Ein deutsches Prangerschema
Beim Skandal um Christian Wulff hat man den Eindruck, so etwas habe es noch nicht gegeben. Auf den ersten Blick ist das richtig. Noch wie wurde ein Bundespräsident durch einen Skandal zum Rücktritt gezwungen.
Sein Vorgänger Horst Köhler hatte die internen Querelen der Berliner Politik und die mediale Kritik an seiner Amtsführung satt und gab sein Amt für alle überraschend freiwillig auf. Heinrich Lübke, Amtsinhaber in den Sechzigern, saß dagegen die jahrelange Kampagne einiger Medien wegen seiner angeblichen Beteiligung am Bau von Konzentrationslagern aus und trat erst kurz vor dem Ende seiner Amtszeit aus anderen Gründen zurück. Insofern ist der Skandal um Wulff tatsächlich einzigartig. Anders sieht es aus, wenn man den Anlass und die Mechanismen seiner Skandalisierung betrachtet.
In Deutschland geht es bei der Skandalisierung von Personen meist um Geld und geldwerte Vorteile, gelegentlich auch um die NS-Zeit und den Umgang damit. Beispiele hierfür sind die Geschehnisse um Filbinger, Homann, Walser und Grass. Geht es um die NS-Zeit, dreht es sich immer um Verhaltensweisen, die allgemein als schwere Verfehlung gelten. Allerdings unterscheidet sich der Skandal um das Israel-Gedicht von Günter Grass von allen anderen bedeutenden Skandalen der letzten Jahrzehnte: Der Schriftsteller hat den Skandal in Kenntnis der Mechanismen, die er damit auslösen würde, selbst provoziert. In den Fällen, in denen Geld eine Rolle spielt, geht es um geringe finanzielle Vorteile, die in Frankreich oder den USA niemanden interessieren würden. So war es bei Rudolf Scharping (Boutiquenrechnung), Cem Özdemir (Bonus-Meilen) oder zuletzt Wulff.
Besonders deutlich wird die Fixierung der Deutschen auf geldwerte Vorteile im Fall von VW: Zum Skandal wurde nicht, dass die Mitarbeiter ihre Frauen betrogen hatten, sondern dass das Unternehmen dafür bezahlt hatte. In den USA wäre es umgekehrt gewesen.
Das Prangerschema
Die Medien machen Missstände zu Skandalen, indem sie den Eindruck vermitteln, dass die Übeltäter in Kenntnis der Fragwürdigkeit ihres Tuns, ohne äußeren Zwang und aus eigennützigen Motiven gehandelt haben. Wie bei Wulff sind die Sachverhalte in vielen Fällen schon bekannt lange bevor sie zum Skandal werden. Dessen problematisierte Beziehung zum Ehepaar Geerkens und seine Vorzugsbehandlung durch Air Berlin waren schon vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten ein Thema im Niedersächsischen Landtag. Zum Skandal wurde das erst als die „Bild“-Zeitung und der „Spiegel“ eine enge Beziehung zu seinem Hauskredit aufgezeigt und Frank Schirrmacher in der „FAZ“ eine schlüssige Verbindung zwischen Geld, Charakter und Amt hergestellt hatten: „Kreditfragen… sind moralische Fragen. Es geht um Glauben und Vertrauen. Damit sind sie das Äquivalent zum höchsten Staatsamt. Es geht um moralischen Kredit.“
Damit hat Schirrmacher ein Schema etabliert, das die folgenden Recherchen und die Interpretation der Befunde geprägt hat. Mit der Skandalisierung von Sachverhalten, die im Kern schon länger bekannt sind, steht Christian Wulff in einer Reihe ähnlicher Vorkommnisse. So war der positive Kommentar des Journalisten Werner Höfer zur Hinrichtung von Karl-Robert Kreiten während des Dritten Reiches lange bekannt. Zum Skandal wurde er erst, nachdem der „Spiegel“ den Fall nicht als Anklage gegen den Verfasser, sondern als Tragödie des Opfers dargestellt hatte. Auch die Finanzierung der Auslandsreisen von Lothar Späth durch Unternehmen war schon lange bekannt. Zum Skandal wurde sie erst, nachdem der „Spiegel“ und der SWR sie nicht mehr als Beispiel für schwäbische Sparsamkeit, sondern als Beleg für verwerfliche Vorteilsnahme eines Politikers präsentiert hatten.
Durch die Etablierung dieses Prangerschemas erhielten im Falle Wulff alle folgenden Entdeckungen eine Bedeutung, die sie ohne es nicht gehabt hätten. Das beginnt bei der Existenz der Kontakte Wulffs zu angeblich fragwürdigen Personen (Geerkens, Maschmeyer, Glaeseker, Schmidt, Groenewold), geht weiter bei angeblich fragwürdigen Vergünstigungen (Hauskredit, Urlaubausreisen, Flugreisen, Hotelaufenthalte, Buchwerbung, Handybenutzung, Autokauf, Leihkleidung) und endet bei exotischen Fragwürdigkeiten (Tätigkeit als Anwalt, Rolle im VW-Aufsichtsrat, Ernst-Jünger-Zitat).
Viele dieser Vorwürfe wurden nicht weiter verfolgt und spielten letztlich keine Rolle mehr. Jeder hat aber zur Skandalisierung von Wulff beigetragen. Sie bestätigten das etablierte Bild von seinem Charakter und ließen ihn im Amt untragbar erscheinen. Als einige Zeit später bekannt wurde, dass vieles, was man Wulff vorgeworfen hatte, auch auf Klaus Wowereit zutraf, regte das niemanden auf. Im Skandal geht es nicht vorrangig um die Größe der Missstände oder Fehler, nicht um die „Natur der Sache“. Es geht um das anhand eines Beispiels entwickelte Schema. Die entsprechend interpretierten Missstände sind nur Mittel zur Ergänzung des etablierten Bildes.
Aus diesem Grund erscheinen die meisten Vorwürfe, über die man sich während eines Skandals empört hat, im Rückblick banal: Wenn das skandalträchtige Schema verblasst ist, verlieren die Belege ihre Brisanz.
Zum Zweck der Isolation und Diskreditierung
Das Ziel von Skandalen ist die Bestrafung der Missetäter durch ihre gesellschaftliche Ächtung, bei Politikern der Rücktritt oder die Entlassung. Die wichtigsten Mittel dazu sind neben ihrer Anprangerung die Dokumentation ihrer Isolation und die Diskreditierung ihrer Verbündeten. Eine Möglichkeit zur Dokumentation ihrer Isolation sind Berichte über Meinungsumfragen, die einen Imageverfall feststellen. Allerdings ist das erst nach einigen Wochen erfolgversprechend, weil sich die mediale Kritik an Politikern in Umfragen erst relativ spät niederschlägt. So war es bei der Skandalisierung von Karl-Theodor zu Guttenberg und von Christian Wulff.
Eine weitere Möglichkeit bietet das zielgerichtete Hochspielen der Kritik von anderen Politikern. Das ist jedoch nur dann zielführend, wenn sie – wie die Kritik von Angela Merkel an Helmut Kohl im CDU-Spendenskandal – aus dem eigenen Lager kommt. Diese Praxis spielte bei Wulff und zu Guttenberg keine große Rolle, dagegen war sie bei der Skandalisierung von Günter Grass ein zentrales Element. Eine weitere Möglichkeit zur Isolation der Skandalisierten ist die Kritik an Nonkonformisten, die die Skandalisierten stützen. Das erfuhren im Fall Wulff sein Anwalt Gernot Lehr und sein Parteifreund Peter Hinze. Die ultima ratio der Skandalisierer war im Fall Wulff aber die groß herausgestellte Kritik einiger Juristen am Verhalten der Justiz, die erheblich dazu beigetragen haben dürfte, dass die Staatsanwaltschaft Hannover die Aufhebung der Immunität von Wulff beantragt hat. Warum der Bundespräsident besonderen Rechtschutz genießt, erfuhr man dagegen erst nach Wulffs Rücktritt durch einen Beitrag über die Sichtweise des Verfassungsrechtlers und früheren Bundespräsidenten Roman Herzog.
Schnell wieder vergessen
Wie bei allen großen Skandalen haben die Meisten viele Sachverhalte, über die sie sich empört haben, schnell vergessen. Allerdings erliegen sie schon währenddessen einer Wissensillusion: Sie glauben, sie wüssten genau Bescheid, haben aber von den meisten Details keine Ahnung. Den Beleg dafür liefert ein Gedankenexperiment anhand eines einzigen Aspektes der vielfältigen Skandalisierung von Wulff – des Kredits für seinen Hauskauf: Welche Rolle spielten Herr und Frau Geerkens bei der Kreditvergabe? Hatte Wulff zu Herrn Geerkens eine Geschäftsbeziehung oder nicht? Handelte es sich bei der Darlehensannahme um einen Verstoß gegen das Ministergesetz oder nicht? Wann war der Vertragsabschluss der Umschuldung und warum ist das relevant? Waren die Sonderkonditionen der BW-Bank für Wulff regelkonform oder nicht? Wer außer einigen Spezialisten weiß das heute noch? Wer wusste es damals?
Die Fragen sind sachlich berechtigt, spielen aber im Skandal keine Rolle, weil es nicht darum geht, was die Leute wissen, sondern was sie zu wissen glauben. Das war bei Wulff nicht anders als im BSE-Skandal und bei den Dioxin-Fällen der letzten Jahre.
Was die Verängstigten und Empörten für eine Reaktion auf das Objekt ihrer Ängste und Empörung halten, ist Ausdruck der Sichtweisen des Kollektivs, in dem sie sich bewegen. Das gilt für die Reaktionen auf das Verhalten von Wulff, das in Frankreich und den USA kaum für ein solches Aufsehen gesorgt hätte, ebenso wie für die geplante Versenkung der Brent Spar, die in Deutschland zum Skandal wurde und in England kaum jemanden interessierte, obwohl die Insel von möglichen Schäden viel eher betroffen gewesen wäre.
Es gibt große Skandale, die in wenigen Stunden ihre volle Wucht entfalten und die Skandalisierten aus ihren Ämtern fegen, weil das Ausmaß der Verfehlung sofort klar zu sein scheint. So erging es Philipp Jenninger wegen seiner missverstandenen Rede über das Dritte Reich und Dominique Strauss-Kahn wegen der angeblichen Vergewaltigung einer Hotelangestellten. Zweifel oder gar Gegenargumente haben in solchen Fällen spontaner Empörung keine Chance. Das erlebte auch Günter Grass, dessen diskussionswürdige Kritik an Israel in der Skandalisierung seiner indiskutablen Äußerungen unterging.
Immer wieder neu entfachen
Die meisten Skandal müssen, damit sie ihre volle Wirkung entfalten können, immer wieder neu angefacht werden. Erfahrene Skandalisierer portionieren deshalb ihre Belege. Im Fall von zu Guttenberg war das nicht notwendig, weil seine Jäger im Internet Tag für Tag neues Beweismaterial fanden. Im Fall von Wulff leisteten das die Rechercheure zahlreicher Medien, die ihre Erkenntnisse schemagerecht interpretiert veröffentlichten. Trotz der vielen Neuigkeiten erlahmte der Schwung der Angriffe gegen Wulff nach zwei bis drei ergebnislosen Wochen. Daran konnte auch die konditionierten Kritik an seinem Fernsehinterview nichts ändern, in dem Bettina Schausten mit ihrer Äußerung, sie biete Freunden Geld für eine Übernachtung an, das Publikum belogen hat, um Wulff ins Unrecht zu setzen.
Der erwähnte Schwungverlust von Skandalen ist normal, und deshalb hätte Wulff gute Chancen gehabt, die Angriffe im Amt zu überstehen. Allerdings hatten sich seine Gegner ein Killerthema aufgespart – Wulffs Anruf beim Chefredakteur der „Bild“-Zeitung, Kai Diekmann.
Ein beispielloser Coup
Kooperationen zwischen Journalisten und Medien sind bei Skandalen nicht ungewöhnlich. So gab es Absprachen zwischen Mitarbeitern des SWR und des „Spiegel“ über den Zeitpunkt der Skandalisierung von Lothar Späth und bei der Skandalisierung des früheren Verkehrsministers Manfred Stolpe agierte „Bild“ im Zusammenspiel mit „Spiegel“ und „FAZ“. Trotzdem war die Wahl des Zeitpunktes und die Art der Veröffentlichungen des Anrufs von Wulff ein beispielloser Coup. Erstens konnten die Akteure mit einer großen Medienresonanz rechnen, weil sich Journalisten aller Couleur bei Angriffen auf die Pressefreiheit mit den betroffenen Kollegen solidarisieren. Zweitens hat die Hälfte der Berliner Korrespondenten die Erfahrung gemacht, dass Politiker ihre Berichterstattung über ihren Redaktionsleiter beeinflussen wollten. Ein Großteil der wichtigsten Journalisten war indirekt betroffen und entsprechend empört.
Und drittens überließ Bild die journalistisch problematische Veröffentlichung des Versuchs eines Gesprächs, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, der „FAS“ und der „SZ“. Die Zurückhaltung hatte zwei Vorteile: „Bild“ vermied den Verdacht, aus Eigeninteressen journalistische Berufsregeln zu verletzen und gefährdete zudem nicht seine Rolle als uneigennütziger Anwalt des Gemeinwesens. Viertens war durch die massive Kritik an Wulffs Anruf sichergestellt, dass der Skandal nicht versickerte, bevor er durch neue Vorwürfe zum Rücktritt gezwungen werden konnte.
„Wrack eines Mannes“
Nachdem alles vorbei war, schrieb Volker Zastrow in der „FAZ“, Wulff habe seinen Rücktritt „als das Wrack des Mannes“ erklärt, „der er noch vor kurzem gewesen ist, nun abgemagert, sichtlich gezeichnet von dem, was er rückblickend als ’neun Wochen Fight‘, vorausschauend als ‚Krieg‘ angedroht oder befürchtet hatte“. Vier Tage später erschien „Bild“ mit der Schlagzeile: „Notruf! Wulff Notarzt! Klinik!“. Falls ein Zusammenhang mit seiner Skandalisierung bestand, hat es nicht um einen Einzelfall gehandelt. Joschka Fischer war nach der Aufdeckung seiner Vergangenheit als politisch motivierter Schläger „deprimiert, mitunter sogar verzweifelt“, Michel Friedmann war aufgrund der Skandalisierung seiner Kokain-Affären „körperlich und psychisch schwer angeschlagen“, Günter Grass sah sich als Opfer einer Medienkampagne und war nach wenigen Tagen auch äußerlich erkennbar angeschlagen.
Sie alle fühlen sich auch dann als Opfer, wenn sie zugeben, was man ihren vorwirft, weil die anprangernden Berichte neben richtigen auch falsche Vorwürfe enthalten und weil die Betroffenen wissen, dass sie sich dagegen nicht effektiv wehren können: Sie würden nur einen Teil derjenigen erreichen, die die Vorwürfe erfahren haben, und sie würden nur wenige von ihnen überzeugen, weil sie im Verdacht der Vertuschung und Beschönigung stehen.
Besonderes Stehvermögen
Trotz der erwähnten Gemeinsamkeiten weist die Skandalisierung von Wulff eine Besonderheit auf: sein ungewöhnliches Stehvermögen. Es macht deutlich, dass Rücktritte von Politikern als Folge von Skandalen zwei Ursachen haben – ihre psychische Konstitution und ihre politische Abhängigkeit. Köhler ist zurückgetreten, weil er die Sticheleien und Angriffe nicht mehr ertragen wollte oder konnte. Wulff war aus anderem Holz geschnitzt, wie jeder, der sein Fernsehinterview unvoreingenommen verfolgt hat, erkennen konnte. Guttenberg ist zurückgetreten, weil er so seiner Entlassung zuvorkam, die nach der Distanzierung führender Unionspolitiker absehbar war.
Diese Entwicklung musste Wulff nicht befürchten. Deshalb konnte er hoffen, die Angriffe auszusitzen – bis ein Staatsanwalt in Hannover zum Kronzeugen seiner Kritiker geworden war. Jetzt ging es darum, ob er den langen Weg zu einer juristischen Klärung psychisch aushalten und seiner Familie zumuten konnte. Das war offensichtlich nicht der Fall.
Hans Mathias Kepplingers aktuelles Buch: „Die Mechanismen der Skandalisierung. zu Guttenberg, Kachelmann, Sarrazin & Co: Warum einige öffentlich untergehen – und andere nicht.“ (München: Olzog 2012)