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Menschen, keine Döner

Süleyman Taşköprü war kein „Döner“. Er war ein Mensch, ein Mann von 31 Jahren, ein hilfsbereiter Sohn, Ehemann, Bruder und freundlicher Nachbar. Ein Hamburger. Doch nach dem Mord folgte der Rufmord durch die Öffentlichkeit: organisierte Kriminalität und Drogenmafia – was liegt näher bei einem Migranten? Die Medien berichteten von angeblichen Spuren, die bis in die Niederlande führten. Haschisch aus Amsterdam? Drogenkrieg zwischen Ausländern? Für die deutsche Öffentlichkeit war der Fall damit erledigt.

Die Familie von Süleyman Taşköprü sowie die Angehörigen der anderen NSU-Opfer mussten erfahren, was alltäglicher Rassismus bedeutet. Polizisten, die Hinweise auf Neonazis nicht ernst nahmen, sondern die Betroffenen durch Verdächtigungen kriminalisierten und ihnen so eine Mitschuld gaben. Medien, die dies unreflektiert zur Nachricht aufbliesen, die Toten zu angeblichen Drogenhändlern und „Döner“ erklärten. Familien wurden zerstört, Menschen verloren den Glauben an eine Zukunft hierzulande, verließen Deutschland.

„Eine Schande für das Land ist das“, schimpft Franz Schindler von der SPD, Vorsitzender des Untersuchungsausschusses Rechtsterrorismus in Bayern, wie die Hinterbliebenen behandelt worden seien. „Die Polizei geht offenbar anders mit Ausländern um als mit Deutschen“, sagt er im Gespräch mit dem Autor. Eine Schande für das Land, sicher, aber noch viel mehr eine traumatische Erfahrung für die Angehörigen. Das Werk der Neonazis war somit vollbracht, mit freundlicher Unterstützung der deutschen Gesellschaft, die die Angehörigen des Opfers alleingelassen hat.

Süleyman Taşköprü war nicht die Ausnahme, Ermittler und Medien steckten alle Mordopfer in Schubladen, die wahlweise mit Drogenmafia, organisierter Kriminalität, Schutzgeld oder Geldwäsche versehen wurden; Rassismus als mögliches Motiv tauchte hingegen nicht auf.

Vorverurteilungen und feige Ausreden

Die „Bild“ zitierte in einem Artikel kurz nach dem neunten Mord der Neonazis den Leiter der „SOKO Bosporus„, Wolfgang Geier, der behauptete, mehrere Opfer hätten zu denselben Menschen Kontakt gehabt. Es sei nicht ausgeschlossen, „dass sie in der Drogenszene aktiv waren. Die Opfer sind kleine Lichter am Ende einer Kette. Wo sie Fehler gemacht haben, wissen wir noch nicht.“ Fakt war demnach aber, dass die Opfer „Fehler“ begangen hatten – und deswegen sterben mussten. Selbst schuld also. Der Kriminologe Christian Pfeiffer, der in anderen Fällen gern vor Vorverurteilungen warnt, breitete in der „Bild“ noch eine weitere Theorie aus: „Schutzgeld als Motiv liegt auf der Hand. Es kann sein, dass die Getöteten gar nicht zu den Erpressten gehörten. Die Organisation hat sie vielleicht zur Abschreckung benutzt. Ihre Opfer wählt sie völlig willkürlich aus. Deshalb kann die Polizei auch keine Verbindung finden – es gibt keine.“

Damit lieferte der oft zitierte Christian Pfeiffer auch gleich eine Entschuldigung für die ergebnislosen Ermittlungen – die Polizisten hätten gar keine Gemeinsamkeiten finden können, so seine Theorie, mit der jeder Serienmord erklärt werden könnte.

Aber es gab eine Gemeinsamkeit: Sämtliche Opfer außer die Polizistin Michèle Kiesewetter waren Migranten – und damit Feinde der Rechtsextremen, die Exekutionen als Heimatschutz definieren. Gefragt wurde nicht danach, was die Ermordeten als Opfergruppe gemeinsam haben, sondern was sie als potentielle Täter verbinden könnte.

Die „Bild“ wählte für ihren Artikel die fürchterliche Überschrift: „Döner-Killer holten Opfer Nr. 9“. Die Täter mordeten oder töteten nicht, sie holten: das klingt nach einem Drachen, der die Jungfrau holt – oder eben nach einem Döner, den man sich an der Ecke holt. Der Begriff „Döner-Morde“ wurde folgerichtig zum Unwort des Jahres 2011 gekürt, alle waren plötzlich hell empört über den rassistischen Begriff – dabei hatten fast alle Medien diesen zuvor benutzt.

Rassismus der schweigenden Mehrheit

Kein Wunder also, dass die Ausgrenzungsmechanismen weiterhin greifen, auch nachdem die rassistische Mordserie bekannt wurde. Anlässlich der Trauerfeier für die Opfer der rechtsextremen Gewalt am 23. Februar 2012 wurde in den Medien über Parallelgesellschaften gefachsimpelt – über türkische, nicht über Neonazi-Erlebniswelten, versteht sich. Der Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky betonte nach der Trauerfeier, es gebe ja auch viele Probleme bei der Integration, so könnten mehr als 70 Prozent der Erstklässler mit Migrationshintergrund in Neukölln kein Deutsch.

In Neukölln ermordeten die NSU-Terroristen übrigens keinen Migranten, Berlin war offenkundig gar nicht betroffen von der Terrorserie. Was also hat das Ganze mit der rassistischen Mordserie und dem Gedenken an die Opfer zu tun? Ist es den Migranten vielleicht anzulasten, dass sie zum Ziel rassistischer Anfeindungen von Deutschen werden, weil diese über die mangelhaften Deutschkenntnisse der „Kopftuchkinder“ in Neukölln verärgert sind? Und was sollte Heinz Buschkowsky eigentlich zum Thema Rechtsterrorismus beitragen? Warum stand im Fernsehen kein Fachmann für Rechtsterrorismus, der über die rechtsextreme Bedrohung referierte, sondern ein Star der Integrationsdebatte, zwar kein Thilo Sarrazin, aber immerhin sein Berliner Parteifreund, ein Medienstar, wenn es um das Thema Integration geht, der gern polarisiert, aber der wirklich noch nie wegen seiner Fachkompetenz zum Thema Rechtsterrorismus aufgefallen war? Und wurde bei Trauerfeiern für RAF-Opfer eigentlich mit einem marxistischen Ökonomen über die Nachteile des Kapitalismus debattiert? Glücklicherweise nicht.

Den meisten Zuschauern dürfte kaum aufgefallen sein, was da gerade abgelaufen ist, als sich Heinz Buschkowsky anlässlich einer Trauerrede von rassistischen Mordopfern über die angebliche mangelhafte Integration ausließ. Genau so funktioniert aber der Rassismus der „schweigenden Mehrheit“, die leider fast nie schweigt.

Wie wirkungsmächtig die angeblich schweigende Mehrheit ist, wurde in Deutschland in den vergangenen Jahren mehrmals deutlich, als die Menschen in diesem Land immer wieder in „wir“ und „die“ eingeteilt wurden, beispielsweise in der sogenannten Integrationsdebatte, die in Wirklichkeit eine Ausgrenzungsdebatte war; millionenmal wurde „mal was gesagt“, weil „man das ja wohl mal sagen dürfte“. Die Rassismus-Experten bei NPD und Konsorten waren begeistert, auch wenn sie als die echten Fachleute für biologistische Thesen bei Sarrazin-Veranstaltungen nur im Publikum saßen – und nicht auf dem Podium. Denn mit Nazis will man nichts zu tun haben. Eine Rebellion des verrohenden Bürgertums gegen die, die unter ihnen stehen und keine Lobby haben, Feigheit und dumpfe Vorurteile wurden als Mut und kritisches Denken verkauft. Und selbst im direkten Umfeld der Trauerfeier, mit dem der Opfer der deutschen Rassisten gedacht wurde, konnten die „mal-Sager“ nicht wenigstens einmal schweigen.

Glücklicherweise gab es aber auch andere Stimmen, wie die von Semiya Şimşek, Tochter des ermordeten Blumenhändlers Enver Şimşek, die in ihrer beeindruckenden Rede während der Zeremonie die Demütigungen durch das Verhalten der Polizei und der Öffentlichkeit erklärte. Semiya Şimşek braucht Zeit, kündigte an, ihr Geburtsland vorübergehend zu verlassen. Hoffen wir, dass diese starke Frau wieder nach Deutschland zurückkehrt, denn es leben auch Menschen hier, die die Vielfalt der Einfalt vorziehen und die eine multikulturelle Gesellschaft nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung erleben.

Dunkelziffer hoch – Interesse gering

Der NSU-Opfer wurde bei einem Staatsakt gedacht, Kanzlerin Angela Merkel bat die Angehörigen der Opfer für die Verdächtigungen um Verzeihung. Eine starke Geste. Doch andere Tote werden von Merkels Regierung noch nicht einmal als Opfer von Neonazis anerkannt, geschweige denn gewürdigt – die Hinterbliebenen trauern allein, nur engagierten Journalisten und Bürgern ist es zu verdanken, dass es überhaupt eine annähernd realistische Zahl über die Todesopfer durch Rechtsextreme gibt und die Namen nicht ganz in Vergessenheit geraten. Die Liste führt mehr als 180 Namen von Menschen auf, die seit 1990 totgetreten, erschlagen, erschossen, erstochen oder zu Tode gehetzt wurden. Die Bundesregierung geht hingegen „nur“ von 58 Toten aus, Ende 2008 waren es sogar „lediglich“ 40. Der schwache öffentliche Druck bei diesem Thema brachte die Politik kaum in Verlegenheit, die Opfer hatten schlicht keine Lobby, da Migranten in öffentlichen Debatten lieber als Täter denn als Opfer angesehen werden.


Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch „Terror von rechts„, das am 14. September 2012 im Rotbuch-Verlag erschienen ist.