Ein Grund zum Feiern
Viele der Teilnehmer der Weltkonferenz über Gegenwart und Zukunft des investigativen Journalismus machten auf dem Weg nach Rio de Janeiro Halt in London. Während sie auf ihren Flug warteten, lasen sie dort in der „Daily Mail“, wie falsch der „Guardian“ angeblich mit seinen Veröffentlichungen über die NSA-Abhörpraxis liege, wie sehr Journalisten und Politiker den „Guardian“ dafür angreifen und verachten. In Großbritannien werden der „Guardian“ und der Journalist Glenn Greenwald als Verräter gescholten, die das Land in Gefahr brächten. In Rio dagegen wurde Greenwald bei einem Auftritt als Held gefeiert.
Er stand plötzlich im Auditorium und trug wie immer einen schwarzen Rucksack bei sich, den er nicht aus den Auge ließ. Das wäre verständlich, würde er aus einem anderen Land oder einer anderen Stadt anreisen. Aber er wohnt in genau jenem Stadtviertel von Rio de Janeiro, in dem sich vier Tage lang mehrere Hundert investigativer Journalisten aus aller Welt trafen, um über ihre Recherchen und kommende gemeinsame Projekte zu sprechen. Das Treffen gilt als „World Cup of investigative journalism“, als das es die amerikanische Knight Foundation bezeichnet. Greenwald ist der Star der Stunde.
„Journalismus ist korrumpiert“, sagte Greenwald in Rio, wenngleich sein Beleg fast zehn Jahre alt ist. 2004 hielt die „New York Times“ über Monate eine Geschichte zurück, wonach die NSA Amerikaner abgehört habe, weil der damalige US-Präsident George Bush die Zeitung darum bat. Die „Times“ veröffentlichte die Recherche erst, als ihr Reporter James Risen ein Buch darüber schrieb und die Zeitung von ihrem eigenen Mitarbeiter überrundet und damit bloßgestellt worden wäre. Daß die „Times“, die er stets als liberalen Wächter der Demokratie verehrt habe, so lange mit der Veröffentlichung gewartet habe, offenbare „eine fundamentale Krankheit“ der westlichen Presse, behauptete Greenwald. Etablierte Medien seien geprägt von Vorsicht und Angst.
Alte Regeln hinterfragen
Kritik, er halte seiner Quelle Edward Snowden gegenüber zu wenig Distanz und fungiere als Sprachrohr des ehemaligen Agenten, begegnete er mit der Frage, warum sollte man sich denn nicht auf die Seite einer Quelle stellen, wenn man geprüft habe, ob ihre Vorwürfe berechtigt seien. Das sei bei Snowdens Material der Fall. Warum nicht, fragte er weiter, sollte man eine Meinung in einer Geschichte äußern, sofern man die Fakten geprüft habe? Es gebe gute Gründe, die alten Regeln zu hinterfragen. Seine Kritiker, die ihm Aktivismus statt Journalismus vorwerfen, werden sich durch solche Worte bestätigt fühlen.
Einen Tag später wurde bekannt, dass er Abschied nimmt von der britischen Tageszeitung „Guardian“, für die er die vergangenen Monate die Akten der amerikanischen National Security Agency (NSA) ausgewertet hat. Sein neues Projekt symbolisiert den Wandel in einer Branche, in der völlig neue Akteure bestimmen, worüber die Öffentlichkeit diskutiert. Amazon-Chef Jeff Bezos kauft die Washington Post, sein Rivale, der Ebay-Gründer Pierre Omidyar, baut nun mit Hilfe von Greenwald eine neue digitale Plattform für Journalismus auf. Dort will er nicht nur Enthüllungen veröffentlichen, sondern von Politik und Technik bis Sport und Unterhaltung viele Interessen bedienen. Greenwald will von Rio aus zuliefern, weitere Büros sind in New York, Washington und San Francisco geplant.
Viele Details sind unklar, was damit zu tun hat, dass Omidyar und Greenwald vom vorzeitigen Bekanntwerden der Nachricht überrascht wurden. Omidyar sagte dem New Yorker Journalismus-Professor Jay Rosen, er wolle 250 Millionen Dollar investieren – also die gleiche Summe, die ihn die „Washington Post“ gekostet hätte. Zum Vergleich: Das New Yorker Recherchebüro „ProPublica„, das bislang als größte digitale Plattform für investigativen Journalismus gilt, erhielt für den Aufbau eine Spendenzusage von jährlich zehn Millionen Dollar. Das Geld will Omidyar in Recherche und Redaktion, vor allem auch in gute Anwälte investieren, um Enthüllungen gegen mächtige Interessen durchzufechten.
Warum nicht gründen?
Wie weit darf ein Journalist gehen? Darf er, wie Greenwald es angeblich für Snowden tat, Anwaltskosten für eine Quelle übernehmen? Greenwald sagte, ein Journalist trage Verantwortung für eine Quelle, die ein Risiko eingehe. Gut möglich, dass auch Snowden, mit dem er sich täglich austausche, bald in Diensten von Omidyar stehen wird.
Pierre Omidyar hat mit Ebay geschätzte achteinhalb Milliarden Dollar verdient und fördert seit mehreren Jahren seriösen Journalismus, etwa in seinem Heimatstaat Hawaii. Er war auch einer der Sponsoren der Konferenz in Rio und spendete 25.000 Dollar, damit Journalisten aus afrikanischen und anderen ärmeren Ländern nach Rio reisen und Erfahrungen austauschen konnten.
Eigentlich wollte er die „Washington Post“ kaufen, betonte er in einem Statement, doch wenn er nicht eine etablierte Publikation kaufen konnte, warum nicht eine neue gründen? Dann kam der NSA-Skandal und er war von Greenwalds Enthüllungen angetan. Als sie miteinander sprachen, kam heraus, dass Greenwald mit der Dokumentarfilmerin Laura Poitras, die den Kontakt zu Snowden hergestellt hatte, und einem Journalisten des Magazins The Nation eine eigene Plattform aufbauen wollte. Man tat sich zusammen.
Akten im Rucksack
Omidyar will kein zweites gemeinnütziges Recherchebüro wie „ProPublica“ gründen, sondern eine kommerzielle Plattform, die alle traditionellen Ressorts einer Zeitung einschließt. Das brauche es, um die Aufmerksamkeit vieler Leute zu erringen. Die Plattform soll Geld verdienen und damit ihren Journalismus finanzieren. In einem Interview mit der „New York Times“ und in einem Statement auf seiner Website bestätigte Omidyar die Hintergründe und Pläne.
Und Snowdens NSA-Akten? Die trägt Greenwald stets in seinem Rucksack mit sich. Weitere Aktensätze besitzen angeblich „ProPublica“, das die Akten nun gemeinsam mit der New York Times auswertet, und die in Berlin lebende Poitras. Snowden selbst sagte der „New York Times“, er besitze keine Kopien der Akten mehr – er habe alles in Hongkong Greenwald und Poitras gegeben.
Sicher werden die Akten auch auf der neuen Plattform auftauchen. In Rio sprach Greenwald hoffnungsvoll davon, dass – obwohl es vielen etablierten Medien schlecht gehe -, der Journalismus jetzt ein „goldenes Zeitalter“ erlebe. Manchmal wird erst im Rückblick klar, was genau jemand gemeint haben könnte. So war es mit Glenn Greenwald und seiner Bemerkung, die Krise der etablierten Medien sei für ihn ein Grund zum Feiern. Der entscheidende Satz lautete: „Journalismus stirbt nicht. Er lebt und er geht nur woandershin.“ Gut möglich, dass Greenwald bei diesen Worten an sich selbst denken musste.
Gestern abend, am 31. Oktober, veröffentlichte Greenwald seine letzte Kolumne im „Guardian“. Die Berichterstattung im „Guardian“ sei für ihn sehr befriedigend gewesen, schrieb er. Er sei stolz darauf, auch wenn es nicht immer einfach gewesen sei. Einen Termin für den Start der neuen Plattform gebe es noch nicht, aber man dürfe davon ausgehen, dass er nicht abtauchen werde und daß das neue Projekt bald starten werde. Bis es soweit sei, werde er von Fall zu Fall mit ausländischen Publikationen, etwa Le Monde in Frankreich oder El Mundo in Spanien, zusammen arbeiten. Außerdem rät er, seinen Blog zu lesen, auf dem er weiter berichten werde:.
Dieser Beitrag ist in einer veränderten Form auch bei der „NZZ“ erschienen.