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„Rotkäppchen bleibt Rotkäppchen“ – über Storytelling im digitalen Zeitalter

Christian Riedel, Mitgründer der Hamburger Storytelling-Beratung Three Headed Monkeys, nennt sich selbst Story Architect. Warum das Erzählen und schon das Denken in Geschichten wieder wichtiger für die Medienbranche wird, erklärt er im Interview.

VOCER: Storytelling wird gerne als Hype abgetan. Was steckt dahinter? Ist es mehr als alter Wein in neuen Schläuchen?

Christian Riedel: Ja, Storytelling gibt es schon seit Ewigkeiten. Da es im Kern eine Grundform menschlichen Kommunizierens ist. Vom ersten Lagerfeuer an erzählten sich Menschen Geschichten, Neurowissenschaftler behaupten sogar, unser Gehirn würde nur in Geschichten denken. Nichtsdestotrotz ist der Begriff problematisch.

Warum?

Weil er in verschiedenen Zusammenhängen etwas anderes meint, was es sehr schwer macht, ihn zu greifen. Manche Menschen denken bei Storytelling daran, dass man sich in einen Kreis setzt und wirklich Geschichten erzählt. Wer im Medienbereich unterwegs ist, denkt bei Storytelling fast automatisch an Filme, ein Werber wird an einen tollen 30-Sekünder denken, Journalisten an die Reportage.

Und was ist dann für dich Storytelling?

Ich glaube, dass es in Zeiten, in denen der Begriff Storytelling immer wieder hochkommt, eigentlich um etwas anderes geht: das Bedürfnis, dass einen Inhalte emotional berühren. Ich erzähle eine Geschichte, wenn ich nicht nur Fakten oder Ereignisse aufliste, sondern auch Gefühle vermittel. Das verstehe ich unter Storytelling und das befreit es dann auch von irgendwelchen medialen Zusammenhängen.

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Wieso ist Storytelling in den letzten Jahren zu so einem Hype geworden?

Weil ganz viele Medienformate, mit denen wir uns umgeben, die Leute emotional nicht mehr berühren. Wenn Menschen beispielsweise die Wahl haben, Werbung zu gucken, entscheiden sich viele dagegen. Oder im Journalismus: Wenn ich wählen muss zwischen einer hochemotionalen Reportage und einer sachlichen Nachricht, dann geht der innere Anzeiger eher Richtung Emotion. In den letzten Jahren haben wir uns im Social-Media-Wahn immer über Technologien und Plattformen unterhalten und aus den Augen verloren, dass das, was wir dort von uns geben, auch Leute berühren muss.

Welche Rolle spielt der Rezipient in einem guten Storytelling-Prozess?

Dazu eine Geschichte aus meiner Drehbuchausbildung, ich erinnere mich da an das Zitat „Niemand ist so schlau wie ein Kinosaal“. Heißt: Es ist egal, was du dir ausdenkst und wie viel Energie du investierst – die Menschen werden jeden Fehler finden und sofort merken, wenn sie sich langweilen. Für mich, der ich vorher vor allem in Agenturen gearbeitet hatte, war das eine totale Umkehrung, denn dort sprach man immer vom „dümmsten anzunehmenden User“. Solange man in diesem Denken verhaftet ist und die Zielgruppe als gehirnlose Medienzombies behandelt, die zu schlucken haben, was man ihnen vorwirft, solange wird man auch nicht in die Lage kommen, für jemanden und interaktiv mit jemandem eine Geschichte zu erzählen.

Was davon findet sich wie in der Arbeit der von dir mitgegründeten Kommunikationsagentur Three Headed Monkeys wieder?

Wir nutzen dramaturgische Modelle und Erzähltechniken, um nicht nur Inhalte, sondern Kommunikationsprozesse so zu gestalten, dass sie bedeutungsvoll werden. Und zwar nicht nur für denjenigen, der sie sendet, sondern auch für sein Gegenüber. Kommunikation muss auf Augenhöhe passieren, damit beide eine Bedeutung in dem Prozess sehen. Sprich, wir helfen Gründe zu finden, warum man sich emotional mit einer Sache beschäftigen sollte.

Wie läuft so was praktisch ab?

Wir sorgen unter anderem für „Narrative Insight“. Das heißt, wir gucken uns Kunden genauer an, sammeln ihre Geschichten und Erfahrungen, suchen darin Konflikte und eine Erzählstruktur und bereiten die „Customer Journey“ als Erlebnisgeschichte auf. Mit einer solchen Story bekommt man ein viel emotionaleres Verständnis von den Menschen, mit denen ein Unternehmen kommuniziert. Wir haben das zum Beispiel für DFDS Seaways gemacht. Wir sind mit deren Fähre nach England und zurück gefahren, haben jede Minute getrackt, Social Media untersucht und Menschen interviewt. Das haben wir visuell in einer exemplarischen Reisegeschichte aufbereitet, die rund acht Quadratmeter groß wurde. In der Firma hat das dazu geführt, dass sie die viele Vorstellung darüber verwarfen, wie Menschen die Reise erleben. Darauf hin werden jetzt Kommunikations- und Marketingmaßnahmen inhaltlich optimiert.

Medienmarken haben häufig noch eher einen ideellen Wert und sind nicht so leicht zu vergleichen mit dem Konzept für, beispielsweise, einen neuen Adidas-Schuh. Wie ließe sich euer Storytelling-Prinzip trotzdem auf die Branche übertragen?

Gerade bei Medienmarken bin ich mir da ehrlich gesagt nicht sicher. Die großen Fragen, die Menschen sich heute immer mehr stellen, sind: Warum gibt es die Marke überhaupt? warum brauche ich das, was gibt es mir? Und das sind Fragen, die sich nicht über ein Image sondern über eine Geschichte beantworten lassen. Wir suchen uns die Marken aus, die eine Geschichte über die Welt erzählen, die zu uns passt. Doch Medienmarken bringen diesen Warum-Mythos häufig nicht mehr mit. Vor allem die Großen berufen sich allein auf Historie und sagen: Hey, wir waren doch schon immer da! Du kannst dir zwar sicher sein, wenn du dir den „Stern“ kaufst, wirst du Inhalte finden, die ordentlich recherchiert sind. Aber der ideellen Wert, die Antwort auf die genannte „Warum-Frage“, sehe ich kaum. Das ist bei einem Nischenprodukt wie der „Brandeins“ klarer, das eine eigene Vorstellung von Wirtschaft mitbringt.

Du sagst, statt Storytelling müssten wir vielleicht von Storythinking sprechen. Was meinst du damit?

Wenn wir über Storytelling sprechen, denkt jeder sofort in den Formaten, in denen ihm Geschichten am geläufigsten sind. Vielleicht müssen wir eine Ebene höher schauen und über so etwas wie Storythinking sprechen, um die eigene Formatbox zu verlieren. Die Herausforderung im Moment ist, dass sich die Formate im digitalen Umfeld auflösen. Ich kann aus der Geschichte von Rotkäppchen eine Reportage machen: „Mädchen im Wald von wildem Tier veräppelt und Großmutter gefressen“; ich kann daraus einen Zeichentrick machen; ich könnte das Blog des Wolfs führen. Dafür muss ich aber verstehen, dass der Inhalt der Geschichte von der Form gelöst ist. Rotkäppchen bleibt Rotkäppchen. Das kann bei Journalisten auch helfen: sich ab und an mal von der Form zu lösen.

Gerade deutsche Medien scheinen das häufig nicht zu können, sich nicht zu trauen.

Es ist ja auch schwierig, sich aus Produktionslogiken zu befreien. Wieso sind Redaktionen so aufgebaut, wie sie aufgebaut sind? Weil es innerhalb eines gesteckten Formatrahmens das Produzieren erleichtert. Das ist ein bisschen wie bei VW: Als sie festgestellt haben, dass sich Autos verkaufen, konnten sie die gesamte Produktionslogik darauf ausrichten. Es gibt große Autos und kleine Autos, aber das Prinzip ist dasselbe. Wenn auf einmal keine Autos mehr gekauft werden – was dann? Zurückübertragen auf Journalismus oder auch auf die Werbung: die Anzeige, die Zeitung – das hat lange immer gut funktioniert. Und jetzt ist es dann an der Zeit, sich davon auch mal zu lösen und zu überlegen, was sonst so möglich ist.

Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang digitale Tools?

Eine große. Digitale Tools machen es leichter – das sieht man etwa bei Start-ups – erst mal kleine Prototypen zu bauen. Warum Fantastillionen Euro versenken, wenn ich die Grundmechanik meiner Idee mit freien Tools ausprobieren kann? Wenn man allerdings über Geschichten redet, hat man allerdings gleichzeitig eine begrenztere Prototypen-Fähigkeit. Deshalb funktioniert die Start-up-Mentalität, die momentan in Medien propagiert wird, nur beschränkt.

Wieso?

Folgender Vergleich: Ich mache eine Wohnungssuchplattform auf und kann sie öffnen, wenn die Grundfunktionalität – das Finden einer Wohnung – vorhanden ist. Bei einer Geschichte hingegen muss ich mir sehr genau aussuchen, wem ich den Prototypen zeige. Es hat ein anderes Erlebnisversprechen: Ich werde eintauchen und will berührt werden. Das hat einen gewissen Anspruch an Perfektion. Einem Start-up nehme ich auch die Betaversion ab, aber ich möchte nicht die Betaversion eines Pixar-Filmes sehen. Beim Geschichtenerzählen ist das die große Schwierigkeit: auf der einen Seite zu experimentieren, auf der anderen einen gewissen Grat an Perfektion zu haben, damit die Geschichte ihr Publikum bewegt.

Stichwort Experimentieren: Im Rahmen der Digitalkonferenz des Reeperbahn Festivals in Hamburg veranstaltet ihr vom 27. auf den 28. September die erste WriteNight, ein Storytelling-Experiment. Was hat es damit auf sich?

Diese Idee treibt uns schon länger um: Wäre es nicht toll, mal Autoren, Journalisten, Filmer, Grafiker, Programmierer, alle, die in irgendeiner Weise Geschichten erzählen, eine Nacht in einen Raum zu sperren und sie eine bewegende Geschichte erzählen zu lassen? Wir wollen einen Raum zum Experimentieren schaffen, in dem es aber gleichzeitig den Druck gibt, für eine Publikumsjury zu erzählen, denn die Ergebnisse der WriteNight werden am nächsten Tag öffentlich präsentiert.

Und es geht darum, erst die Geschichte zu finden, sie von der Form gelöst zu denken und dann zu überlegen, wie ich sie am Besten erzähle.

Genau. Wir wollen einfach mal schauen, was in einer Nacht an Storytelling entstehen kann und dabei bewusst keine Grenze setzen, welches Medium du nimmst. Wenn dein Herz für eine Geschichte schlägt und dein Bauch dir sagt, das Beste, was dieser passieren kann, ist ein Text, dann ist das der richtige Weg. Wenn die Geschichte aber besser lebt, wenn ihr 15 Facebook-Profile aufmacht und diese miteinander kommunizieren lasst, dann ist das der Weg.

Deine Hoffnung, was die Besucher mitnehmen nach dieser Experimentier-Nacht?

Die Erkenntnis, dass es beim Erzählen einer Geschichte total OK ist, in dem Format, in dem man sich wohlfühlt, zu starten, aber auch den Zweifel, dass das gewählte Format vielleicht doch nicht das richtige oder zumindest auch ein anderes möglich ist.