Ein Kreativschub für die Redaktionen
Vor zehn Jahren, mitten in der deutschen Zeitungskrise, kam plötzlich eine Big-Bang-Stimmung auf. Der Grund waren neue Nachrichtenräume, die „Newsrooms“ oder „Newsdesks“, bodenständig auch „Balken“ genannt. Sie wurden mit großem Tamtam eingeweiht und der Branche präsentiert, als seien sie Laboratorien, in denen journalistische Alchemisten endlich imstande seien, publizistisches Gold zu zaubern.
Baulich bedeuteten Newsrooms tatsächlich eine Revolution. Insofern waren sie zuerst einmal eine wichtige Maßnahme gegen eine unkommunikative und in Teilen noch immer in einigen Verlagshäusern – von Hamburg bis München – erschreckend zellenartige Architektur. So wurden etwa in der Kaserne des „Handelsblatts“ in Düsseldorf 2002 die Wände einer halben Etage eingerissen, um Platz zu schaffen für einen redaktionellen Großraum, den der Holtzbrinck-Verlag bis dahin nur aus seiner Beteiligung am Nachrichtensender n-tv kannte.
Springer schuf in Berlin für die „Welt“-Gruppe eine Art deutschen „Superbalken“, gewissermaßen ein Flagschiff der Bewegung. Er findet international Beachtung, weil dort – jedenfalls bislang – nicht nur die Nachrichten für eine Zeitungsmarke entstehen, sondern die Inhalte für verschiedene Marken und verschiedene Medienformate produziert werden. Auch Ringier in Zürich hat sich mittlerweile ein Zauberlabor zugelegt.
Hin zum „Creative Room“
Zweck der bisweilen turnhallengroßen Räume war und ist es, die Produktionsabläufe von gedruckten Zeitungen und ihren digitalen Derivaten zu vereinheitlichen und zusammenzuführen, um das papierzentrierte Denken, Planen und Berichten zu überwinden. Das war ein absolut richtiger Ansatz. Doch mit vielen neuen Endgeräten und mit den gestiegenen Ansprüchen der Leser haben sich die Anforderungen an die Produktion und damit die Standards weiterentwickelt – viele deutsche Newsrooms dagegen nicht.
Was sollte sich ändern? Ein großes Problem der Newsrooms war von Anfang an die Losung „Online first!“. Alles, was eine Redaktion zu Tage förderte, egal wie exklusiv und wie teuer, wurde zuerst online und gratis veröffentlicht. Doch wenn aufwändig produzierte Nachrichten ein freiwilliges Geschenk an die Öffentlichkeit sind, entsteht vielleicht publizistisches Gold – aber es fließt nichts an den Verlag zurück. Diese Gratiskultur ist dem Streben nach maximaler Aktualität geschuldet. Noch immer kämpfen mehrere Dutzend deutschsprachige Redaktionen einen irren Wettbewerb um dasselbe kostenlose Gut der schnellsten Nachricht. In den weltweit besten Redaktionen lautet die Losung dagegen längst: „Creativity first!“, „Uniqueness first“, „Difference first!“ – und das bitteschön nicht gratis.
Abschied vom Redaktionsschluss
Jill Abramson, seit September 2011 Chefredakteurin der „New York Times“, glaubt, dass die neuen digitalen Endgeräte wie das iPad oder das Kindle Investitionen in die Weiterentwicklung der Newsrooms rechtfertigen. Das Ziel sind kreative Labors, in denen Texte und Bilder vor allem nicht mehr auf einen großen Redaktionsschluss hin ausgerichtet entstehen. Alle Jobs einer Produktion müssen dafür vollkommen gleichberechtigt, ohne gegenseitige Vorurteile und auf Augenhöhe zusammenarbeiten, um einen möglichst vielseitigen Journalismus für alle technischen Geräte und in allen Genres, für jedes Bedürfnis und jede Präferenz der Nutzer zu schaffen.
Diese „Creative Rooms“ versammeln Autoren, Texter und Geschichtenentwickler, TV-, Rundfunk- und Bildjournalisten, Gestalter, Illustratoren, Programmierer und Manager. Selbstverständlich werden dabei multiple Teams, multiple Deadlines und multiple Team-Leitungen gebildet. Je nach Aufgabe führt ein Programmierer, ein Reporter, ein Manager oder ein Gestalter.
Das ist die Realität in der „New York Times“, beim „Guardian“ oder der „Financial Times“ in London oder in nicht wenigen Redaktionen in Lateinamerika und Asien, und selbst bei der BBC. Man versteht dort, dass Erfolg nur eines verlangt: guten, verdammt guten Journalismus. Das sind Texte und publizistische Ideen, die eine Medienmarke so auszeichnen, dass sie sich für jeden Laien klar erkennbar von anderen Marken unterscheidet.
Laut Abramson gehen aus solchen Redaktionen heraus auch Bezahlstrategien auf. Das Publikum zeige viel Bereitschaft, selbst für klassische amerikanische Reportagen wieder Geld zu bezahlen. Voraussetzung: Die Redaktion finde die „beste Präsentationsform“ und es gelinge ein „organischer Journalismus“, der zum Beispiel „Videos in lange Nachrichtengeschichten einbettet anstatt sie entkoppelt und unvermittelt beizusteuern.“ Abramson geht es mit anderen Worten um die Kohärenz aller multimedialen Bestandteile einer Nachrichtengeschichte.
Umerziehung im Newsroom
Als vor zehn Jahren mehrere hundert Redakteure in deutschsprachigen Redaktionen ihre Jobs verloren, waren die Newsrooms für die Verlage auch PR-strategisch wichtig. Man konnte demonstrieren, dass man a) noch investieren kann, b) an die Zukunft glaubt und c) die Workflows an internationalen Standards orientiert. Der Newsroom wurde zum Inbegriff für eine „Umerziehung“: Die kulturelle Kluft und die oft eklatanten Unterschiede in der Produktivität zwischen (gut bezahlten, weniger produzierenden) Print-Redakteuren und (zu schlecht bezahlten, viel produzierenden) Online-Redakteuren sollte überwunden werden.
Bis heute ist dieser Graben nicht zugeschüttet. Es ist traurig aber wahr, dass a) immer noch gewaltige Unterschiede zwischen Kollegen gemacht werden, b) sich diese nicht auf Augenhöhe begegnen und c) die Honorare noch immer stark divergieren.
Dass diese Zusammenführung selbst bei der „NY Times“ nicht wirklich geglückt ist, räumt auch Jill Abramson ein: „Ich dachte immer, die ‚Times‘ sei anderen in der Integration des Web viele Jahre voraus – aber das stimmt gar nicht. Wir müssen jetzt endlich eine Redaktion ohne Unterschiede schaffen, in der sich die Leute mit Print wie mit Online gleich wohl fühlen.“
Redakteur wird zum „Macroeditor“
Doch in Deutschland kommt das besondere Problem hinzu, dass zahlreiche – im Ausland längst selbstverständliche – Jobprofile hierzulande noch nicht existieren. Für eine zeitgemäße, kreative Arbeitsteilung sind sie jedoch erforderlich. Die Ursache dafür liegt in der traditionellen Rolle des deutschen „Redakteurs“, der – ganz ähnlich dem humboldtschen Bildungsideal – dem universellen Anspruch folgt, alles gleichzeitig (und gleich gut) zu können.
Eine Arbeitsteilung in Rechercheure und Reporter, Autoren und Headline-Texter, Korrespondenten und Planer hat sich zwar langsam durchgesetzt. Aber zahlreiche neue Jobs und Fachbereiche, die in einem „Creative Room“ notwendig sind, fehlen oft noch. Im englischsprachigen Raum tragen sie Titel wie „Social Media Editor“, „Narrative Editor“, „Community Editor“, „Macroeditor“, „SEO Editor“ und und und.
Am Anfang einer arbeitsteiligen und letztendlich optimalen kreativen Neuordnung einer Redaktion steht die Analyse, welche Jobs und Profile erforderlich sind. Als die Financial Times in den Jahren 2009 und 2010 ihre Redaktion umbaute, musste sie nicht nur TV-Redakteure von der BBC abwerben, sondern auch zehn Programmierer aus der kalifornischen Games-Szene.
Kein Zweifel: Der Balken hat Redaktionen schon durchlässiger und offener gemacht. Es sind neue Formen der Organisation in Abläufen und interner Zusammenarbeit erst möglich geworden. Journalisten arbeiten heute ressortübergreifender als früher, und ihre journalistischen Produkte sind hybrider, fließen wie selbstverständlich in unterschiedliche Endprodukte: Apps, Papier, Webseiten. Doch ein Newsroom macht eine Redaktion nicht per se kreativer – und damit im Sinne von Abramson auch nicht ertragreicher. Ein Newsroom ist kein Selbstzweck. Im Krankenhaus wird in existenziellen Krisen zwischen Palliativmedizin und kurativen Methoden unterschieden. Der Newsroom wirkt in der Krise der Verlage vielleicht lebensverlängernd, aber er kann sie nicht heilen. Überspitzt gesagt: Er wird die Beerdigung einiger Marken am Ende nur teurer machen anstatt sie zu verhindern.
Man muss kein Spötter sein, um festzustellen, dass deutsche Verleger zu Mäzenen geworden sind, die im Netz (und längst ja auch mit Hunderttausenden von kostenlosen Druckexemplaren in Flugzeugen, Autovermietungen und Pizzerien) gewissermaßen mit der Haltung öffentlich-rechtlicher Anbieter ihre teuer produzierten Inhalte zuerst relativ verwechselbar machen und sie danach gratis verteilen – ohne freilich bislang dafür Gebühren verlangen zu können. Die seltsame, nur in Deutschland geführte Debatte um das Leistungsschutzrecht verstärkt diesen Eindruck. Nachdem die Gratiskultur allgemein als Problem erkannt wurde und als geschäftsschädigend gegeißelt wird, verlangen Verleger nun eine Gebühr.
Kritische Beobachter im Ausland, etwa beim „Economist“ oder der „Financial Times“ wundern sich wiederum: Warum bloß haben sich deutsche Verlage nicht für das teure Geld Redaktionen gebaut, in denen wirklich unverwechselbare Marken gedeihen und in denen sie einen wirklich unverwechselbaren Journalismus herstellen, für den sie ordentliches Geld verlangen können?
Was fehlt: einzigartige Produkte
Der Newsroom der Zukunft, egal wie er dann genannt wird, sollte so umgestaltet werden, dass er viel mehr für Menschen produziert, die bereit sind für Inhalte zu zahlen und weniger für Menschen, die nichts zahlen wollen. Anstatt sich auf neue, innovative Wege zu begeben, behalten deutsche Verlage lieber das bewährte Modell bei und fordern öffentliche Subventionen. Doch diese würden wahrscheinlich den letzten Funken Kreativität und Innovation killen – und Newsrooms in nicht mehr als „Restrooms“ verwandeln.
Es ist auch ein Resultat der deutschen Newsroom-Praxis, dass alle Wettbewerber mit teuren Mitteln mehr oder weniger dasselbe (Gratis-)Produkt herstellen und es verbreiten. Das schafft kaum Differenzierung des Angebots und einzelner Marken, wie man immer wieder am Zeitungskiosk erkennen kann.
Uniformität ist ein Meister aus Deutschland. So wie ein Marsmensch 1979 vermutlich nicht sofort den Unterschied zwischen einem Wartburg und einem Golf I erkannt hätte, ist nur für Kenner oder oft nur bei genauem Hinsehen erkennbar, was die „Welt am Sonntag“ anders macht als die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“. Trotz neuer Designs und zahlreicher Relaunchs in den vergangenen fünf bis zehn Jahren wurden fast alle Zeitungen zwar ein bisschen schöner, aber nicht wirklich anders.
Es mag daran liegen, dass „WamS und „FAS“ wie rund 50 weitere Titel im Land von derselben Agentur KircherBurkhardt gestaltet wurden. Keine einzige Zeitungsmarke in Deutschland hat es bisher auch nur in Ansätzen gewagt, die Ressortstruktur aufzubrechen, deren Entstehung ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Die uralten Ressorts finden sogar Eingang in die Online- und Tablet-Versionen der Zeitungsmarken. Doch sind „Inland“, „Ausland“, „Wirtschaft“ oder „Sport“ wirklich noch die Abteilungen, in die wir das Geschehen – und das Begreifen – der Welt in Zukunft segmentieren sollten?
Auch morgen noch einzigartig
Die neuartige Zeitung i in Portugal gibt Anlass zur Annahme, dass sich weniger Menschen von den Zeitungsmarken abwenden würden, wenn ihre Inhalte anders sortiert wären: mit fließenden Grenzen und viel mehr nach den persönlichen Bedürfnissen und Sichtweisen der Menschen. Ein Grund für den deutschen Strukturkonservativismus liegt darin, dass es als zu anstrengend empfunden wird, die Organisation von Redaktionen entlang der traditionellen Ressorts und die gerade erst vor zehn Jahren mit den Newsrooms geschaffene Produktion zu reformieren.
Doch die Investitionen in hübsche neue Designs, die allen Verlagen finanziell viel abverlangt haben und in einigen Fällen beinahe die letzten Barreserven aufbrauchten, würden sich als Fehlinvestition entpuppen, wenn sich die Redaktionen jetzt nicht konsequent organisatorisch weiterentwickelten – und dafür noch einmal Geld investierten. Die Marken und Produkte sollten am Ende so einzigartig werden, dass sie auch in Zukunft die Menschen noch begeistern können. Und das am besten auch noch besser und mehr als heute. Damit könnte sich die Zeitungsbranche hoffentlich auch aus dem „Endgame“ heraus manövrieren, das ihr Philip Meyer schon 2008 in einem Essay für das „American Journalism Review“ attestiert hatte. Das wäre wahrlich einen Big Bang wert.
Dieser Text erschien zuerst im MEEDIA-Jahrbuch 2012.