Qualität in der Krise?
Der Abend endete mit einem Eklat. Bei der diesjährigen Verleihung des Henri-Nannen-Preises stießen journalistische Welten aufeinander, die dieses Zusammentreffen nicht schadensfrei überstehen konnten. Die Jury zeichnete die „Bild“-Reporter Martin Heidemanns und Nikolaus Harbusch für ihre Veröffentlichung „Hat Wulff das Parlament getäuscht?“ zum Kreditgebaren des damaligen Bundespräsidenten aus, einträchtig neben dem Recherche-Team der „Süddeutschen Zeitung“ für deren Investigation zur „Formel 1-Affäre“ bei der Bayerischen Landesbank.
Erstmalig erhielten damit Schreiber der Boulevardzeitung „Bild“ den angesehenen Journalistenpreis, hatten sie doch mit ihrer Veröffentlichung den Stein, der schließlich Christian Wulff zum Rücktritt bewog, ins Rollen gebracht. Doch eine solche Wertschätzung des Boulevardjournalismus mochten die drei Redakteure der „Süddeutschen Zeitung“ nicht neben sich dulden. Der prominente Recherchejournalist Hans Leyendecker lehnte den Preis ab, „weil ich es auch ein Stückchen für einen Kulturbruch halte“. Überzeugende Argumentation klingt anders.
Qualitätsjournalismus unter Druck
Die dichotome Unterscheidung zwischen seriösem Qualitätsjournalismus und niveaulosem Boulevard überzeugt hier nicht länger als normative Strukturierung journalistischer Angebote. Die Boulevardzeitung bot einerseits aufklärende investigative Recherche und war zugleich strategischer Geschäftspartner des Bundespräsidenten – eine Geschäftsbeziehung, die nicht länger lukrativ erschien. So bot das Ereignis der „Bild“ Gelegenheit zu beträchtlichem Reputationsgewinn, ohne dabei das Geschäftsmodell infrage zu stellen.
Im Gegenteil: Aufklärung durch Investigation erweist sich in diesem Fall auch ökonomisch als erfolgreich. Erkennbar wird dabei, unter welchem Druck sogenannter Qualitätsjournalismus steht, der seine Identität und Legitimation auch in Abgrenzung zu anderen, unterhaltenden Formen des Journalismus sucht. Ist journalistische Qualität allein einem Qualitätsmedium vorbehalten, gar allein das Privileg der überregionalen Presse in Deutschland? Die Entscheidung der Jury und die Reaktion der Preisverweigerer lösten eine intensive Debatte aus – weniger über Qualität als über journalistische Moral und die Moral von Journalistinnen und Journalisten. Dabei erwies sich die Leserschaft der jeweiligen Zeitungen in Leserbriefen und Online-Kommentaren als weitestgehend loyal gegenüber ihren Blättern. Distinktion findet auf Seiten des Publikums genauso statt wie in der journalistischen Profession.
Dabei soll die Verleihung von Journalistenpreisen wie dem „Henri“ originär der Qualitätssicherung dienen. Lässt sich doch auf diesem Wege erstklassiger Journalismus identifizieren und in prächtigen Galas feiern. Doch schon im vergangenen Jahr ging es schief. Da wurde einem preisgekrönten „Spiegel“-Redakteur die Ehrung wieder aberkannt, nachdem bekannt geworden war, dass nicht alle Beobachtungen in seiner Reportage auf eigenem Augenschein beruhten. Quellentransparenz als Qualitätskriterium schien auf dieser Grundlage nicht gewährleistet, suggerierte die Form der Reportage doch die Augenzeugenschaft.
Kritik gab es in diesem Jahr auch von Seiten zahlreicher Journalistinnen. Die Initiative „Pro Quote“, die für einen 30-prozentigen Frauenanteil in deutschen Chefredaktionen kämpft, kommentiert ernüchtert: „Überraschend auch, wie deutlich die Jury entschied: Preiswürdige Qualität ist männlich, und zwar zu 100 Prozent.“
Was zeigt sich an diesen öffentlichen Auseinandersetzungen? Keine glückliche Hand auf Seiten der Jury? Oder schwindet ein professioneller und auch gesellschaftlicher Konsens über das, was unter Qualität im Journalismus zu verstehen ist?
Ansprüche an einen strapazierten Begriff
Wie unter einem Brennglas wird an dem beschriebenen Eklat sichtbar, unter welchem Druck Qualitätsjournalismus in Deutschland steht. Schon der Begriff erscheint diskussionswürdig: Zwischen Modewort, ideologischem Tarnbegriff und Tautologie verortet ihn Volker Lilienthal, selbst Professor für Qualitätsjournalismus, in einer Anhörung des Bundestagsausschusses für Kultur und Medien. Der Medienökonom Jan Krone schreibt 2010 im Medien-Blog „Carta“: „Das Unwort vom Qualitätsjournalismus lässt sich als Muffe zwischen Ideologien und Interessen begreifen.“ Als „moralisches Bollwerk einer publizistischen Elite“ kritisiert er das Konzept von Qualitätsjournalismus, das eine exklusive Leistung verspricht, diese jedoch nur in eingeschränktem Maße und keineswegs exklusiv erbringt.
Vor diesem Hintergrund scheint es erforderlich, zwei Fragen zu klären: Erstens, was verstehen wir unter Qualitätsjournalismus, und wie verhält er sich zu einzelnen Medien, die sich selbst als Qualitätsmedien bezeichnen? Und zweitens, welche Ansprüche werden an Qualitätsjournalismus gerichtet, und wo besteht Anlass zur Sorge, dass diese Ansprüche nicht (mehr) hinlänglich erfüllt werden?
Als „leidende Leuchttürme“ bezeichnet Roger Blum Medien des Qualitätsjournalismus, unter die er neben öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten insbesondere die überregionale Tagespresse und Nachrichtenmagazine fasst. Als normatives Konzept verweist der Begriff „Qualitätsjournalismus“ auf Leistungen, die für das Publikum erbracht werden. Relevant sind hier eine Informationsfunktion – Was geschieht? -, eine Orientierungsfunktion – Was ist wichtig? -, eine (nur noch schwach ausgeprägte) Integrationsfunktion – Was verbindet uns? – sowie eine Kritik- und Kontrollfunktion – Was läuft falsch? Dabei dient die öffentliche Legitimation von Journalismus, das Publikum zur kompetenten Teilhabe an demokratischen Entscheidungsprozessen zu befähigen, implizit als Grundlage.
Aufgabenfeld wurde größer
Zweifellos bietet Journalismus heute deutlich mehr news to use: Ratgeberjournalismus, Lifestyle-Journalismus, Reiseberichterstattung oder Sportübertragungen. Diese journalistischen Formen und Angebote haben sich auf dem Zeitschriftenmarkt oder im Repertoire der Nachrichtenagenturen und Rundfunkanstalten deutlich erweitert. Sie erweisen sich ökonomisch mit präziser Zielgruppenadressierung als erfolgreich und gesellschaftlich als bedeutsam, konzentrieren sie doch öffentliche Aufmerksamkeit auf entsprechende Diskurse und generieren diese Aufmerksamkeit zugleich selbst.
So lässt sich am Beispiel des Sportjournalismus zeigen, dass mit und durch Berichterstattung zu internationalen Ereignissen wie Fußballmeisterschaften nationale Identität etabliert und gestärkt wird. Damit trägt Sportjournalismus zu einer Veralltäglichung und Popularisierung von Nationalgefühl bei. Zugleich bedienen sich politische Akteure genau dieser sportlichen Arena, um ihre Popularität zu steigern und sich Attribute des Erfolgs zu sichern. Sportjournalismus trägt damit durchaus zu demokratietheoretisch relevanten (oder problematischen) Dimensionen der Gemeinschaftsbildung bei, besetzt in der Qualitätsdebatte jedoch allenfalls eine randständige Position.
Verschobene Relevanzstrukturen
Das Gütesiegel des Qualitätsjournalismus greift vorrangig auf die Felder der Politikberichterstattung sowie ergänzend – und kritisch diskutiert – der Wirtschafts- und Gesellschaftsberichterstattung zurück. Trotz Ausdifferenzierung und Diversifizierung der journalistischen Angebotsstruktur scheint das normative Konzept gleichbleibend eng gefasst. Eine Schlüsselfunktion übernehmen Qualitätsmedien dann, wenn sie sowohl für Journalisten als auch für politische und wirtschaftliche Eliten zu zentralen Referenzpunkten, zu Leitmedien werden.
Als Qualitätsmedien gelten jene, die intensiv von anderen Journalisten genutzt werden. Zitationshäufigkeit und wechselseitige Verweisstrukturen als Formen der medialen Selbstbezüglichkeit werden damit zu einem relevanten Kriterium. Auf dieser Ebene scheint die dichotome Struktur von Qualitäts- und Boulevardjournalismus nicht länger konsistent zu sein: Aktuelle Befragungen machen sichtbar, dass neben überregionalen Abonnementzeitungen auch die „Bild“ intensiv in Redaktionen gelesen wird. „Spiegel Online“ nimmt im Feld der Onlinemedien unumstritten die Position eines Leitmediums ein. Relevanzstrukturen haben sich damit in der Profession selbst verschoben.
Neben der journalistischen Referenz gilt die Wahrnehmung und Rezeption bei politischen und ökonomischen Entscheidungsträgern als bedeutsam. Damit erscheinen Qualitätsmedien als Elitemedien und lassen erkennen, dass dem normativen Konstrukt zugleich gesellschaftliche Ausschlussmechanismen eingeschrieben sind. In der Themensetzung, der sprachlichen Gestalt und dem Modus der Argumentation adressiert ein solcher Qualitätsjournalismus ein überdurchschnittlich gebildetes, medienkompetentes Publikum, das über Entscheidungs- und Gestaltungsmacht verfügt – eine gesellschaftliche Minderheit.
Qualität lässt sich jedoch auch von der anderen Seite her bestimmen. Nicht Journalisten oder politische Entscheidungsträger bewerten die Güte journalistischer Angebote, sondern das Publikum selbst. Wird ein solcher Perspektivwechsel vorgenommen, so verändern sich die Kriterien, anhand derer bewertet wird. Stehen in der professionellen Bewertung Kriterien wie Relevanz, Vielfalt, Aktualität, Glaubwürdigkeit, Unabhängigkeit, Rechercheleistung und Kritik im Mittelpunkt, so erhalten aus der Rezipientenperspektive unter user quality gefasste Kriterien wie Verständlichkeit sowie leichte und vielfältige Zugänglichkeit verstärkt Bedeutung.
Eine Frage des Mediums?
Wo findet sich nun Qualitätsjournalismus? Diese Frage lässt sich nur empirisch beantworten, denn Qualität lässt sich messen: an der Themenvielfalt, der Vielfalt von Darstellungsformen oder Quellen. Messbar ist das Ausmaß originärer Recherche oder exklusiver Themen. Offenkundig wird dabei, dass es nicht den einen Maßstab für alle journalistischen Produkte und Formate geben kann. Die Qualität einer Lokalzeitung bemisst sich an anderen Leistungen als die eines wöchentlichen Magazins. Aber bleibt Qualität an spezifische Medien gebunden?
Im Alltagsdiskurs wird Qualitätsjournalismus zumeist mit Qualitätszeitungen – als solche gelten in Deutschland fünf bis sechs überregionale Blätter – gleichgesetzt. Und auch die kommunikationswissenschaftliche Forschung konzentriert sich auf dieses Medium. Die Ausdifferenzierung der Ressorts, das Netzwerk an Korrespondenten, die Adressierung einer nationalen Leserschaft und die inhaltliche Breite der Berichterstattung werden als Gütekriterien genannt.
Auch Jürgen Habermas verweist auf eine solche zentrale Funktion der „Qualitätspresse“ und spricht ihr meinungsbildende Funktion zu. Er privilegiert die Presse damit vor anderen – insbesondere elektronischen – Medien:
„Ohne die Impulse einer meinungsbildenden Presse, die zuverlässig informiert und sorgfältig kommentiert, kann die Öffentlichkeit diese Energie (zur Meinungs- und Willensbildung, M.L.) nicht mehr aufbringen.“ Das Fernsehen verortet er – ähnlich anderen Kulturpessimisten – als „Toaster mit Bildern“ und spricht ihm qua Medium und qua Marktförmigkeit aufklärendes Qualitätspotenzial ab.
Doch so pauschal und rigide lässt sich Qualität kaum an das Medium binden. Problematisch erscheint dies insbesondere, wenn im Bereich der Presse Marktförmigkeit als strukturierendes Prinzip akzeptiert wird, was im Bereich des (Privat-) Rundfunks als problematisch erscheint. Insbesondere in der nicht (primär) marktförmigen Organisation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks lassen sich spezifische journalistische Qualitätsleistungen identifizieren. Wenn man wiederum die Fokussierung auf politische Diskurse zugrunde legt, so ist es einerseits die öffentlich-rechtliche Nachrichtenproduktion, andererseits sind es die Politmagazine von ARD und ZDF, denen die normative Funktion des „Leuchtturms“ zugewiesen wird.
Nicht zuletzt zur Legitimation der Gebührenfinanzierung dient der regelmäßig erbrachte Nachweis, dass die öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramme in besonders umfänglicher Weise Informationen durch politische Fernsehpublizistik zur Verfügung stellen. Nun garantiert Masse nicht unmittelbar Qualität. Aber es sind auch gerade die Redakteure und Autoren öffentlich-rechtlicher politischer Magazine, die in der Journalistenvereinigung „Netzwerk Recherche“ Qualitätsdimensionen diskutieren und durch Rechercheförderung und -trainings systematisch weiterentwickeln.
Weniger eindeutig zu bestimmen ist die journalistische Qualität im Internet. Einerseits strahlen journalistische Marken der analogen Welt ins Netz ab und dienen dort dem branding, um den Nutzern Navigationshilfe in der Angebotsfülle zu bieten. Andererseits lassen sich damit allein behelfsmäßige Reproduktionen des Traditionellen herstellen. Der Dynamik, Vielfalt und Fluidität der Netzkommunikation kann ein solcher an „alte“ Medien gebundener Qualitätsmaßstab nicht gerecht werden. Im Netz ist bereits die trennscharfe Unterscheidung zwischen journalistisch-professioneller und nicht-journalistischer Laienkommunikation angesichts partizipativer und kollaborativer Kommunikationsmöglichkeiten nur eingeschränkt möglich. Übergreifende Qualitätsstandards für diese unterschiedlichen Formen erscheinen weder möglich noch wünschenswert.
Krisenerscheinungen: Fünf Dimensionen
Zugleich jedoch stellt die digitale Netzkommunikation eine zentrale Ursache für die Rede von der Krise des Journalismus und damit auch einer Krise journalistischer Qualität dar. Dabei werden im Folgenden fünf Dimensionen unterschieden, auf denen sich krisenhafte Phänomene beobachten lassen.
Auf ökonomischer Ebene steht das historisch gewachsene Geschäftsmodell des Journalismus infrage, das über mehr als ein Jahrhundert eine Refinanzierung publizistischer Leistungen neben dem Verkaufspreis durch Anzeigengeschäfte ermöglicht hat. Wesentliche Bausteine des Anzeigengeschäfts – wie Klein- oder Stellenanzeigen, aber zunehmend auch Markenwerbung, die zielgruppengenau platziert werden soll – sind unwiderruflich an Kommunikationsplattformen im Internet verloren gegangen. Andere Formen der Refinanzierung sind bislang nicht in vergleichbarer Größe erkennbar. Diskussionen über Stiftungs- oder Spendenfinanzierung stehen noch am Anfang und erscheinen zumindest in Deutschland nicht als äquivalente Größe.
Deshalb reagieren insbesondere Verlage auf diese Entwicklung mit Kostenreduktion. Dies zeigt sich einerseits in Personaleinsparungen, also der drastischen Reduktion des redaktionellen Kernpersonals und der Auslagerung auf kostengünstige, flexibel einsetzbare, freie Mitarbeiter, sowie andererseits im Verzicht auf publizistische Ressourcen wie dem Nachrichtenangebot der DPA, die bis dahin als sakrosankt galten. Qualitätseinbußen und damit der Verlust originärer Leistungsfähigkeit sind die unvermeidliche Folge dieser Sparmaßnahmen. Auf dieser Grundlage sind Vorschläge zur öffentlichen Förderung von Printmedien entwickelt worden. Doch die Sorge über einen Verlust an Staatsferne und mögliche Einflussnahme durch staatliche Akteure lässt solche veränderten Finanzierungsmodelle fraglich erscheinen.
Auf struktureller Ebene steht Journalismus in seiner exklusiven Leistungsfähigkeit zur Disposition. Das Internet als Alltagsmedium bietet einen Kommunikationskanal, der die Profession in zweifacher Hinsicht zu bedrohen scheint. Im Netz stehen auf Algorithmen basierende Informationen kostenlos zur Verfügung, die redaktionelle Leistungen partiell zu ersetzen drohen und veränderte Selektionskriterien relevant werden lassen. Nachrichtenangebote von Google oder AOL liefern ohne professionelle redaktionelle Bearbeitung Informationen, die von Einzelnutzern und Redaktionen als kostenlose Rohware genutzt werden. Journalistische Leistung als wertvolles Gut lässt sich in diesem Umfeld schwer verteidigen.Eine Paywall im Netz ist bislang nur für wenige, zumeist ökonomisch relevante Informationen erfolgreich etabliert worden.
Die andere strukturelle Bedrohung liegt in der Entgrenzung der Kommunikatoren. Es sind längst nicht mehr allein Journalisten, die relevante Themen für die öffentliche Diskussion bereitstellen. Als „Produtzer“ (produser) bezeichnet Axel Bruns die Rollenverschmelzung von Produzenten und Rezipienten. „The people formerly known as the audience“ werden nun zu (potenziell) aktiven Kommunikatoren. Die Schärfe, mit der Blogger sich von professionellen Journalisten abgrenzen (und vice versa), zeigt, welcher Kampf um Besitzstände und gesellschaftliche Deutungsmacht hier geführt wird.
Journalismus verliert auch auf der inhaltlichen Ebene an Reputation. Anything goes – das scheint der Imperativ journalistischer Produktion, solange damit Geld zu verdienen ist: Die schier unendliche und weiter wachsende Vielfalt an Angeboten aus dem Bereich special und very special interest geht einher mit einem beschleunigten Aktualisierungszyklus und ständigem Output auf mehreren Distributionskanälen (gedruckte Zeitung, E-Paper, Tabletversion). Aus normativen Idealen motivierter Journalismus, dessen Hauptanliegen es ist, dem Publikum notwendige Informationen zu liefern, um als mündige Bürgerinnen und Bürger agieren zu können, macht offenkundig nur noch einen (zunehmend kleineren) Teil des Gesamtangebots aus.
In dieser Entwicklung erscheint der politische Nachrichtenjournalismus keineswegs mehr unstrittig als Kern, von dem sich ausfransende Ränder abgrenzen lassen. Vielmehr steht hier grundlegend das Verhältnis von Zentrum und Peripherie journalistischer Produktion zur Disposition.
Auf organisatorischer Ebene zeigt Journalismus ein deutliches Moment der Trägheit. Die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gewachsenen redaktionellen Strukturen haben im Zuge der professionellen Ausdifferenzierung spezifische Programme, Rollen und Funktionen etabliert. Diese tradierten Strukturen erweisen sich aktuell als Innovationsbremsen. Die Dynamik, mit der sich Tätigkeitsfelder der öffentlichen Kommunikation im Zuge der Digitalisierung verändert haben, findet in den gewachsenen, vorrangig regional geprägten Strukturen journalistischer Organisationen wie Lokal- und Regionalzeitungen keinen Ausdruck. Sichtbar wird dort das Bemühen, tradierte Strukturen abzusichern und fortzuführen.
Auf der Organisations- und Managementebene sind nur wenige Kompetenzen zur Entwicklung innovativer Kommunikationsformen und -formate erkennbar. Hier ist es dringend geboten, mit veränderten Formen der Publikumsadressierung und -beteiligung neue Konzepte journalistischer Kommunikation zu entwickeln. Da andere Medienorganisationen wie digitale Start-up-Unternehmen erheblich schneller und dynamischer handeln, wandelt sich in der Folge das organisatorische Setting dahingehend, dass mit dem Begriff der „Content-Produktion“ nicht länger systematisch zwischen journalistischer Aussagenproduktion und anderen Formen öffentlicher Kommunikation unterschieden wird.
Schließlich befindet sich Journalismus auf der gesellschaftlichen Ebene in einer veränderten Rolle. Journalismus hat seine exklusive Funktion, durch aktuelle und relevante Informationen zur öffentlichen Selbstverständigung beizutragen, unwiderruflich verloren. Durch professionelle PR-Kommunikatoren, die Partikularinteressen verfolgen, durch Formen der Unterhaltungskommunikation sowie durch Blogs, Twitter und citizen journalism als Formen des User Generated Content sind weitere Modi etabliert, die gesellschaftliche Kommunikation gestalten. Teilweise bedienen sich diese noch des Umwegs über den Journalismus. Im Bereich der strategischen PR wird jedoch immer häufiger das Publikum direkt adressiert – zuweilen, ohne dass die Herkunft auf Rezipientenseite klar erkennbar ist.
Resümee
Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass Journalismus auf der personellen, der inhaltlichen und der symbolischen Ebene an Relevanz, Reputation und Exklusivität eingebüßt hat. Zweifellos gehen damit Verluste einher; offenkundig sind diese mit Blick auf vormals existierende Ressourcen wie Einkommen und Reputation der Profession, besorgt wird aber auch der Qualitätsverlust gesellschaftlicher Öffentlichkeit beschrieben und nach anderen Wegen der ökonomischen Absicherung sowie der publizistischen Leistungsfähigkeit gesucht. „Jenseits des Deutungsmonopols“ gilt es aktuell erneut, die Leistungsfähigkeit, den gesellschaftlichen Bedarf und die kommunikativen Potenziale von Journalismus zu prüfen.
Dabei erscheint die normative Unterscheidung von seriösem Qualitätsjournalismus und trivialem Boulevardjournalismus weder durchgängig stimmig, noch konzeptionell ertragreich. Ein Blick in die USA mag an dieser Stelle hilfreich sein: Mit dem Pulitzer-Preis werden alljährlich herausragende journalistische Arbeiten – von der investigativen Recherche bis zur lokalen Reportage – ausgezeichnet. Ein Gütesiegel, mit dem sich jede Redaktion gerne schmückt, verliehen von einer Jury aus Chefredakteuren und Journalistikprofessoren der Columbia University.
Gestiftet wurde dieser Preis von Joseph Pulitzer, der 1883 die „New York World„, eine bis dahin verlustreiche Tageszeitung, kaufte. Zum Erfolg brachte er das Blatt, indem er Sensationen, soft news und human interest neben politischen und lokalen Nachrichten ins Blatt holte. Die Farbe in der Tageszeitung wurde hier stilprägend: Yellow press, heute ein Synonym für Boulevardjournalismus, erschloss erfolgreich ein Massenpublikum. Der ökonomische Erfolg des Boulevardjournalismus im 19. Jahrhundert wurde so bis heute zur Grundlage für preisgekrönte journalistische Leistungen. Die Columbia University, deren Journalistenprogramm ebenfalls durch Pulitzers Spenden ermöglicht wurde, sichert bis heute die Unabhängigkeit der Entscheidungen. Vielleicht könnte im 21. Jahrhundert ein ähnliches crossover für Deutschland ein Modell sein.
Zuerst erschienen im Heft „Qualitätsjournalismus“ aus der Reihe „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (APuZ 29-31/2012) der Bundeszentrale für politische Bildung.