überstehen. Wenn das Projekt der digitalen Mediapolis auf lange Sicht gelingen soll, müssen vor allem Nutzer bereit sein, respektvoll aufeinander zuzugehen. In Silverstones Gedankenwelt sind es gerade die „Checks and Balances“, die den Wert des öffentlichen Diskurses steigern, aber auch seine Störanfälligkeit für Einflüsse aller Couleur minimieren. Eine so verstandene digitale Magna Charta räumt den Nutzern sämtliche Freiheiten ein und nimmt sie zugleich in die moralische Verantwortung. Journalistische Medien sollten unerwünschte Nutzer deshalb nicht mit Ignoranz strafen, sondern die Beteiligung derer anspornen, die sich einbringen und am journalistischen Prozess teilhaben.
Syntax und Struktur digitaler Öffentlichkeiten ändern sich permanent. Diese Öffentlichkeit wird sich zerlegen, wenn sie sich selbst überlassen wird. Ein „Ethical Twist“ würde jedoch eine radikale Verschiebung des journalistischen Selbstverständnisses in Richtung eines souveränen Moderationsprinzips erfordern, das, dem demokratisch-partizipativen Idealmodell folgend, Lärmzonen der „Anti-Social-Media“ ausblendet und dem kaputten netzöffentlichen Diskurs mehr Würde verleiht. Schon deshalb ist es im Interesse von Journalisten zu bewerten, was in sozialen Medien ernste Debatte und was „Bullshit“ ist, was Hassrede und was aufrichtige Kritik, was legal ist und was verboten gehört, was private Kommunikation ist und was gesellschaftspolitisch relevant.
Es ist schlicht das vorläufige Ergebnis eines evolutionären Prozesses, dass das Netz eine emotionale, relativ unkontrollierbare Kommunikationsgemeinschaft kultiviert, die eigenen moralischen Codes folgt. Eine digitale Sozialethik könnte ein ganz wesentlicher Baustein sein, um die Standards für das Zeitalter einer verkommenen Debattenkultur neu auszuloten, indem der Journalismus nicht als Klagemauer netzöffentlicher Befindlichkeiten herhält, sondern sich als moralische Instanz selbstbewusst positioniert. Ein Ethikkodex, der in der journalistischen Praxis nach diesem Anspruch autorisiert, gelebt und verfeinert wird, wäre das naheliegende digitale Wagnis.
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in Publizistik, der Vierteljahresheftreihe für Kommunikation von Springer VS (ISSN 0033-4006). VOCER veröffentlicht ihn in leicht geänderter und bearbeitete Fassung