Keine Stern-Stunde
Es war der Presse-Skandal in der bundesdeutschen Geschichte – die Veröffentlichung der vermeintlichen „Hitler-Tagebücher“ im „Stern“ im Frühjahr 1983. Pompös auf einer internationalen Pressekonferenz als Jahrhundertfund vorgestellt, erwies sich der Knüller zwei Wochen später als dreiste Fälschung. Das Ansehen und die Glaubwürdigkeit des Blattes waren auf Jahre hinaus schwer ramponiert.
Die Affäre ist ein Lehrstück dafür, wie eine Redaktion und ein Verlag keineswegs arbeiten dürfen. Denn im Fall der „Hitler-Tagebücher“ war die Katastrophe von Anfang an programmiert: Reporter Gerd Heidemann und Ressortleiter Thomas Walde gingen mit ihrem angeblichen Sensationsfund nicht zur Chefredaktion, sondern gleich zur Verlagsspitze. Der Vorstandvorsitzende entschied, den Fall geheim zu halten und die Tagebuchbände ohne jede Prüfung anzukaufen. Dass er damit gegen die vertraglichen Rechte der Chefredakteure verstieß, interessierte nicht.
Dazu bekamen Walde und Heidemann ohne Wissen der Chefredaktion Verträge, die sie erstens am wirtschaftlichen Erfolg des Projekts wesentlich beteiligten und ihnen zweitens die exklusive und alleinige Auswertung der Tagebücher garantierte. Heidemann, der in großen finanziellen Schwierigkeiten steckte, bekam Millionen Mark bar in die Hand gedrückt. Die Chefredaktion erfuhr von dem ganzen Projekt erst, als schon mehr als eine Millionen Mark investiert war. Am Schluss hatte der Verlagschef 9,3 Millionen Mark für Altpapier ausgegeben.
Bedenken vom Tisch gewischt
Vom ersten Tag an gab es für Heidemann und Walde immer wieder massive Hinweise darauf, dass die Tagebücher nicht echt seien konnten. Doch sie schoben alle Zweifel mit zum Teil abenteuerlichen Begründungen beiseite. Selbst als ein in letzter Minute eingeholtes Papiergutachten eine Fälschung nahelegte, wurden die Bedenken vom Tisch gewischt. Man wollte sich den Traum vom Ruhm und großen Geld nicht zerstören lassen.
Die „Stern“-Redakteure selbst erfuhren von der Existenz der Tagebücher erst unmittelbar vor der Veröffentlichung, als die „Stern“-Nachrichtenredaktion am 22. April 1983 eine Vorabmeldung darüber an die Presseagenturen herausgab.
Inzwischen hatte der Verlag Gruner + Jahr die Hitler-Story weltweit verkauft. So zahlte der australische Medien-Tycoon Ruppert Murdoch 1,2 Millionen Dollar, nach Prüfung der Unterlagen durch den britischen Historiker Trevor Roper begann die „Sunday Times“ mit einem Serien-Abdruck. „Paris Match“ zahlte 400.000 Dollar für die französischen Exklusivrechte, die spanische Grupo Teta 150.000 Dollar.
Schonungslose Aufklärung
In den deutschen Medien herrschte Skepsis vor. Die Frage echt oder unecht wurde leidenschaftlich diskutiert. Das ZDF lud Historiker zum live gesendeten Streitgespräch mit „Stern“-Chefredakteur Peter Koch ein. Der „Spiegel“, der in der Vergangenheit zahlreiche Hitler-Titelgeschichten veröffentlicht hatte, formulierte diesmal seine Schlagzeile vorsichtig: „Fund oder Fälschung?“.
Als die Fälschung am 6. Mai 1983 amtlich feststand, hat die „Stern“-Redaktion alles unternommen, um den Skandal aufzuklären und die Leser und die Öffentlichkeit umfassend und schonungslos darüber zu informieren. Der „Stern“ veröffentlichte mehrere Titelgeschichten zum Thema, unter anderem über den Fälscher Konrad Kujau und seine Zusammenarbeit mit Heidemann. Außerdem wurde ein redaktioneller Untersuchungsausschuss eingesetzt, der den gesamten Vorgang unter Vorsitz des ehemaligen Hamburger Justizsenators, Prof. Ulrich Klug, aufarbeitete. Der Vorstand von Gruner + Jahr befreite alle als Zeugen benannten Mitarbeiter in Redaktion und Verlag gegenüber dem Ausschuss von ihrer Verschwiegenheitspflicht. Es war das erste Mal in der deutschen Pressegeschichte, dass so ein Gremium installiert wurde. Der Abschlussbericht wurde in wesentlichen Teilen wörtlich im „Stern“ veröffentlicht. Auch über den anschließenden Strafprozess gegen Kujau und Heidemann hat der „Stern“ kontinuierlich berichtet.
Auflagen-Rückgang und geschärftes Bewusstsein
In Presse, Funk und Fernsehen erregte der Fall weltweit große Aufmerksamkeit. Es gab eine Welle der Kritik in den Medien. Einige Journalisten, etwa die Ex-„Stern“-Redakteure Manfred Bissinger und Erich Kuby, nutzten den Fall in wenig später erscheinenden Büchern zur Generalabrechnung mit dem Blatt.
Das Echo bei den Lesern war niederschmetternd. Zehntausende kündigten ihre Abonnements, die Auflage des „Stern“ sank dramatisch.
Innerhalb von Gruner + Jahr galten ab sofort wieder die bewährten Regeln mit klaren Kompetenzabgrenzungen zwischen Redaktionen und Verlag. Die Mitspracherechte der Redakteure wurden in neu formulierten Redaktionsstatuten geregelt.
Der Skandal um die „Hitler-Tagebücher“ hat bei den Journalisten allgemein und beim „Stern“ insbesondere das Bewusstsein für exakte Recherche und kritische Bewertung der gewonnenen Erkenntnisse geschärft. Dass die Kontrollmechanismen nicht überall und jederzeit funktionieren, zeigen die Medien-Affären der vergangenen Jahre – getürkte Interviews, gefälschte TV-Reportagen, große Polit-Skandale, die sich als Erfindungen windiger Zeugen entpuppten. Im Kampf um Auflagen und Einschaltquoten bleibt leider ab und an die Wahrheit auf der Strecke.