,

Eine vorläufige Bilanz des NSU-Untersuchungsausschusses

Nach 40 Sitzungstagen der Beweisaufnahme durch den 2. Untersuchungsausschuss der 17. Wahlperiode des Deutschen Bundestages, nach der Sichtung von rund 8.000 Aktenordnern und nach der Vernehmung von mehr als 90 Zeugen soll hier ein erster Versuch unternommen werden, eine vorläufige Bilanz der Erkenntnisse zu skizzieren.

Ich lasse ich dabei von mehreren Fragen leiten: Wie konnte es dazu kommen, dass das NSU-Trio Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe nach seinem Abtauchen 1998 nicht gefunden wurde? Welche Chancen hätte es gegeben, die Untergetauchten in den folgenden 13 Jahren zu finden? Warum wurden diese Chancen nicht genutzt? Warum ist es nicht gelungen, die Zusammenhänge von zehn Morden, zwei Sprengstoffanschlägen sowie zahlreichen Banküberfällen zu erkennen und rechtsterroristischen Tätern zuzuordnen? Wäre es sogar möglich gewesen, sie konkret dem NSU-Trio zuzuordnen?

Die Defizite in der Arbeit der Sicherheitsbehörden betreffen allerdings keineswegs nur den vielgescholtenen Verfassungsschutz. Auch die Polizei und nicht zuletzt die Justiz haben schwere Fehler gemacht.

Mangelnde Analysefähigkeit

Bei der Durchsuchung der Garage in Jena im Januar 1998 wurde neben Sprengstoff auch eine Telefonliste des Uwe Mundlos gefunden, die sich wie ein Auszug aus dem „who-is-who der rechtsextremen Szene“ liest. Die Liste mit Adressen im gesamten Bundesgebiet lässt Schwerpunkte genau dort erkennen, wo die Terrorgruppe später untergetaucht ist (Chemnitz) und Mordtaten begangen hat. Sowohl das Thüringer Landeskriminalamt (LKA) wie auch ein dort tätiger Beamter des Bundeskriminalamts (BKA) bewerteten die Liste aber als unwesentlich.

Nach dem Sprengstoffanschlag 2004 in der Kölner Keupstraße wurde beim Tatmittelmeldedienst des BKA, einer Zentraldatei für Sprengstoffdelikte, nach vergleichbaren Fällen gesucht. Ohne erklärbaren Grund wurde dabei die Recherche auf den Zeitraum bis 1999 beschränkt. Sprengstoffanschläge sind in Deutschland zum Glück nicht allzu häufig, eine breiter angelegte Recherche hätte also zu keiner unüberschaubaren Informationsflut geführt. Statt der willkürlich anmutenden Fünf-Jahres-Frist hätte – bei einem Anschlag mit fast ausschließlich türkischstämmigen Opfern zwingend -als Suchwort „Rechtsradikale“ Verwendung finden müssen. Nur ein Jahr weiter zurückgeschaut, die Ermittler wären fündig geworden: Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe waren mit mehreren Sprengstoffdelikten beim Tatmittelmeldedienst registriert – zuletzt wegen des Sprengstofffundes in der Garage in Jena.

Unkultur des Zurückhaltens

Verschiedene Verfassungsschutzbehörden und Polizeidienststellen hatten Erkenntnisse zu dem untergetauchten Trio, die für die zuständigen Ermittler anderer Dienststellen von großer Bedeutung gewesen wären. Hinweise wie „Die Drei brauchen Geld“, „Die Drei brauchen Waffen“ oder „Die Drei brauchen jetzt kein Geld mehr, weil sie ‚jobben'“, hätten elektrisiert und wertvolle Ansätze für weitere Untersuchungen gegeben. Aus oft nicht nachvollziehbaren Erwägungen wurden solche Hinweise aber nicht weitergegeben, sondern verblieben ungenutzt in den Akten. Die hierfür meist genannte Begründung „Schutz der eigenen Quellen“ vor Enttarnung überzeugt mich in ihrer Pauschalität nicht, es hätte sicher Wege gegeben, die Informationen so weiterzugeben, dass die Quelle nicht enttarnt wird.

Deutlich ist aber festzustellen: Diese Unkultur des Zurückhaltens ist keineswegs nur ein Problem des Verfassungsschutzes. Ein besonders erschreckendes Beispiel bot hier das Landeskriminalamt Berlin in den Jahren 2001 und 2002: Konkrete Hinweise auf Waffenhandel in der Szene und auf mit Haftbefehl wegen Sprengstoffbesitzes gesuchte Thüringer, die jeden Polizisten alarmieren mussten, verstaubten im LKA – offenbar, weil sie im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens wegen der Verbreitung verbotener Tonträger gegeben wurden und für dieses Verfahren bedeutungslos waren.

Eine der wichtigsten Erkenntnisse unseres Ausschusses ist: Die zukünftige Arbeit der Sicherheitsbehörden muss frei von Engstirnigkeit und „Betriebsblindheit“ sein, sie muss in größeren Zusammenhängen denken und mit erkennbar wertvollen Informationen auch dann sachgerecht verfahren, wenn diese für eigene Zwecke von geringer Relevanz sein mögen.

Kompetenzstreitigkeiten 

Wir haben feststellen müssen, dass es insbesondere zwischen dem BKA und den Polizeidienststellen der Länder bei den Ermittlungen zur Ceska-Mordserie Auseinandersetzungen über die Frage der Federführung gab: 2004 wollten die Länder den Fall zur zentralen Ermittlungsführung an das BKA abgeben – dieses weigerte sich. Mitte 2006, nach den unmittelbar aufeinander folgenden Morden in Dortmund und Kassel, wollte das BKA den Fall an sich ziehen – die Länder sprachen sich dagegen aus, weil sie gerade mit großem Einsatz ermittelten und es für sachwidrig hielten, „mitten im Galopp die Pferde zu wechseln“. Als Kompromiss schuf man eine Art Koordinierungsgremium, was den Reiz gleichberechtigter Partizipation, aber gleichzeitig das Risiko fehlender Führungsfähigkeit in sich trug. Und 2007 – ohne dass ein Grund für diesen erneuten Gesinnungswandel ersichtlich ist war es dem BKA dann wieder wichtig, keinesfalls eine Führungsrolle bei den Ermittlungen zu erhalten.

Aus diesem Wirrwarr sind Lehren zu ziehen: Komplexe, mehrere Bundesländer betreffende Ermittlungsverfahren müssen in der Federführung einer Polizeidienststelle und möglichst auch einer Staatsanwaltschaft liegen. Die Federführung kann, muss aber keineswegs auf polizeilicher Seite beim BKA liegen. Hierüber sollte einzelfallbezogen entschieden werden.

Ermittlungen in alle Richtungen?

Vorweg: Wir haben keine Anhaltspunkte dafür erlangt, dass Ermittlungsbehörden sich bewusst Hinweisen auf rechtsextremistische Straftäter verweigert hätten. Auch sind sorgfältige Ermittlungen im Opferumfeld gerade bei Mordtaten keineswegs falsch und wichtiger und oft erfolgreicher Bestandteil guter Polizeiarbeit. Fest steht allerdings, dass die meisten Ermittler bei der Ceska-Mordserie und den Sprengstoffanschlägen in Köln auf eine bestimmte Ermittlungsrichtung ihren Schwerpunkt gesetzt – die „Organisierte Kriminalität“ – und auch dann noch daran festgehalten haben, als längst keine Spuren mehr in diese Richtung führten.

Die bayerische Polizei wiederum ermittelte ab 2006 auch in Richtung möglicher rechtsextremer Tathintergründe – teilweise gegen den Widerstand anderer Ermittlungsbehörden in der ab 2006 gebildeten „Steuerungsgruppe„.

Bei Gewaltstraftaten an ausländischstämmigen Mitbürgern muss deshalb zukünftig immer auch ein mögliches fremdenfeindliches Motiv erwogen und sorgfältig abgeklärt werden.

Erkenntnisgewinn durch V-Leute?

Das Aufklärungsmittel „V-Person“ wird auch in Zukunft grundsätzlich ein unverzichtbares Instrument bleiben. Auch im Phänomenbereich Rechtsextremismus. Im konkreten Fall des untergetauchten Trios haben unsere Untersuchungen zwar ergeben, dass die Sicherheitsbehörden im Umfeld über ausreichend V-Leute verfügten – die Ertragslage aber dennoch spärlich blieb. Auf das Untertauchen in Chemnitz gab es noch Hinweise, auf das Leben in Zwickau ab 2000 dann nicht mehr. Insgesamt standen Aufwand und Nutzen des Instruments „V-Person“ in keinem Verhältnis.

Für den zukünftigen Einsatz verdeckt operierender, angeworbener Personen aus der „Szene“ werden diese Lehren zu berücksichtigen sein. Hier wird der Untersuchungsausschuss sicherlich Empfehlungen abgeben, auch zu der wichtigen Frage, unter welchen Umständen ein Szeneangehöriger nicht als V-Person angeworben werden darf – gerade auch mit Blick auf die vielfach erhebliche strafrechtliche Vorbelastungen von V-Personen.

Fehleinschätzungen 

Wir haben festgestellt: Die Behörden haben mit großem Engagement die rechte Musikszene und den entsprechenden Vertrieb von Tonträgern aufgeklärt und verfolgt. Dies ist auch zu begrüßen, tragen diese abstoßenden Texte doch nicht unerheblich zu einer Radikalisierung gerade junger Menschen bei. Zu kritisieren ist aber, dass die Konzentration auf den „Kampf gegen CDs“ dazu führte, dass Hinweise auf Waffenbesitz oder Waffenhandel in der Szene gleichsam links liegen gelassen wurden. Hier müssen künftig die Gewichte wieder stimmen – gerade dem Besitz von Waffen und Sprengstoff in der Szene muss der Staat mit Entschiedenheit entgegentreten.

Ein Grund für diese verfehlte Prioritätensetzung ist der Umstand, dass die Behörden in ihrer Gesamtheit die Gefährlichkeit des gewaltbereiten Rechtsextremismus unterschätzt haben. Noch 2004 nannte das Bundesamt für Verfassungsschutz in einer Schrift „zur Gefahr des Rechtsterrorismus“ zwar die untergetauchten Bombenbauer aus Jena -natürlich ohne zu wissen, dass der NSU zu diesem Zeitpunkt mutmaßlich fünf Menschen ermordet und zwei Sprengstoffanschläge verübt hatte. Die gemeinsame Auffassung aller Sicherheitsbehörden war: In Deutschland gibt es keine rechtsterroristischen Strukturen. Das stand auch jedes Jahr im Verfassungsschutzbericht.

Fehler der Justiz

In der öffentlichen Wahrnehmung der Arbeit des Ausschusses steht die Justiz wenig im Fokus der Kritik. Doch diesem Eindruck muss widersprochen werden. Der Untersuchungsausschuss hat hier zahlreiche Defizite feststellen müssen. So wurde das Verfahren in Thüringen 2003 gegen alle drei untergetauchten Sprengstofftäter wegen angeblicher Verjährung eingestellt, obwohl diese zumindest bei einer Person gar nicht eingetreten war – die zuständige Staatsanwaltschaft Jena übersah anscheinend eine Verjährungsunterbrechung.

Wenn der Generalbundesanwalt (GBA) Informationen über einen Sachverhalt erhält, bei dem noch unklar ist, ob er in seine Verfolgungszuständigkeit fällt, legt er einen sogenannten Prüfvorgang an. Je nach Ausgang dieser Prüfung mündet der Prüfvorgang in ein Ermittlungsverfahren des GBA oder in den Abschluss der Prüfung nach festgestellter Unzuständigkeit. Zumindest zwei solche Prüfvorgänge hat der GBA zu Straftaten angelegt, die der Terrorgruppe zur Last gelegt werden: zu den Bombenfunden in Jena und zur Ceska-Mordserie. Wir haben im Ausschuss erstaunt feststellen müssen, dass die Akten zahlreicher Prüfvorgänge des GBA aus kaum mehr als aus einigen Zeitungsartikeln zum jeweiligen Sachverhalt bestehen. Eigene Anfragen, Prüfung polizeilicher Sachstandberichte – Fehlanzeige. Dieser Zustand, dass der GBA aufgrund von Medienberichten über seine Zuständigkeit oder Unzuständigkeit befindet, ist inakzeptabel und unprofessionell.

Deutlich kritisiere ich den zu oft inkonsequenten Umgang der Justiz mit rechtsextremistischen Straftätern. Mit Betroffenheit haben wir beim Blick auf Straftaten aus der rechtsextremistischen Szene in der Zeit, als die spätere Terrorgruppe sich zusammenfand und radikalisierte, das Verhältnis von Verfahrenseinstellungen zu Anklageerhebungen oder gar Verurteilungen sowie die oft überlangen Verfahrensdauern zur Kenntnis genommen. Ob dies an mangelnder Sensibilität oder an fehlenden Ressourcen lag, ist im Einzelfall schwer zu entscheiden – fest steht aber, dass bei zahlreichen Vorgängen der Eindruck entstehen musste, dass kein wirklicher Verfolgungsdruck gegenüber rechtsextremistischen Straftätern und Strukturen bestand.

Schlussbemerkung

Es ist viel Vertrauen in die deutschen Sicherheitsbehörden verloren gegangen. Unser Auftrag war und ist es, die Grundlagen für dieses Vertrauen wieder zu festigen – durch rückhaltloses Aufklären der Mängel. Dies sind wir den Opfern und ihren Angehörigen schuldig – und unserem demokratischen Rechtsstaat. Der Ausschuss wird sachlich, vorurteilsfrei und ohne Scheuklappen Vorschläge machen, wie die Sicherheitsstruktur der Bundesrepublik Deutschland verbessert werden kann. Längst ist begonnen, die erkannten Mängel abzustellen. Und dann sind alle gefordert ihren Beitrag dazu zu leisten, dass sich diese Fehler nicht wiederholen.