Julius Tröger: Heiß auf Daten
Es riecht nach Schweiß. Rentner quetschen sich aneinander. Ein Baby schreit. Die Linie M29 in Berlin. Der “Bus der Hölle”. Vom sozialen Brennpunkt Neukölln fährt er quer durch die Stadt bis ins Villenviertel Grunewald, passiert dabei den Görlitzer Park, Checkpoint Charlie und das KaDeWe. Eine Fahrt mit dem Höllenbus lässt sich auch virtuell wagen – ganz ohne Gerüche und Geschrei.
In einer Multimedia-Reportage zeigt die Berliner Morgenpost zur Fahrt durch die Stadt Statistiken zum Migrationshintergrund, Mietpreisen oder der Anzahl von Airbnb-Wohnungen in der jeweiligen Gegend an. Die Nutzer lernen, wie gegensätzlich das Leben zwischen den Haltestellen Hermannplatz und Roseneck ist.
Julius Tröger ist maßgeblich verantwortlich für das Projekt. Der Datenjournalist leitet das Interaktiv-Team der Berliner Morgenpost und macht der Branche vor, wie packend Online-Journalismus auf Basis scheinbar langweiliger Zahlenreihen sein kann. Beigebracht hat er sich das Handwerk größtenteils selbst, mit Hilfe des Internets. Eine Investition, die sich auszahlt: Datenjournalisten sind in Redaktionen mindestens so begehrt wie Facebook-Junkies, in Deutschland gibt es erst ein paar Dutzend von ihnen.
Als Zeit Online und Open Data City gemeinsam 2011 eine Geschichte zur Vorratsdatenspeicherung von Handy-Signalen veröffentlichten, war Trögers Ehrgeiz geweckt: Er wollte wissen, wie man solche Datenmengen visualisieren kann. Nach dem Besuch eines Datenjournalisten-Treffens in Berlin setzte der Online-Journalist sein erstes Projekt um, gemeinsam mit seinem Kollegen André Pätzold. Die Karte zu Straftaten in Berliner U-Bahnhöfen “war für 2011 gar nicht so schlecht. Aber wenn du dir das heute anguckst, geht das gar nicht”, sagt Tröger. Seit dem lernt er mit jedem Projekt dazu.Wenn der 31-Jährige über seine Arbeit spricht, geht es oft um Klicks oder Shares. Die Zugriffszahlen sind seine Währung. Sie messen seinen Erfolg. Als 2011 das Berliner Abgeordnetenhaus gewählt wurde, bastelte er mit Pätzold eine Nacht lang an einer interaktiven Karte zur Wahl. Darauf konnten die Berliner bis auf Kiez- oder Straßenebene nachverfolgen, wie viele Stimmen abgegeben wurden. Das Ergebnis: Die Karte wurde nicht nur fleißig geklickt, sondern gewann auch noch Preise wie den Open-Data-Wettbewerb. Das überzeugte Morgenpost-Chefredakteur Carsten Erdmann. Fortan sollte Tröger nur noch “solche Sachen” machen.
Europas beste regionale Datenjournalisten
Sein Auftrag: Geschichten erzählen, die nur im Web funktionieren. Und das mithilfe von Daten. „Datenjournalismus ist, als hättest du eine unlimited army of interns“, sagt Tröger. Texte kopieren, Ordner sortieren, Zahlen in Tabellen eintragen – die neue Billigkraft ist nicht mehr der Praktikant, sondern der eigene Computer. Websites oder Datenbanken des Statistischen Landesamtes lassen sich mit Hilfe von Programmen einfach auslesen. „Scrapen” nennen das die Experten. Das spart nicht nur Zeit, sondern hilft auch dabei, Exklusivgeschichten zu finden. Das beeindruckt auch die Print-Kollegen.
Während viele Verlage sparen, hat Tröger geschafft, Fuß zu fassen. Seit über einem Jahr leitet er das Interaktiv-Team der Berliner Morgenpost. Innerhalb des Onlineressorts konnte er sich sein eigenes kleines Team zusammenstellen und bekam einen Programmierer an die Seite gestellt. Seine wichtigsten Mitarbeiter sind Max und Moritz: Max Boenke unterstützt das Team vor allem audiovisuell als Web-TV-Journalist. Moritz Klackhilft Tröger bei aufwendigen Programmierarbeiten. Für ihre Arbeit bekommen sie nicht nur aus der Netz-Community viel Zuspruch. Lob kommt auch von Kollegen aus dem Ausland. Martin Stabe, Datenjournalist der Financial Times in London preist sie auf Twitter: “meiner Meinung nach Europas bestes regionales Datenjournalisten-Team.”
Beruf und Freizeit verschwimmen bei Tröger. Das Programmieren gehört für den Wahlberliner einfach zum Alltag dazu. Er besucht Workshops, versucht mehr dazuzulernen. Im Herbst 2012 nahm er unbezahlten Urlaub, um für einen Monat in New York zu lernen. Seine erste Station: ProPublica, eine stiftungsfinanzierte Rechercheredaktion für investigativen Journalismus. Dort arbeitete er zum ersten Mal mit Programmierern zusammen. “Da hab ich am Anfang überhaupt nichts verstanden. Das war echt so ein Nerd-Crashkurs.” Während der Zeit bei ProPublica arbeitete Tröger insbesondere an seinem Flugroutenradar. Über diesen können Berliner überprüfen, wie sehr ihr Wohngebiet von Fluglärm betroffen ist. Die zweite Station: das Interaktiv-Team des Guardians in New York.
HTML, CSS und Javascript
Programmieren hat sich Tröger während seiner Projekte selbst beigebracht. Neben dem Job macht er seit 2009 seinen Master in Wirtschaftsinformatik. Seitdem gingen immer wieder Abende und Wochenenden drauf, an denen er Web-Tutorials und Online-Foren durchforstet hat. Wenn etwas nicht funktioniert, können Andere im Netz oft helfen, sagt Tröger. Besonders Online-Journalisten müssten wissen, welche Möglichkeiten das Internet zu bieten hat. Dazu gehören Grundkenntnisse in HTML, CSS und Javascript. Das sei wie bei den TV-Kollegen: Ein Fernsehredakteur könne Nachrichten im Notfall selbst schneiden. Große Reportagen übernehme besser der Cutter. Das gleiche gelte für Online-Journalisten und Programmierer, sagt Tröger.
Ursprünglich wollte Tröger eigentlich Informatiker werden. Aufgewachsen im baden-württembergischen Balingen sei er als Kind eher ein Nerd gewesen, der bereits im Grundschulalter an Rechnern schraubte. Doch auch fürs Schreiben habe er sich schon immer interessiert. Mit einem Freund aus der Nachbarschaft bastelte er eine Zeitschrift mit dem Namen „Unaufhaltsam Unterhaltsam“. Die sollten die Eltern dann für zwei Mark kaufen, sagt Tröger.
Ende der neunziger Jahre hatte er mit gerade einmal fünfzehn Jahren eine eigene Website, eine Art Online-Jugendmagazin. Die Seite hatte er selbst programmiert und darauf gemeinsam mit Freunden Artikel über die letzte Party veröffentlicht. Nicht nur deshalb kennt sich der 31-jährige Perfektionist mit Regionalnachrichten bestens aus. Schon während seines Studiums volontierte er beim Schwarzwälder Boten.
Auch heute setzt Tröger vor allem auf Geschichten, die nah am Leser sind. So auch bei seinem Mietkartenprojekt. Auf einer interaktiven Karte können Berliner ihr Nettoeinkommen und ihre gewünschte Wohngröße einstellen, um zu erfahren, in welchen Stadtteilen sie sich die Miete noch leisten können. “Statt einer Nachricht für alle, gibt es für alle eine eigene Nachricht. Das ist das besondere am Datenjournalismus.” Mit dem Service will Tröger die Leser an die Morgenpost binden. „Ich glaube wir haben uns mittlerweile einen Namen in Berlin gemacht.“ Die Kollegen sind jedenfalls begeistert: Das Medium Magazin wählte Tröger im Dezember zum Reporter des Jahres in der Kategorie “Regional”.
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