Wer von den verpassten Möglichkeiten und den Problemen berichten will, die Zeitungen und Zeitschriften mit dem digitalen Erzählen haben, erhielt zur Jahreswende ein schönes Beispiel. Am 29. Dezember erschien in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ ein Interview mit Peer Steinbrück. Der SPD-Kanzlerkandidat sagte darin, der „Bundeskanzler verdient zu wenig“, wie die „FAS“ titelte. Seine Aussagen wurden vielfach zitiert und interpretiert. Sie sorgen bis heute für Nachrichtenstoff.

Eine Woche später berichteten „Spiegel Online“, „Welt.de“, „Süddeutsche.de“ und andere Websites, dass Steinbrück sich missverstanden fühle. Er habe keinesfalls gefordert, den Verdienst des Bundeskanzlers zu erhöhen, wie ihn viele Medien interpretierten. An diesem Punkt wäre der einfachste und beste Dienst am Leser, seine Aussagen lang und breit zu wiederholen oder aber ganz einfach – wir reden ja von Online-Zeitungen – das entscheidende Interview der „FAS“ zu verlinken. Dann könnte jeder Steinbrücks Aussagen nachlesen. Diese Form, online eine Nachricht zu erzählen, wäre gedrucktem Journalismus überlegen. Denn gedruckt müsste man lang und breit referieren, was die „FAS“ ihn gefragt und was Steinbrück geantwortet hatte, zum Beispiel:

Ein Bundeskanzler oder eine Bundeskanzlerin verdient in Deutschland zu wenig – gemessen an der Leistung, die sie oder er erbringen muss und im Verhältnis zu anderen Tätigkeiten mit weit weniger Verantwortung und viel größerem Gehalt.

Kein Link auf Originalquelle

Tatsächlich könnte man online auf längere Zitate verzichten, solange das Interview verlinkt ist. Doch „Spiegel Online„, „Welt.de“ und „Süddeutsche.de“ zitierten weder sehr ausführlich noch verlinkten sie auf die Originalquelle der „FAS“. Stattdessen verlinkten sie lediglich frühere Artikel aus der eigenen Berichterstattung über das Interview. Offenbar verlinken sie lieber nicht zur Konkurrenz, um Leser auf der eigenen Website zu halten. Nur „Welt.de“ hat in dem früheren Artikel zur „FAS“ einen Link auf deren Website gesetzt.

Auch „FAZ.net“ selbst verfährt online inkonsequent. Am 5. Januar berichtete sie, dass Steinbrück sich selbst um den Job als Sparkassenchef beworben hatte. Der Bericht beginnt mit Steinbrücks Vergleich des Kanzlergehalts mit dem der Sparkassenchefs. Das ist die Stelle, an der die „FAZ“ zu ihrem Interview verlinken müsste. Dann könnte man sein Zitat noch mal im Original lesen. Stattdessen verweist der Autor nur auf Steinbrücks Aussagen. Journalistisch ist das in Ordnung – aber nicht wirklich gut, vor allem nicht im Internet. Dass sich der Link am Ende des Artikels in einer Liste findet, ist nur die zweit- oder drittbeste Lösung.

Online-Journalisten: Kaum Verständnis über eigenes Medium

Dass der Link an der entscheidenden Stelle fehlt, ist kein Skandal, sondern Alltag. Bedauerlicher Alltag. Denn der Link ist das zentrale Element, das digitales Erzählen bestimmt und es vom traditionellen Erzählen in gedruckten Publikationen unterscheidet. Nur haben viele Zeitungen und Magazine nicht verstanden, was das bedeutet. Deshalb finden sich in den online gestellten Versionen ihrer gedruckten Artikel viele Links, auf die sie verzichten könnten, in der Berichterstattung über Steinbrück beispielsweise Links zur SPD.

Den Unterschied zeigt ein Blogeintrag des Medienjournalisten Stefan Niggemeier: Als er am Dienstag in seinem Blog kritisierte, das Handelsblatt mache Propaganda gegen ARD und ZDF, betonte er, all die Zahlen, die das Handelsblatt als Nachricht nennt, stünden längst im 18. Bericht, den die Gebühren-Kommission 2011 vorgelegt hat. Niggemeier verlinkte an dieser Stelle diese Originalquelle.

Nachrichtenbeiträge in der Identitätskrise

In den USA kommen Journalisten derweil ins Grübeln, ob sich nicht grundsätzlich etwas ändern müsse an der Form des nachrichtlichen Erzählens. Der Nachrichtenbeitrag durchlebe eine Identitätskrise, konstatierte im September das Fachblatt Columbia Journalism Review. „Wir müssen die Form des Artikels überdenken und ihn mit etwas ersetzen, das dem Web ähnelt und seine Vorteile besser nutzt“, sagte Anthony de Rosa dem Fachmagazin.

De Rosa ist bei Reuters zuständig für Social Media. Ihm sei es ein Rätsel, warum Journalisten in mehr als einem Jahrzehnt nicht weitergekommen seien. Stattdessen erschöpften sich traditionelle Artikel im Web lediglich in einer „unheiligen interaktiven Mischung aus Retweets, Aggregation, Kuratierung, Blog-Kommentaren und Facebook-Weitergaben“. Artikel im Netz versuchten, Elemente von Social Media zu integrieren.

Für sinnvoll hält Anthony de Rosa das nicht. Digitales Erzählen bedeutet nicht, wahllos Videos, Twitter-Nachrichten und Facebook-Fitzel einzubauen. Es bedeutet, an entscheidenden Punkten einen relevanten Link zu setzen, der Zitate belegt oder Hintergrund liefert. Und es bedeutet, bei komplizierten Sachverhalten eine Entwicklung online in Erklärstücken darzulegen. Einfach, aber wirkungsvoll.


Dieser Beitrag ist ursprünglich in der „Berliner Zeitung“ sowie in der „Frankfurter Rundschau“ erschienen.