Pressefreiheit damals und heute
Rudolf Augstein hat es nie gefallen, wenn ein Redakteur beim Vortrag der täglichen Nachrichtenlage zu leichtfertig Worte wie „Skandal“oder „Affäre“ benutzte, um ein Thema zu bewerten. Was bedeutete es schon, wenn ein windiger Investor ein paar Geldanleger aufs Kreuz legte; wenn ein Minister private Geschäfte mit Dienstlichem vermischte; oder ein Industriekonzern Politiker aller Parteien mit Bargeld schmierte? Alles kleine Gaunereien. Ein Skandal, pflegte Augstein zu sagen, war allenfalls, dass sich ein britischer Verteidigungsminister, zumal ein konservativer, mit einer Nutte erwischen ließ. Auch die Polizeiaktion gegen den „Spiegel“ im Oktober 1962, fügte er dann hinzu, reiche vielleicht an diese Kategorie heran.
War es Bescheidenheit, Desinteresse, Koketterie oder gar die Sorge um Seriosität, wenn der „Spiegel“-Herausgeber zu maßvoller Wortwahl riet? Nichts von alledem. Es war Augsteins feste Überzeugung, dass die wahren Skandale mit Figuren wie Franz Josef Strauß und Konrad Adenauer dahingegangen waren. Was konnte noch kommen in seinem Journalistenleben, was eine ähnliche Dimension hatte wie jene Staatsaktion, die ihm eine Festnahme und 103 Tage Untersuchungshaft eingebracht hatte? Dem „Spiegel“ und seinem Herausgeber Rudolf Augstein war die Erwähnung in den Geschichtsbüchern längst sicher.
Dass Polizisten und Staatsanwälte die gesamte Redaktion des Nachrichtenmagazins besetzen und leitende Redakteure des Blattes verhaften, erscheint heute ebenso undenkbar wie die Vorstellung, es könnte sich eine gewaltige, überparteiliche Widerstandsbewegung formieren, um eine Zeitschrift vor dem Zugriff der Staatsmacht zu retten. Wenn heute Zeitungsredaktionen durchsucht werden, und das geschieht häufiger in den letzten Jahren, dann bleibt der öffentliche Protest ziemlich lasch. Warum eigentlich?
Eine Rolle, die „Der Spiegel“ nicht mehr spielt
Die Pressefreiheit gilt in Deutschland als gesichert. Das Bundesverfassungsgericht hatte eine Verfassungsbeschwerde des „Spiegel“ damals – mit 4:4-Richterstimmen – zwar abgelehnt, aber die Pressefreiheit als „Wesenselement des freiheitlichen Staates“ und „für die moderne Demokratie unentbehrlich“ anerkannt. Der Karlsruher Richterspruch stärkte die Arbeit der Journalisten.
Der „Spiegel“ war in der sechziger Jahren die Adresse für all jene, die Informationen loswerden wollten. Die Leser empfanden ihn als Gegenmacht zu Regierungen, Parteien, Verbänden und Wirtschaftsunternehmen, als außerparlamentarische Autorität. Es gab sie lange, diese Bonner Montagswirkung, die Angst der Politiker und Beamten vor neuen Enthüllungen. Das Blatt mit dem roten Rand lag in den Wohnstuben der Familien wie ein Lesebuch, dessen Enthüllungsgeschichten und zeitgeschichtliche Serien die Oberschüler und Studenten faszinierten. Sie lasen die Artikel mit Bleistift oder Kugelschreiber, arbeiteten sie regelrecht durch – mit handschriftlichen Unterstreichungen und Randbemerkungen. Der „Spiegel“ brachte Informationen, die in den Heimatzeitungen fehlten, weil die Journalisten zu schläfrig oder die Verleger zu ängstlich waren. Wer den „Spiegel“ las, konnte sich so richtig empören oder auch vergnügen. Die Texte waren ungewöhnlich frech geschrieben, in einem schnoddrigen, auch verletzenden Sprachstil, den nachzuahmen sich dann andere Blätter bemühten.
Bis heute zehrt der „Spiegel“ von dieser Rolle, doch er spielt sie nicht mehr. Die Bindung der Leser an einzelne Blätter, wie beispielsweise den „Spiegel“, haben sich gelockert. Die Zeiten ändern sich, mit ihnen ändert sich auch die Presse. Wo einst das Politische fesselte, dominiert heute das Unterhaltende. Die junge Generation wischt nur noch, sie liest nicht mehr, und wenn, dann allenfalls in kleinen Happen. Seit Jahren sitzen die Journalisten auf Podien und beklagen die Krise der Medien: Die Umsätze brechen weg, die Auflage bröckelt. Die Verlage kürzen die Etats der Redaktionen, statt dort zu investieren, wo es sich am Ende auszahlen könnte: in die Qualität des Journalismus.
Es ist auch eine Krise in den Köpfen der Journalisten, die verzagen und die politisch relevanten Themen vernachlässigen, weil sie das Privileg der Pressefreiheit, das ihnen die Verfassung garantiert, zu selten nutzen zur Kontrolle der Mächtigen.
Wer heute vorbehaltlos für die Pressefreiheit eintritt, gerät leicht in den Verdacht, auch all ihre Perversionen zu verteidigen – sei es in Boulevardbättern oder im Internet. Veröffentlicht wird, was Aufsehen erregt. Die Verdachtsberichterstattung, die den Journalisten manches erlaubt, aber auch einiges verbietet, wird dazu benutzt, Gerüchte zu verbreiten, ohne sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Diese exzessive Form der Berichterstattung hat das Verhältnis der Leser zur Presse getrübt, unsicherer gemacht, weil Skandalisierung nicht mehr zwischen Wichtigem und Unwichtigem trennt.
Maßstäbe für die Presse und die Freiheit
Das ist der Grund, weshalb die Durchsuchung von Redaktionen heute die Menschen weniger erregt als die Durchsuchung einer Backfabrik, die es mit der Hygiene nicht so genau nimmt. Angriffe auf die Pressefreiheit sind alltäglich geworden. Polizei und Justiz beschaffen sich ungeniert per Rasterfahndung im Telefonnetz die Verbindungsdaten von Journalisten, um deren Informanten aufzuspüren, obwohl das Verfassungsgericht in seinem „Cicero“-Urteil noch einmal bekräftigt hat, das Ziel eines staatlichen Eingriffs dürfe nicht nur sein, einen vermeintlich verräterischen beamteten Geheimnisträger ausfindig zu machen.
Beim „Spiegel“ musste 1962 noch der Vorwurf des Landesverrats konstruiert werden, um die Polizei-Aktion zu legitimieren. Sie war nur möglich, weil in der Adenauer-Regierung „einige mächtige Leute saßen“, wie es der Publizist Paul Sethe hinterher formulierte, „die uns noch immer für ein Volk von geborenen Untertanen“ ansahen. Heute genügen den Staatsanwälten läppische Anlässe, um in Redaktionen einzudringen – Zitate aus Gerichtsakten, Verletzung von Dienstgeheimnissen oder Weitergabe von „Vertraulich“ gestempelten Dokumenten. Wer als Journalist das Redaktionsgeheimnis wahrt, seinen Informanten schützt, muss befürchten, dass sein Schreibtisch durchwühlt wird. Den Innenministern des Bundes und der Länder ist das Zeugnisverweigerungsrecht der Journalisten zuwider, sie würden es gerne aushebeln, um zu erfahren, wo in den Ministerien die undichten Stellen sind.
Spätestens in Karlsruhe würde jeder Versuch, die Pressefreiheit auszuhöhlen, wieder gestoppt. Und das hat durchaus mit der „Spiegel“-Affäre zu tun, die Maßstäbe gesetzt hat für die Presse und die Freiheit, auch Notwendigkeit der Recherche.
Dass die Sensibilität für dieses hohe Gut der Verfassung verloren gegangen ist, hat auch noch Rudolf Augstein miterlebt – und beklagt. Als Verleger und Kaufmann wusste er, dass der Mythos vom Sieg des kritischen Journalismus über den autoritären Staats nicht das Überleben seines Blattes garantiert. Die „Spiegel“-Hefte über die „Spiegel“-Affäre haben sich 1962 prächtig verkauft, die Auflage ging steil nach oben. Auch das hat sich heute, 50 Jahre danach, geändert.