Online-Qualitäts-Journalismus: Eine Anleitung zum Überleben
Ich erinnere mich noch gut an eine Diskussion in der Redaktionskonferenz der „Süddeutschen Zeitung“ im Jahr 1994, der ich als Hospitant beiwohnte. Damals mussten sich die Macher der Nachwuchs-Beilage „jetzt“, die jüngere Leser für die Zeitung interessieren sollte, für den Inhalt vor einigen langjährigen „SZ“-Redakteuren rechtfertigen. Der Kernvorwurf dieser Elder Statesmen ging gegen die unkonventionelle bis experimentelle Machart des Magazins. „Im Journalismus gibt es Regeln, die sind für alle gleich“, lautete einer der Kritikpunkte.
Das war schon damals so richtig, wie es falsch war. Denn einerseits kann und darf kein neues Medium bzw. keine neue journalistische Form die qualitativen Grundregeln ignorieren oder negieren, weil das einen Dammbruch zur Folge hätte. Andererseits aber soll, ja muss sich sogar jede neue Form ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, wo die Unterschiede gegenüber den bisher bekannten Formen liegt und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.
Online ≠ Zeitung im Netz
Womit der Bogen zum Online-Journalismus geschlagen ist, für den im Vergleich zu den etablierten Medien Ähnliches gilt wie seinerzeit fürs „jetzt“-Magazin. Ein reines Importieren von Inhalten aus Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunk ins Internet geht nämlich völlig an der Zielgruppe vorbei.
Es gibt viele Gründe, einen immer größer werdenden Teil seines Privatlebens online zu verbringen. Schon jetzt sind rund 80 Prozent der Deutschen im Internet unterwegs, Tendenz klar steigend. Bekanntlich stehen dabei soziale Netze wie Facebook und Twitter und der Erwerb materieller Dinge im Vordergrund. Doch auch die Information hatte und hat einen hohen Stellenwert und das nicht nur im Sinne von Suchmaschinen und Auskünften.
Im Gegenteil: Nachrichten-Websites spielen eine stetig wachsende Rolle und haben häufig schon klassische Medien als Agenda Setter abgelöst. Zahlreiche Chefredakteure renommierter Tageszeitungen etwa geben freimütig zu, dass die Themen-Auswahl und Gewichtung von „Spiegel Online“ für sie maßgeblich das Blattmachen beeinflusst. Der Sport spielt allgemein in diesem Kontext eine immer größere Rolle, speziell aufgrund seines Charakters als Unterhaltungsmedium.
Agenturen mit Hang zum Print
Der große Vorteil des Internets ist die Schnelligkeit. Gleichwohl kann nicht jede Nachricht, die auf dem weltweiten Markt ist, ungeprüft übernommen werden. Diese Zwickmühle bestimmt den Alltag etwa bei „Sport1.de„: Nicht langsamer sein als die Konkurrenz, weil das mittel- und langfristig zu User-Verlust führt. Gleichzeitig aber auch möglichst seriös mit Informationen umgehen und nicht wie viele andere Medien einfach nur von anderen abschreiben – was nach dem Stille-Post-Prinzip schon häufig zu den abenteuerlichsten Meldungen geführt hat, die von Pressesprechern und anderen dann gerne als Beweis für die unseriöse Arbeit „der“ Internetmedien herhalten müssen.
Auf Nachrichten-Agenturen, die in ihrer Arbeitsweise den Onlinern noch am nächsten kommen, kann man sich dabei zu häufig nicht verlassen. Bis heute sind dort mehrheitlich die Tageszeitungen der Maßstab. So sucht man beispielsweise Spielvorschauen am Spieltag im Angebot der Agenturen vergeblich, obwohl es ja meist von Tagesanbruch bis Spielbeginn noch mehr als zwölf Stunden sind. Für Online eine Ewigkeit, für die bereits gedruckten Tageszeitungen egal – und damit auch für die Agenturen (obwohl diese im Übrigen von den Online-Redaktionen genauso bezahlt werden). Häufig wartet man auch vergeblich auf eine schnelle Zusammenfassung eines frühen Ereignisses, weil die Agenturen oft mit Blick auf den Andruck der Zeitungen arbeiten und daher der Meinung sind, dass eine Tageszusammenfassung am Nachmittag ausreicht.
Ein anderes Beispiel: Wenn die Agenturen der Meinung sind, dass ein Abdruck des Themas in den Zeitungen (!) eher unwahrscheinlich ist, ignorieren sie es sehr häufig oder handeln es kurz ab. Denn die Agenturen wissen natürlich ebenso wenig wie die Mehrheit der Zeitungsredaktionen, was ihre (Sport-)Leser überhaupt interessiert. So sind bis heute Meldungen über die US-Basketballliga NBA trotz Dirk Nowitzkis Erfolgen oder der Top-Ligen im Auslands-Fußball extrem unterrepräsentiert, weil offenbar wie schon zu meiner Volontärs-Zeit beim „Sport-Informations-Dienst“ vor über 15 Jahren die Meinung vorherrscht, das interessiere keinen und dafür sei kein Platz.
Gemeint ist damit wie erwähnt nur die immer geringer werdende Zahl der Zeitungskunden, die wiederum ja von den Agenturen oft über Jahrzehnte so konditioniert worden sind, dass sie deren Themenvorgaben mit dem Leserinteresse gleichsetzen. Nun mag man an dieser Stelle einwenden, dass die Meinung der User von „Sport1.de“ keinesfalls repräsentativ sei. Ich wage das, zumindest von der Tendenz her, anzuzweifeln, immerhin hat unsere Website IVW-geprüft rund eine Million User täglich.
Der Sportjournalismus braucht eine Farbe
Allgemein für alle Online-Medien gilt, dass die User schon früh am Morgen in großer Zahl aufs Netz zugreifen und dort (Agentur-Problem!) nicht bis mittags oder länger auf neue Meldungen und Hintergründe warten wollen. Bei Sportseiten gibt es zudem nicht nur bei „Sport1.de“, sondern auch bei anderen renommierten Websites, ein enormes Interesse für US-Sport (vor allem die NBA) und internationalen Fußball – vielleicht weil es von den Zeitungen und Agenturen nicht geliefert wird?
Neben diesen Gründen für eine eigene, kompetente Online-Redaktion braucht eine Website aber auch eine „eigene Farbe“ der Berichterstattung, ein „Brand“, das den User an die Seite bindet. Denn es geht ja keineswegs nur darum, Informationen zu erstellen, die sonst aus verschiedenen Gründen nicht zu bekommen sind. Es geht vielmehr mindestens genauso um die Frage, welche Idee von (Sport-)Journalismus dahintersteckt.
Ein Beispiel aus der Praxis: Unsere Quotenauswertungen haben ergeben, dass sportpolitische Themen extrem wenig User interessieren. Daher stehen in den meisten Fällen bei dieser komplexen Materie Aufwand und Ertrag in keinem Verhältnis. Trotzdem ist es redaktionell unstrittig, über wichtige Entscheidungen auf diesem Gebiet zu berichten.
Entsprechend selbstverständlich war es für uns, bei der Wahl Wolfgang Niersbachs zum DFB-Präsidenten vor Ort zu sein und dieses Thema zum Aufmacher zu machen. Wie erwartet war diese Meldung quotenmäßig so irrelevant, dass sie nicht mal zu den besten 50 Artikeln des Tages gehörte. Aber diese Tatsache hat zu keiner Zeit in der Redaktion für Diskussionen gesorgt, solche Themen künftig geringer zu gewichten. Maßstab für uns ist und bleibt die journalistische Herangehensweise, natürlich immer unter Berücksichtigung der Quoten, also dem Interesse der User. Meinungsartikel gehören an Tagen mit herausragenden Ereignissen oft zu den am meisten gelesenen Texten, weil die Sportinteressierten offenbar auch eine Einordnung und Bewertung des Geschehens suchen.
Treue Leser
Noch viel Luft sehe ich dagegen bei den multimedialen Möglichkeiten im Internet. Natürlich setzt jede Website mit Anspruch auf Live-Ticker, gut gemachte und aktuelle Videos sowie Bildergalerien, teilweise sogar als Text-Ersatz. Die Kombination dieser verschiedenen Stilmittel, die ja ein Alleinstellungsmerkmal des Internets ist (bzw. sein könnte), wird aber zu selten genutzt. Dabei zeigt etwa der Online-Preis des Verbandes Deutscher Sportjournalisten (VDS), was möglich ist, exemplarisch dafür stand der erste Gewinner Christian Putsch. In einem Beitrag für „Welt Online“ vor der WM 2010 in Südafrika über die Bedeutung von Schamanen und Wunderheilern für den einheimischen Fußball hatte Putsch ein Reportagestück geschrieben, dazu ein Video mit ergänzenden Informationen gedreht und besprochen sowie eine Bildergalerie hinzugestellt.
Im Alltag hingegen bleibt vieles Stückwerk, weil das Leitmotto „News first“ häufig eine gleichzeitige multimediale Beschäftigung mit dem Thema schwierig bis unmöglich macht. Immerhin schaffen wir es meistens, zu einem Komplex am Ende des Tages Text, Video und Bildergalerie anzubieten – allerdings zu selten aus einer Hand.
Hoffnung macht mir als mittlerweile mit 43 Jahren schon altem Internet-Redakteur immerhin die Tatsache, dass die User merkwürdigerweise überraschend treu sind. Das ist einer der Gründe für die Konzentration der Großen im Internet auf die „Big Five”“ und von der Tendenz her auch bei den deutschsprachigen Nachrichtenseiten zu erkennen.
Marsch Richtung Zukunft
Gleichwohl gilt online noch mehr als für jeden anderen Journalisten die Marschroute, schon jetzt an die Zukunft zu denken. Dafür müssen aus meiner Sicht zusammengefasst folgende Schwerpunkte in den Redaktionen gesetzt werden: Zeitgerechter Umgang mit Social Media, multimediale Angebote „aus einer Hand“, professionelle, eigene Themen und Inhalte, Orientierung am User, Mut zur Meinung, eigene Marke („Brand“).
Darüber hinaus werden die intelligente Nutzung der verschiedenen Betriebswege (Smartphones, iPads, Social Media etc., auch klassische Medien) maßgeblich über die Rekapitalisierung der mehrheitlich auch künftig frei zugänglichen (Sport-)Nachrichtenangebote entscheiden – und damit letztlich über das Überleben von Online-Qualitätsjournalismus, auch im Sport.