Perry Kretz: „Diktatoren redeten mit uns, als wären wir taubstumm“
Wenn dir nach einem dreistündigen Interview klar wird, dass du ein ziemlich langweiliges Reporter-Leben führst, hast du vermutlich Perry Kretz kennengelernt. Nicht etwa, weil der 81-Jährige nichts zu erzählen hat, im Gegenteil: Der ehemalige Kriegsjournalist blickt auf ein Leben zurück, das reich an Abenteuern ist wie kaum ein anderes. VOCER hat Kretz im Verlagsgebäude von Gruner + Jahr in Hamburg getroffen. Während des Gesprächs zeigt der gebürtige Kölner Fotos auf seinem „neumodischen Laptop“, mit dem er eigentlich gar nicht umgehen kann. Zu jedem Einzelnen kennt er noch die Geschichte. Es liegen fast zwei Dutzend CDs auf dem Tisch verstreut. Alle enthalten sie Bildmaterial, das die Abgründe der Menschheit dokumentiert.
VOCER: Herr Kretz, Sie haben 35 Jahre für das Nachrichtenmagazin Stern als Kriegsfotograf gearbeitet. Gibt es für Sie das perfekte Bild?
Im Krieg kann man sich die Bilder nicht aussuchen. Allerdings habe ich nie alles fotografiert – sondern immer nur das, was ich mir selbst auch ansehen konnte. Ich hätte nie ein Bild von jemandem geknipst, dem der Kopf abgeschossen wurde. Bei einer Ausstellung sagte einmal eine Dame zu mir: „Perry, in Ihren Bildern sieht man nicht die Grausamkeit eines Krieges.“ Ich antwortete ihr: „Gott sei Dank!“
Haben Sie ein Bild, auf das Sie besonders stolz sind?
Mein Lieblingsbild habe ich in Harlem gemacht. Bei 48 Grad hat die Feuerwehr Wasser auf die Bewohner gespritzt. Ich mag dieses Bild sehr, weil es so schön natürlich ist.
Wie wurden Sie Kriegsreporter?
1947 zog ich nach Amerika und lebte dort bei meiner Tante. Ich war damals 14 Jahre alt. Sechs Jahre später wurde ich von der Army eingezogen und eines Tages fragte ein Offizier, wer von uns fotografieren könne. Ich sagte ihm, dass ich kein Fotograf sei, aber mit einer Kamera umgehen könnte. Das war natürlich gelogen. Aber es wurde der Beginn meiner Laufbahn und zum Glück ging alles gut. Ich wusste damals, dass ich Reporter werden wollte, begann Journalismus an der New York University zu studieren, wurde später Polizeifotograf und landete 1969 beim Stern.
Sie haben ein Kapitel in Ihrem Lebenslauf ausgelassen: Vor Ihrer Zeit als Soldat haben Sie für die Mafia gearbeitet …
Richtig. Bei meiner Tante in Amerika war es zunächst so langweilig, dass ich mir dachte: Das ist nicht mein Amerika! Ich brauchte Geld und wurde Runner bei der „Family“, der Mafia. Mein Job war es, die Zettel von Wetten auf Pferderennen einzusammeln.
Hatten Sie keine Angst in diesen Kreisen?
Man darf keine Angst zeigen. Die Leute bei der Mafia sind wie gefährliche Tiere: Wenn du ihnen deine Angst zeigst, überlebst du nicht lange. Du musst ihnen in die Augen schauen, sonst spüren sie deine Unsicherheit. Natürlich fürchtest du dich im Unterbewusstsein. Das musst du auch, sonst wirst du leichtsinnig.
Über zehn Jahre später wechselten Sie die Seite und berichteten über Kriege. Wie sieht der Tagesablauf eines Fotoreporters in Krisengebieten aus?
Bevor wir uns auf den Weg zu einem Einsatz machten, tauschten wir uns mit Kollegen aus, ob bereits Bomben gefallen waren oder Raketen losgeschickt wurden. Wir mussten ja vorher wissen, wie gefährlich die Lage und wie groß die Gefahr vor Raketenangriffen war. In solchen Extremsituationen verhältst du dich natürlich anders, du ziehst andere Kleidung an. Je nach Reportage trafen wir die wichtigsten Vorkehrungen. Wir haben nicht einfach in den Tag hineingelebt.
Wo haben Sie in den Kriegsgebieten gelebt?
Das hing ebenfalls von unseren Geschichten ab. Wenn wir über die Armee berichteten, dann haben wir bei den Soldaten gewohnt. Wenn wir zum Beispiel eine Reportage über Kokain produzieren sollten, dann lebten wir in Hotels und fuhren mit den Bauern in die Berge.
Wurden Sie für Ihren gefährlichen Job besser bezahlt?
Nein, einen Gefahrenzuschlag gab es nicht. Die Kollegen beim Fernsehen verdienten manchmal etwas mehr. Aber nicht die Fotografen. Man bekam eine gute Versicherung, mehr nicht (lacht). Vor meinen Reisen habe ich mir die immer zeigen lassen.
Sie haben Diktatoren wie Anastasio Somoza und zahlreiche Kriegsverbrecher wie Baby Doc getroffen. Wie entsteht ein solcher Kontakt?
Du musst das gewisse Etwas haben. Du musst langsam vorgehen und Geduld mitbringen. Du musst die Leute dazu bringen, dass sie dich als Reporter mögen und sie überzeugen, dass es gut ist, wenn du über sie berichtest. Mein Credo lautete immer: Sei interessiert und zeige Einfühlungsvermögen – aber übertreib es nicht! Ich erinnere mich an einen Kollegen, der die Ehefrau eines Unfalltoten interviewen wollte und mit ihr weinte. Das war zu viel. Man darf Situationen nicht ins Lächerliche ziehen, dann bekommt man die Menschen zum Reden.
Ein Beispiel, bitte!
Einmal haben wir eine Geschichte mit Baby Doc produziert, er war damals Diktator von Haiti. Schon seine Bodyguards waren extrem gefährlich, aber ich sagte ihnen, dass ich zeigen wollte, was sie für eine phantastische Arbeit verrichten. So wurden sie plötzlich zugänglich. Später versuchten wir, den Kontakt zu Baby Doc persönlich herzustellen. Ich hatte vorher seinen General kennengelernt, der mich seiner Informationsangestellten vorstellte. Ihr erzählte ich, dass ich in Deutschland über Baby Docs Engagement für die Armen berichten wolle und nur noch einen Tag im Land bleiben würde. Dadurch übte ich etwas Druck aus. Am nächsten Tag trafen wir ihn und fuhren auf seinen Panzern mit. Man braucht für jede Situation die richtige Taktik.
Konnten Sie dabei neutral bleiben?
Das ist ein schmaler Grat. Du darfst die Leser nicht veralbern. Andererseits solltest du das auch lieber nicht mit Baby Doc tun. Er hatte uns damals sogar zu sich nach Hause auf einen Kaffee eingeladen.
Haben Sie sich mit ihm angefreundet?
Es kam mir manchmal so vor, als wäre er mein Onkel.
Verfälscht ein intimer Kontakt nicht den Blick auf Ihre Arbeit?
Nein, wir hatten nie einen privaten Draht. Wir haben trotzdem unsere Arbeit gemacht. Sonst hätte ich den Blick für das Wesentliche verloren. Das wäre nicht gut gewesen, dann hätte ich meine Arbeit nicht ordentlich machen können.
Wie hat sich die Kriegsberichterstattung in den letzten Jahrzehnten verändert?
Erst einmal hat sich die Vorsicht der Journalisten in Kriegsgebieten verändert. Zu meiner Zeit, mussten wir uns in ein Buch eintragen, wenn wir das Haus noch mal verlassen wollten. Man wollte vermeiden, dass ein Journalist abends überfallen wird und keiner es mitbekommt. Heute interessiert das niemanden mehr. Und natürlich haben sich auch die Berichte verändert, weil man nicht mehr so nah herankommt. Kontakte sind alles. Die Diktatoren haben früher mit uns über Themen geredet, als wären wir taubstumm. Das würde es heute nicht mehr geben!
Hat sich denn auch etwas zum Positiven verändert?
Früher war es schwierig, die Bilder nach Deutschland zu transportieren. Du musstest deine Negative von irgendeiner Agentur entwickeln lassen und dann wurden die Bilder meistens dem Militär-Captain mitgegeben. Wenn er beispielsweise in Frankfurt landete, stand dort schon ein Mitarbeiter vom Stern. Das ist heute mit der modernen Technik natürlich viel einfacher.
1971 kamen Sie bei einer Explosion in einer Bar in Vietnam fast ums Leben. Wäre es danach nicht an der Zeit gewesen, aufzuhören?
Das war das Härteste, was ich jemals erlebt habe. Mich hatte danach jemand gefragt, wie es mir geht und ich habe nur geantwortet: Ich wurde zum zweiten Mal geboren! Es gab 37 Tote und 45 Schwerverletzte. Das habe ich erst am nächsten Morgen in der Zeitung gelesen und konnte es nicht fassen. Danach habe ich mir gesagt: Schlimmer kann es nicht werden. Bei so vielen Toten und Verletzten bist du da heil rausgekommen, irgendetwas musst du richtig gemacht haben. Deswegen habe ich nicht aufgehört.
Was hat Sie so an Ihrem Beruf fasziniert?
Fasziniert? Das klingt, als wäre ich gerne im Krieg gewesen. Das geht nicht, ich war natürlich nicht gerne in Krisengebieten. Aber ich war mein eigener Chef. Ich kam mir vor, als würde ich eine eigene Firma besitzen. Als Kriegsreporter hast du mehr Zeit als andere. Du bekommst viele Extras – nicht finanziell, sondern Freiheit. Du kannst dir aussuchen, wo du wann hingehst. Ich hatte so viele Freiheiten in meinem Beruf, dass mir das reichte, um ihn auszuführen.
Erinnern Sie sich an ein Erlebnis aus dem Krieg, das Sie emotional besonders berührt hat?
Kim Phuc! Sie war ein neun Jahre altes Mädchen mit Verbrennungen am ganzen Körper. Wenn man so etwas sieht, nimmt man das nicht so schnell hin. Ich wollte ihr damals helfen und schaffte es, sie 1981 nach einigen gescheiterten Versuchen nach Deutschland zu holen. Dort wurde sie erfolgreich operiert.
Haben Sie immer noch Kontakt zu ihr?
Ja, habe ich. Und sie sagt immer noch „Papa Perry“ zu mir. Im April dieses Jahres wurde ich angerufen und zu einem großen Essen von ihr eingeladen. Ich wollte aber nicht extra wieder in den Flieger nach Kanada steigen und hatte bereits abgesagt. Am nächsten Tag klingelte das Telefon und Kim war dran: „Papa Perry, du kommst nicht? Du musst! Sonst bin ich sehr traurig.“ Dann bin ich hingeflogen.
Sie sind selbst Familienvater, haben einen Sohn. Wie hat Ihre Frau ihm früher erklärt, wo Papa sich gerade aufhält?
Er wusste, wo ich wirklich war. Einmal war es sehr komisch: Da klingelte das Telefon und mein Sohn war dran – ich war gerade in Nicaragua. Und dann fingen sie an, die Stadt zu bombardieren und ich hörte nur, wie mein Sohn sagte: „Mama, bei Papa schießen sie! Wo ist der denn jetzt?“ Das ging mir sehr nahe. Aber in dem Moment musst du daran denken, was wirklich wichtig ist. Du musst deinen Kopf zusammenhalten und darfst nicht an deine Familie denken. Das habe ich während meiner Reisen nie getan – bloß nicht an zuhause denken! Aber natürlich haben wir jeden Abend telefoniert. Egal, ob ich in Afghanistan, im Irak oder Vietnam war – ich habe mich abends immer gemeldet und gesagt: Alles ist okay, es sind keine Granaten gefallen.
Wie haben Sie diese Momente geprägt?
Ich bin ein schwieriger Mensch. Ich bin nicht positiv, war ich auch noch nie. Ich wollte nie enttäuscht werden, deswegen habe ich immer abgewartet. Ich erwarte nicht viel, aber wie sagt man so schön: Ich hoffe.
Und Sie scheinen schon immer ein risikofreudiger Mensch gewesen zu sein. In Ihrem Buch „Augen auf und durch!“ erzählen Sie, dass Sie als Kind auf fahrende Lastwagen springen mussten, um Kartons mit Essen zu klauen.
(lacht) Ich kann nicht sagen, dass ich das Risiko schon immer geliebt habe. Aber es ist doch klar: Wenn man in Not ist, dann versucht man das Beste daraus zu machen. Die Buchpassagen, die Sie ansprechen, handeln von der Zeit nach dem Krieg, als es kaum etwas zu essen gab. Und die Lastwagen fuhren damals sehr langsam durch die Straßen.
Wie geht es Ihnen heute?
Ich bin mehr zur Ruhe gekommen. Ich hatte vor ein paar Jahren noch einen Auftrag im Libanon, aber fotografieren tue ich nicht mehr. Ich bin gerade dabei, ein neues Buch zu machen – aber darüber darf ich noch nichts verraten.
Glauben Sie an das Gute im Menschen?
Es gibt nicht nur gute Menschen, aber auch nicht nur schlechte. Ich habe den Glauben an die Menschheit nie verloren. Wenn man so viele Grausamkeiten gesehen hat, weiß man es irgendwann zu schätzen, nette Menschen zu treffen.