Offensive Medienarbeit ist sinnvoll
Schon wegen des Informationsanspruchs der Öffentlichkeit ist es gut, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte ihre Beschlüsse nicht mehr unkommentiert veröffentlichen. Die Pflicht zu Objektivität erfordert freilich einen beachtlichen Spagat.
Es war der 4. Dezember 1974, als der französische Schriftsteller Jean-Paul Sartre in Begleitung des RAF-Anwalts Dr. Croissant die Vollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim besuchte. Eine Stunde lang saß er dort in einem Besucherzimmer mit Terrorist Andreas Baader an einem Tisch. Fünfzehn Minuten sprach der Franzose, fünfzehn Minuten der Deutsche und 30 Minuten der vom Gericht bestellte Dolmetscher.
Nachdem Sartre den Hochsicherheitstrakt wieder verlassen hatte, verkündete er vor laufenden Fernsehkameras – obwohl er die Hafträume gar nicht gesehen hatte:
„Es ist nicht die Folter wie bei den Nazis. Es ist eine andere Folter. Eine Folter, die psychische Störungen herbeiführen soll, das heißt, dass der Mensch völlig abgeschnitten wird von allem.“
Da dieser mediale Auftritt des bekannten Philosophen von staatlicher Seite praktisch unwidersprochen blieb, glaubten viele zu Unrecht, die Stammheimer RAF-Häftlinge seien tatsächlich einer Isolationsfolter unterworfen. Ein Grund für manch einen Sympathisanten, sich der zweiten RAF-Generation anzuschließen. Erst viel später wurde – etwa durch das Buch „Stammheim“ des Sicherheitsbeauftragten Horst Bubeck – bekannt, dass die RAF-Gefangenen in Stammheim geradezu unvorstellbare Privilegien genossen.
Der Fall „Sartre in Stammheim“ ist ein spektakulärer Beleg dafür, wie die zurückhaltende Medienarbeit der Justiz in den siebziger Jahren Schaden verursacht hat. Eine Ausnahme war er nicht, Gleiches gilt etwa für die RAF-Todesfälle in Stammheim am 18. Oktober 1977: Obwohl nationale und internationale Gerichtsmediziner bereits bei der Obduktion von Baader, Ensslin und Raspe von einem gemeinsam begangenen Selbstmord ausgingen, hielt sich jahrelang die Propagandabehauptung, die RAF-Gefangenen seien von staatlicher Seite ermordet worden. Der RAF-Angehörige Werner Lotze hat später ausgesagt, er sei aufgrund dieser Lüge in den Untergrund gegangen und habe erst einige Zeit danach innerhalb der Gruppe erfahren, dass es sich bei den Todesfällen von Stammheim in Wahrheit um eine gezielte „suicide action“ gehandelt habe.
Als Skandal empfundene Entscheidungen
Lange Jahre bestand die Medienarbeit der Justiz weitgehend darin, Urteile und Beschlüsse unkommentiert zu veröffentlichen. Es kann deshalb nicht verwundern, dass Grundsatzentscheidungen missverstanden wurden – etwa der Soldaten-sind-Mörder-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1994, wonach die Verwendung eines Aufklebers mit dem entsprechenden Tucholsky-Zitat nicht strafbar sei.
Leider ist dies teilweise noch heute ein Problem, wie die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 3. November 2011 zeigt, mit der ein Hells-Angels-Angehöriger freigesprochen wurde, der durch eine geschlossene Tür einen Polizeibeamten erschossen hatte und dem eine sogenannte schuldausschließende Putativnotwehr zugutegehalten wurde. Vielleicht hätte eine erklärende Pressemitteilung Proteste, welche die Entscheidung als Skandal empfinden, verhindern können.
Den Wandel zu einer offensiveren Medienarbeit sollen zwei persönliche Erlebnissen verdeutlichen: In der Amtszeit von Generalbundesanwalt Rebmann durften die Sitzungsvertreter der Bundesanwaltschaft weder mit Medienvertretern reden, noch Interviews geben. In den Prozessberichten der Medien wurde deshalb nahezu uneingeschränkt die Position der Verteidigung übernommen. Entsprechend negativ wurden wir Anklagevertreter dargestellt. So schrieb Gerhard Mauz 1983 im „Spiegel“:
„Die Bundesanwaltschaft reizt die Verteidigung in der Hauptverhandlung gegen Peter-Jürgen Boock bis aufs Blut, Technik und Taktik sind perfekt … Bundesanwälte können sich aufführen, wie es ihnen beliebt. Nichts ist dem Stand des Vertreters einer objektiven Behörde widrig, nicht einmal ein Jagdeifer, der für ganze Rudel tollwütiger Löwen ausreichen würde, disqualifiziert ihn.“
Als Sitzungsvertreter der Bundesanwaltschaft im Prozess wegen der Brandanschläge von Mölln 1993 erlaubte ich mir, mit Medienvertretern zu reden, so dass deutlich wurde, dass wir Staatsanwälte es mit unserem Objektivitätsgebot ernst meinen. Plötzlich formulierte Mauz: Der Anklagevertreter der Bundesanwaltschaft sei „ein exzellenter Mann, er fördert ein Verfahren, auch im Sinne des Gerichts und sogar der Verteidigung“.
Aus solchen Ereignissen haben wir gelernt, dass wir das Selbstverständnis und die Arbeit der Justiz besser vermitteln müssen und dass wir Staatsanwälte die prozessbegleitende Öffentlichkeitsarbeit nicht den Verteidigern überlassen dürfen. Deshalb haben wir folgende Maßnahmen getroffen, die inzwischen nahezu überall gelten:
- mindestens ein Pressegespräch im Jahr;
- Pressekonferenzen bei spektakulären Fällen;
- junge Pressesprecher neben dem Behördenleiter;
- der staatsanwaltliche Sitzungsvertreter ist Pressesprecher vor Ort;
- Fortbildungsveranstaltungen, bei denen wir Kolleginnen und Kollegen vermitteln, was sie den Medien gegenüber sagen dürfen und was nicht. Wegen der besonderen Bedeutung der sog. O-Töne trainieren wir unsere Mitarbeiter darin, kurz gefasst in ein Mikrophon zu sprechen.
Beeinflussung durch Medienarbeit
Eine neue mediale Herausforderung für die Justiz heißt „Litigation-PR“, die in den achtziger Jahren in den USA aufkam und in Deutschland etwa seit zehn Jahren von Rechtsanwälten mehr und mehr praktiziert wird. Für Verteidiger bestehen die Zwecke dieser prozessbegleitenden Öffentlichkeitsarbeit meines Erachtens vor allem in der Beeinflussung der juristischen Auseinandersetzung durch gezielte Medienarbeit.
Dabei ist zu bedenken, dass seit Jahren – insbesondere im Zusammenhang mit spektakulären Prozessen – diskutiert wird, ob Medienberichte Einfluss auf unsere Strafverfahren haben. Empirische Erhebungen durch Prof. Hans-Martin Kepplinger haben zu folgenden Erkenntnissen geführt:
- Eine Beeinflussung der Schuldfrage durch Medienberichte sehen nur drei Prozent der Richter und neun Prozent der Staatsanwälte.
- Knapp ein Drittel der Richter und Staatsanwälte gibt aber ohne Weiteres zu, dass die Medienberichterstattung einen Einfluss auf die Höhe der Strafe hat.
Angesichts dieser Ergebnisse verwundert es nicht, wenn Verteidiger sich verstärkt diese prozessbegleitende Öffentlichkeitsarbeit zu Nutze machen wollen. Damit stellt sich automatisch die Frage: Ist „Litigation-PR“ eine Aufgabe für die Justiz? Einer solchen Öffentlichkeitsarbeit der Justiz sind aber schon intern Grenzen gesetzt. So heißt es in Nr. 23 der Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren:
„Die Unterrichtung (der Medien) darf weder den Untersuchungszweck gefährden noch dem Ergebnis der Hauptverhandlung vorgreifen; der Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren darf nicht beeinträchtigt werden. Auch ist im Einzelfall zu prüfen, ob das Interesse der Öffentlichkeit an einer vollständigen Berichterstattung gegenüber den Persönlichkeitsrechten des Beschuldigten oder anderer Beteiligter, insbesondere auch des Verletzten, überwiegt. Eine unnötige Bloßstellung dieser Person ist zu vermeiden. Dem allgemeinen Informationsinteresse der Öffentlichkeit wird in der Regel ohne Namensnennung entsprochen werden können.“
Danach wird uns Strafjuristen ein beachtlicher Spagat abverlangt: einerseits sollen wir dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem verfassungsrechtlich geschützten Auskunftsanspruch der Medien gerecht werden, andererseits dem Betroffenen Beeinträchtigungen ersparen. Dabei gelten für die Staatsanwälte vor allem vier Eingrenzungselemente: keine Vorverurteilung, kein Vorführen, möglichst keine Namensnennung sowie strikte Beachtung des Objektivitätsgebots.
Soziale Exekution?
Dies bedeutet, dass wir keinen Zweifel daran lassen dürfen, dass der Betroffene noch nicht verurteilt ist und dass es sich bei unseren Mitteilungen allein um die Bewertung einer momentanen Verdachtslage und nicht um feststehende Tatsachen handelt. Diese gilt insbesondere für Verfahren gegen Prominente, die wegen des Medieninteresses dem zusätzlichen Druck der öffentlichen Meinung ausgesetzt sind und bei denen in besonderem Maß die Gefahr der öffentlichen Vorverurteilung besteht. Bei ihnen ist eine Rufschädigung häufig schlimmer als die justitielle Bestrafung; manche sprechen sogar von sozialer Exekution. Dies zeigt etwa der Fall des Wettermoderators Jörg Kachelmann. Er wurde zwar vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen, seine Karriere ist aber ganz wesentlich beeinträchtigt.
Die Staatsanwaltschaft muss sich also immer bewusst sein, welche Sprengkraft eine Presseinformation haben kann, und dass der bloße Hinweis, ein Ermittlungsverfahren sei eingeleitet, bei der Allgemeinheit eine gewisse Vorverurteilung zur Folge hat. Beim durchschnittlichen Adressaten gilt nun mal eher eine Schuld- als eine Unschuldsvermutung.
Dies bedeutet, dass wir darauf hinwirken müssen, dass der Betroffene durch unser Vorgehen, etwa unter dem Aspekt der Prangerwirkung, keiner zusätzlichen Belastung ausgesetzt wird. Wie es nicht gehen sollte, hat zuletzt etwa das Ermittlungsverfahren gegen den früheren Postchef Klaus Zumwinkel wegen Steuerhinterziehung gezeigt. Die Fernsehbilder von Zumwinkel, wie er in Begleitung einer Staatsanwältin sein Wohnhaus verließ, erzeugten den Eindruck, er werde abgeführt, ja vorgeführt.
Gehilfen auf Seiten der Medien
Der Journalist Hans Leyendecker hat in einem Interview klargestellt, dass die Medien von der bevorstehenden Durchsuchungsaktion im Hause Zumwinkel „Wind bekommen“ hatten, aber nicht von Seiten der Justiz. Hierzu zwei persönliche Bemerkungen: Es ist überaus bedauerlich, dass es immer wieder zu „Durchstechereien“ kommt, bei denen Personen ihr Dienstgeheimnis verletzen und Informationen preisgeben. Leider können wir solche Täter und ihre Gehilfen auf Seiten der Medien nur selten überführen. Ich fände es gleichwohl bedauerlich, wenn der Gesetzgeber diese Art des „investigativen Journalismus“ teilweise von der Strafverfolgung freistellen würde. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Stärkung der Pressefreiheit im Straf- und Strafprozessrecht (PDF) sieht vor, dass bestimmte Beihilfehandlungen zur Verletzung des Dienstgeheimnissees (§ 353 b StGB) nicht rechtswidrig und damit nicht strafbar sein sollen.
Außerdem sollten wir Staatsanwälte überlegen, ob man in Fällen wie Zumwinkel den beschriebenen Vorführeffekt nicht durch Absprachen vermeiden kann, etwa indem der Beschuldigte das Haus allein mit seinem Verteidiger verlassen kann. Dieses „Vorführen“ sollte man Betroffenen notfalls auch gegen ihren eigenen Willen ersparen – Kachelmann zum Beispiel soll dem Vorgehen zugestimmt haben.
Zur „Person der Zeitgeschichte“ hochstilisiert
Der Fall Nadja Benaissa – der No-Angels-Sängerin, deren HIV-Erkrankung publik gemacht wurde – zeigt die Frage auf, ab welcher Prominenz Beschuldigte eine öffentliche Medienberichterstattung hinzunehmen haben und wann die Nennung des Namens unterbleiben muss. Tatsächlich hat die zuständige Staatsanwaltschaft zunächst versucht, den Namen der Beschuldigten nicht zu offenbaren; auch einige Zeitungen haben zunächst die Namensnennung verweigert. Das Stichwort dazu lautet: Person der Zeitgeschichte. Dabei gilt als Faustformel: Je mehr eine Person im öffentlichen Interesse steht, desto eher muss sie eine namentliche Berichterstattung dulden. Allerdings gilt auch für diese Personen die Schutzzone der unantastbaren Intimsphäre. Hätte deshalb zumindest der Hinweis auf die HIV-Erkrankung der Sängerin unterbleiben müssen? Ich meine, dass die Medien auf dem Weg sind, praktisch jede Person, die in der Öffentlichkeit auffällt, zu einer „Person der Zeitgeschichte“ hochzustilisieren. Ich würde es deshalb begrüßen, wenn die Medien verstärkt dazu übergehen würden, Namen von Beschuldigten nicht mehr preiszugeben.
Einer medialen Stimmungsmache per „Litigation-PR“ durch die Justiz steht vor allem entgegen, dass Richter wie Staatsanwälte – anders als Rechtsanwälte – zur Objektivität verpflichtet sind. Dies gilt selbst dann, wenn wir auf Angriffe der Verteidigung reagieren. Natürlich müssen wir uns gegen unberechtigte Vorwürfe wehren, insbesondere wenn der falsche Eindruck einer wild gewordenen Justiz zu entstehen droht. Allerdings sollten wir nicht zu dünnhäutig sein und auf jede falsche Darstellung der Verteidigung reagieren.
Ein kurzes Fazit: Ich meine, dass wir Staatsanwälte – ja die gesamte Justiz – an dem eingeschlagenen Weg festhalten sollten, eine offensivere Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, um dem Informationsanspruch der Allgemeinheit und der Medien gerecht zu werden, aber auch um unsere eigene Arbeit zu erklären und sachgerecht darzustellen. Wir müssen aber permanent darauf bedacht sein, dass unsere Strafprozesse nicht präjudiziert und die Persönlichkeitsbelange der Beschuldigten nicht verletzt werden. Eine solche Vorgehensweise ist bereits durch das staatsanwaltliche Objektivitätspostulat geboten.
Einen Maulkorb, den wir Staatsanwälte früher tragen mussten, sollten wir uns aber weder selbst verordnen noch uns von anderen verpassen lassen.
„Schon wegen des Informationsanspruchs der Öffentlichkeit ist es gut, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte ihre Beschlüsse nicht mehr unkommentiert veröffentlichen. Die Pflicht zu Objektivität erfordert freilich einen beachtlichen Spagat.“