Mathias Müller von Blumencron: „Moderatoren statt Meinungsdiktatoren sein“
Stephan Weichert: Herr Müller von Blumencron, ein großer Vorteil des Digitalen Journalismus ist das Mehr an Teilhabe des Publikums an einem Medium und seinen Inhalten. Was bedeutet das für Sie persönlich und für Ihre Redaktion?
Mathias Müller von Blumencron: Für einige Leute bedeutet die Teilhabe des Publikums häufig erst einmal einen Schock. Wenn man zum ersten Mal die Härte in den Kommentaren erfährt und einem ein Shitstorm entgegenschlägt, schockiert das verständlicherweise viele Redakteure. Der Ton ist unerbittlich, weil die Leser von Zeit zu Zeit harscher als am Stammtisch argumentieren. Am Stammtisch sitzt mir mein Gesprächspartner unmittelbar gegenüber und meine menschlichen Instinkte in der menschlichen Kommunikation sind präsent. Aber im digitalen Raum fallen bei vielen Leuten sämtliche Grenzen und auch die Grenzen der Höflichkeit.
Ist Kommunikation mit dem Publikum also grundsätzlich etwas Schlechtes?
Ganz und gar nicht. Ich halte den Austausch mit den Usern für eine ganz, ganz wichtige Dimension. Wir denken bei uns jetzt auch intensiv über Debattenformate nach: Ein Experte schreibt pro ein Thema, ein anderer contra – und Experten aus dem Publikum können ebenfalls kommentieren. In dieser Art gibt es bereits bei der New York Times und beim Guardian Formate, die dort sehr beliebt sind. Wie auch immer solche Partizipationsmöglichkeiten aussehen, fest steht: Wir Journalisten müssen ein ganzes Stück weg von unserem autoritären Bewusstsein und mehr Moderatoren werden als nur Meinungsdiktatoren.
Denken Sie auch darüber nach, das Publikum in den redaktionellen Arbeitsprozess mit einzubeziehen?
Da gibt es viele Möglichkeiten, über die wir nachdenken. Am ehesten beziehen wir unser Publikum bisher jedoch ein, wenn wir Betroffenheit abbilden wollen. Wenn die Frage aufkommt, wie wir zum Beispiel eine abstrakte gesundheitspolitische Thematik illustrieren können, dann begeben wir uns in den sozialen Medien auf die Suche nach geeigneten Fallbeispielen. Das empfinde ich als eine absolute Bereicherung für unsere Arbeit. Dank all dieser Partizipationsmöglichkeiten können wir ein viel interessanteres Produkt kreieren als früher und als einzelner Journalist. Eine Webseite ohne Interaktionen mit dem Nutzer kann ich mir heute gar nicht mehr vorstellen.
Lassen Sie uns dennoch einen Blick auf die Kehrseite werfen: Wo und auf welchen Ebenen kann die Nutzereinbindung kontraproduktiv oder gar schädlich werden?
Wenn es um die ganz alltägliche Seite geht, nach welchen Mechanismen man seine Seite baut. Wir haben ja mittlerweile alle Realtime-Statistiken, anhand derer wir sehen können, welche Geschichten wie gut auf unseren Seiten geklickt werden. Wenn man nur noch anhand dieser Ergebnisse, also anhand des Publikumsgeschmacks seine Seite baut, dann hat man BuzzFeed und nicht mehr Spiegel oder die FAZ. Das heißt, ich bekomme eine Information, die nicht unseren Vorstellungen von einem qualitätshaltigen Medium entspricht. Und das ist auch logisch so, weil unsere Nutzer keine Profis sind und bestimmte Arbeiten sollte man den Profis überlassen, nach wie vor.
Über die Qualität von Kommentaren lässt sich streiten. Das ist für Sie aber kein Ausschlusskriterium der Kommentarfunktion?
Manchmal lassen sich 30 bis 40 Prozent der Kommentare zu einem Artikel gar nicht freischalten, weil sie so unterirdisch sind beziehungsweise sogar den strafrechtlichen Rahmen sprengen. Das ist erschreckend, aber das ist eine Frage der Steuerung. Diese Kommentare sollten nicht in Frage stellen, ob Partizipation gut oder schlecht ist. Die Leser sollten immer die Möglichkeit bekommen, Geschichten zu kommentieren.
Der Dialog mit dem Publikum kann auch zu einem permanenten Rechtfertigungsdruck führen. Wie kann man in Redaktionen mit diesem Problem umgehen?
Man muss als Journalist bereit sein, die Konsequenzen seiner Geschichten zu tragen und sich dafür zu rechtfertigen. Ich erwarte von Journalisten, dass sie im Interview mit einem bekannten Gesprächspartner nicht vor Respekt erstarren, sondern dass sie mit der Situation fertig werden und einen anständigen Dialog mit ihrem Informationspartner führen können. Und genauso erwarte ich von ihnen, dass sie sich mit der Kritik der Leser auseinandersetzen. Das ist absolut Teil des Berufsbildes und wer das nicht kann, der muss sich wirklich überlegen, ob das der richtige Job für sie oder ihn ist. Genauso sollte man sich mit unerwartbaren Positionen konfrontieren. Sonst wird man als Medium langweilig und zurecht langweilig.
Facebook, Twitter, YouTube: Wo erhalten Redaktionen die meisten oder verwertbarsten Rückkopplungen für ihr journalistisches Angebot?
Das kommt immer darauf an, wofür man die sozialen Netzwerke benutzen möchte. Entsprechend kann man sie sich so zurechtkonfigurieren, dass sich ihr Nutzen steigert. Ich persönlich bekomme wahnsinnig viele Anregungen auf Twitter, auf Facebook weniger, weil es kein derartiges Expertenmedium ist. Facebook nutze ich eher privat, während ich Twitter professionell nutze.
Dieses Interview ist für die Studie „Digitaler Journalismus. Dynamik – Teilhabe – Technik“ geführt worden. Sie ist von der Landesanstalt für Medien (LfM) in Nordrhein-Westfalen in Auftrag gegeben worden und leistet eine wissenschaftliche Positionsbestimmung neuer kommunikativer Leistungen, identifiziert Entwicklungspotenziale insbesondere bei der Einbindung des Publikums und technischer Innovationen im Journalismus, nimmt aber auch Herausforderungen und Risiken in den Blick. Die Autoren sind Volker Lilienthal, Stephan Weichert, Dennis Reineck, Annika Sehl und Silvia Worm.