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Philosoph und Spürhund

Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.
Sollte man ihn unergründlich nennen?

So beginnt Thomas Mann den Roman Joseph und seine Brüder, in dem er der Geschichte der Stammväter nachgeht. Jeder von uns hat heute seinen eigenen Brunnen. Das Wasser kommt aus der Wand; die neuesten Nachrichten, die man sich früher am Dorfbrunnen erzählte, aus den Hörfunk- und Fernsehkanälen oder aus der Zeitung. Aber die Bildersturzbäche, die täglich über die Bürger hereinbrechen, begraben seltsamerweise oft Informationen.

Dieses und jenes, alles Mögliche und Beliebige wird möglichst tabufrei unter die Leute gebracht. „Die Kolportage ersetzt die Reportage und Sensationshascherei und Exklusivitis prägen das Tagesgeschäft“, hat der verstorbene Bundespräsident Johannes Rau mal gesagt. Ans Ohr dringt oft eine Geräuschkulisse aus Wörtern und Tönen, die ihre Inhaltslosigkeit durch Aufdringlichkeit ersetzen. Laut geht es zu, unüberhörbar laut.

Redlich und kundig informieren

Wozu also noch Journalismus? Weil bei all dem Getöse jemand das Wichtige vom Unwichtigen trennen muss, das Interessante vom Belanglosen. Unabhängig sein, den Bürger redlich und kundig informieren, ihm Orientierung bieten in einer immer verworreneren Welt – das alles ist Aufgabe des Journalismus. Überprüfbare Stoffe von gesellschaftlicher Relevanz müssen von Handwerkern abgeliefert werden, deren Autorität auf den Säulen Kenntnis und Urteil ruht. Neugierde und Geduld, Unbefangenheit und Kenntnisse und natürlich Zähigkeit gehören zum Handwerkszeug.

Als Henri Nannen mal von einem NDR-Reporter gefragt wurde, ob er „für Lieschen Müller schreiben“ wolle, antwortete der Stern-Gründer: „Ich bin Lieschen Müller.“ Nannen war ein journalistischer Perfektionist. Er wollte wissen, was wirklich ist, und wenn ihm dabei ein Teil des vorurteilsgeneigten Publikums nicht folgen mochte, war das für ihn sogar eine Auszeichnung.

Akzeptiert das Publikum Wahrheitssuche?

Bei allen Fragen nach den Bedingungen für guten Journalismus wird oft das Publikum außer Acht gelassen. Akzeptiert der Zuschauer, Hörer, Leser eigentlich den Zweifel oder will er nur durch das Gesendete, Gehörte, Gelesene in seiner Vermutung (wie das alles auf der Welt so ist) bestätigt werden? „Der schreibt, was ich denke – guter Mann.“ Schreibt einer deshalb, um zu gefallen? Akzeptiert das Publikum Wahrheitssuche, wenn das Ergebnis dem eigenen Vorurteil widerspricht?

Warum gilt Uwe Barschel vielerorts noch immer als der Haupttäter in einem angeblichen Waterkantgate-Skandal? Warum wird der Fall Leuna immer noch mancherorts als CDU-Affäre behandelt? Warum können Verschwörungstheoretiker weiter den falschen Verdacht nähren, dass Max Strauß doch Geld von Karlheinz Schreiber bekam?

Und was passiert beispielsweise, wenn bei der Aufdeckung einer ernsthaften Affäre der Reiz der Neuheit verschwunden ist? Der Fall zieht zwar immer weitere Kreise, aber um die Sache und ihren Fortgang zu erklären, muss das schon Gesagte, Geschriebene womöglich noch einmal knapp präsentiert werden. Die Stimmung des Publikums droht dann sofort umzuschlagen: Nicht schon wieder! Man hat ja schließlich noch andere Interessen. Die Erfahrung nach mehr als drei Jahrzehnten in diesem Beruf lautet: Es ist nicht leicht, Leute zu finden, die etwas Neues zu sagen haben. Es ist aber noch viel schwieriger, Leute zu finden, die etwas Neues hören möchten.

Von einer guten Zeitung beispielsweise muss erwartet werden, dass sie sich nicht zu sehr an den Erwartungen der Leserinnen und Leser orientiert. Demokratie braucht Widerspruch, Medien dürfen nicht nur darstellen, was gerade den Leuten gefällt. Diskurs gehört in die Zeitung. Wer Gemeinde sucht, sollte in die Kirche gehen.

Journalisten müssen brennen

Es bleibt bei alledem die Aufgabe des Journalisten, als Anwalt der Bürger deren Urteilsfähigkeit zu stärken. Erkennbare Linien und langer Atem zahlen sich dabei aus. Wenn Journalisten nicht nur harmlose Narren sein wollen, müssen sie brennen.

Ein guter Journalist ist ein Unzufriedener. Niemand, der völlig zufrieden ist, ist fähig zu schreiben. Niemand, der mit der Wirklichkeit völlig versöhnt ist, wird ein guter Journalist werden. „Die Mächtigen sollen wissen, dass sie da draußen von jemandem kontrolliert werden“, hat der wichtigste investigative Journalist, Seymour Hersh, Jahrgang 1937, erklärt, als er gefragt wurde, warum er niemals müde wird. Hinter dieser Antwort steckt die unausgesprochene Feststellung, dass sie da drinnen unzureichend kontrolliert werden. Hersh ist eine Art Sisyphos der Demokratie.

Mischung aus Philosoph und Spürhund

Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger hat darauf verwiesen, dass jener Sisyphos mehr war als ein Outsider, der in übergroßer Tragik unablässig einen Felsblock einen Berg hinaufwälzte. Enzensberger nennt Sisyphos eine „eine Figur des Alltags“ – sehr klug, ein bisschen trickreich, kein Philosoph.

Der Bürger aber, egal ob vorurteilsbeladen oder offen, stellt sich meist den guten Journalisten als eine Mischung aus Philosoph und Spürhund vor, der auf der Suche nach der ewigen Wahrheit ist.

Demokratie basiert auf öffentlichen Prozessen der Willens- und Entscheidungsbildung. Die zentrale Frage dabei ist, wie Medien mit ihrer Rolle als Vermittler zwischen Wirtschaft, Politik und Publikum und mit ihrer Rolle als Kritiker und Kontrolleur umgehen. Die Antwort darauf lautet seit Jahren: eben nicht so autonom und kompetent wie es dem Ideal der politischen Kommunikation in unserer Gesellschaftsordnung entsprechen würde.

Weltweit gibt es einen Wettbewerb um Schlagzeilen und Enthüllungen. Wir leben heute in einer permanenten Gegenwart – ohne Vergangenheit, ohne Zukunft.

Ständig wird eine neue Sau durchs globale Dorf getrieben. Es sind ganze Herden von Schweinen unterwegs und es werden immer mehr. Erstrebenswert scheint manchem nur noch das frühzeitige Besetzen von Themen zu sein, das Anzetteln von Aufregungskommunikation. Die dafür sorgt, dass der eigene Sender, das eigene Blatt von anderen Sendern, von anderen Blättern erwähnt wird. Es werden Statistiken darüber geführt, welches Medium die meisten exklusiven Nachrichten veröffentlicht hat. Statistiken darüber, wie viele dieser Meldungen recycelt oder falsch waren, gibt es leider nicht.

Anbiederungen aus Karrierekalkül

Zwar sind Verallgemeinerungen immer fehl am Platz, aber es gibt die komplizenhaftesten Verstrickungen zwischen Politikern, Wirtschaftsführern, Sportlern, Unterhaltungsstars und Journalisten. Sie reichen von beiderseitigen Anbiedereien aus Karrierekalkül bis hin zu wechselseitigen Instrumentalisierungen für höchst eigennützige Zwecke. Um Geld muss es dabei nicht immer gehen. Der Journalist Kurt Tucholsky stellte fest: „Der deutsche Journalist braucht nicht bestochen zu werden. Er ist stolz, eingeladen zu sein, er ist schon zufrieden, wie eine Macht behandelt zu werden.“

Es gibt viele Spielarten von Bestechung und Bestechlichkeit im Journalismus. Die enge Symbiose, in der viele Reisejournalisten und Reiseveranstalter schon seit Jahrzehnten leben, ist ein Dauerthema für die Journalisten-Seminare. Wenn Verlage sich von Hoteliers, Fluggesellschaften oder Reiseunternehmen zu teuren Trips einladen lassen, ist es schwierig, objektiv zu bleiben. Wer wiederkommen möchte, darf nicht unnett sein.

Auch lassen einige Unternehmen Wirtschaftsjournalisten die Reden für die Hauptversammlung schreiben, über die dann dieselben Journalisten berichten sollen. Gern auch geben Redakteure gestandenen Managern auf Seminaren Tipps, wie sich diese gegen Redakteure wehren können. Redaktionelle Beiträge entpuppen sich nicht selten als pure Werbung, die vom Hersteller oder vom Medium bezahlt werden. Wer Produkte der Pharma-Industrie in der Yellow Press bejubelt, kann manchmal mit fünfstelligen Zusatzhonoraren rechnen.

Guter Journalismus ist teuer. Wer einem freien Journalisten, der von Aufträgen lebt, für eine größere Geschichte 150 Euro zahlt, darf sich nicht wundern, wenn der Kollege manchmal sehr frei ist und sich auch heimlich von Unternehmen ausstaffieren lässt. Korruption kann im doppelten Wortsinn systemimmanent sein.

Kühl und scharf analysieren

Also: Wozu eigentlich noch Journalismus? Deshalb:

  • Weil einer gelernt hat, genau hinzuschauen, genau hinzuhören, um im scheinbar Unwesentlichen auch das Wesentliche aufspüren zu können.
  • Weil ein guter Reporter so viel Distanz zu sich hat, dass er sein erster kritischer Leser ist.
  • Weil einer die Fähigkeit hat, Sachverhalte kühl und scharf zugleich zu analysieren und in seiner Meinung unbestechlich zu sein.
  • Weil Exekutive, Legislative und Justiz nicht selten versagen und eine „vierte Macht“ dann in die Bresche springen muss, wenn die drei Gewalten versagen.
  • Weil die in modischen Büchern beschriebene „Weisheit der Vielen“ oft nur die Versammlung von Vorurteilen ist und weil ein Außenstehender dann Leuchtturm sein kann. Ein Leuchtturm ist ja auch in den allermeisten Fällen nicht das Ziel des Seefahrers, sondern soll ihm helfen, den Weg zu finden.
  • Weil das Internet eine Kommunikationsrevolution ausgelöst hat, die als Begleitung Sachverstand und Professionalität braucht.
  • Weil Datenfülle und Datenverarbeitung in ein vernünftiges Verhältnis gebracht werden müssen.
  • Weil es weiterhin ein Bedürfnis nach Orientierung gibt.
  • Weil Journalismus mehr ist als eine Abfolge von Moden dahinwogender Oberflächlichkeit.
  • Weil Journalismus Service ist. Weil Journalismus nicht nur ein Geschäft ist.

Ursprünglich ist dieses Essay als Teil der „SZ“-Reihe „Wozu noch Journalismus“ erschienen, die auch als Buch erhältlich ist. VOCER veröffentlicht ausgewählte Beiträge in teils leicht aktualisierter Form.