Sind wir Putzerfische?
Der kleine Putzerfisch befreit den Hai von lästigen Parasiten, dazu schwimmt er jenem ins Maul. Für den Putzerfisch ist die Tafel ständig gedeckt, für den Hai ist es Wellness, ohne einander ginge es schlechter. Sind Journalisten Putzerfische? Leben sie von den Krumen, die die große Realität abwirft? Ist es erstrebenswert, ein Putzerfisch zu sein?
Nach fast drei Jahrzehnten Tummeln in sehr unterschiedlichen Journalismen, nach Jahren der inneren Bereitschaft, vieles an unserem Gewerbe zynisch oder lächerlich zu finden, tut es gut, nach der eigenen Relevanz zu fragen und zwar so naiv wie damals beim Berufseinstieg. Warum will ich Journalistin sein? Wozu noch Journalismus? Das heißt ja, wozu morgens aufstehen?
Echo in den Nischen
Die Untergangsstimmung im Printbereich, die wohl Motor dieser Reihe ist, erzeugt ein Echo in den Nischen des politischen Fernsehjournalismus, mag unsereins – noch – nicht um Geschäftsmodelle bangen müssen. Seien wir doch ehrlich, Journalisten stehen nicht mehr oben auf der Hit-Liste geschätzter und vorbildhafter Zeitgenossen. Außerhalb des Medien-Biotops, nämlich in der Wirklichkeit, ist der Blick auf unseren Berufsstand eher unfreundlich und es wird nicht feinfühlig unterschieden zwischen den Genres. Wir alle sind „die Medien“. Betrüblich aber wahr: Die Mitmenschen unterstellen, wir seien allesamt nur noch getrieben von guten Quoten, Auflagen, Klickzahlen. Dass wir Fehler schönreden, gern hart austeilen, aber ein gläsernes Kinn haben, wenn es um Kritik an uns selber geht. Dass wir Weltmeister im Ätzen und Besserwissen sind. Ob Print, Radio, Fernsehen oder Online: Viele Nutzer bekritteln – nicht grundlos – den Mangel an Tiefgang, an Persönlichkeiten, an Meinungsfreude. Sie erleben intellektuelles Versagen beim Deuten großer Zusammenhänge und geringe Lust am Einmischen. Und merken an, dass Feuerwehrleute, Lehrer, Briefträger oder Ärzte höhere Vertrauenswerte vorweisen können als „die“ Journalisten. Nebenbei: Jeder telegene Kleiderständer, jedes Model darf sich inzwischen Moderatorin nennen, jeder Handyschwenker Reporter. Das kann nicht gut sein für das Ansehen der Branche.
Gibt unser Berufsstand die eigene Gravitas auf? Gravitas ist eine Qualität aus dem antiken Rom. Sie meinte Substanz in der Persönlichkeit, eine gewisse Ernsthaftigkeit und Verantwortungsbereitschaft. Obwohl Gravitas dieselbe Wortwurzel hat wie Gravität, sollte man es nicht verwechseln mit Wichtigkeit, mit Prominenz. Nein, Gravitas war attraktiv, sie erforderte Tiefe im Denken und Handeln.
Woher kommt die Erosion unserer Autorität? Vielleicht, weil wir einfach verpennt haben, dass aus unseren Artikeln und Filmen „Produkte“ oder „Stücke“ wurden, aus dem Kulturgut Journalismus ein Wirtschaftsgut namens Content. Wir machten es uns gemütlich, als „Benchmarking„, „Audience-flow„, „Controlling„, „Usabilty„, „Look and feel„, „Performance“ in unserem Handwerkskasten auftauchten und die „Tools“ eines angesagten Superprofessionalismus wurden. Als hätten wir ’nen kleinen McKinsey im Ohr lernten wir Neusprech.
Aber was war, bitteschön, „Best practice“ je anders als das strenge Einhalten professioneller Standards? Gleichzeitig „trug“ man nicht mehr so gern „Haltung„, das klang nach peinlicher Alterskrankheit, nach muffig und ideologisch. Bis zur Konturenlosigkeit vergaßen wir die gute, anti-autoritäre Frage: WER will eigentlich, dass wir WAS bearbeiten und WARUM? Wir unterwarfen uns der verführerischen Tyrannei der Aktualität und nahmen uns keine Zeit mehr zu zweifeln. Verständlich, wer ist schon gerne auf Dauer Miesmacher?
Besser informiert, weniger weise
Wir ließen uns von der Flut der Informationen einschüchtern oder betäuben, obwohl wir ahnten, dass die Welt durch das Internet nicht durchschaubarer wurde. Immer besser informiert, immer weniger weise. Und die Kraft unserer Arbeit wurde ausgehöhlt durch die Inflation der Themen, durch die Auflösung der Grenzen zwischen Fakt und Fiktion und Agenda-Setting, zwischen Profis und Amateuren und PR-Agenturen.
Während Journalisten an ihrem Selbstverständnis herumrätselten, blühte die organisierte Meinungsmache, die Wachstumsbranche bevölkert von Consultants, Werbegurus und Spin-Doktoren. Sie verschafften Produkten, Ideologien, Politikern Aufmerksamkeit. Ob es um die Vorsorge-Impfung gegen Schweinegrippe, um das neue Image eines Wahlkämpfers, um das Propagieren der privaten Altersvorsorge ging. (Und ich lernte mich fremdzuschämen für vieles, was als Journalismus durchging, auch für die Fälle von Themenplacement im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.)
Teilhaber der politischen Elite
Wie der gewitzte Tom Schimmeck die „Meinungsfrisöre“ beschreibt:
Es sind Macht-Dienstleister. Weil sie in der Regel auf Seiten der politischen und wirtschaftlichen Macht arbeiten, um deren Message maximale Schlagkraft zu verleihen. Sie bewachen den Zugang zu Informationen. Sie setzen Personen und Interessen in Szene. Sie designen die Darsteller, drechseln ihnen passende Sätze, planen minutiös, was wann in die Welt gesetzt wird und wer wie wirken soll. Sie sind eng verwoben mit allerlei Think-Tanks, Lobbygruppen und Stiftungen, die Interessen bündeln, Politik entwerfen und diese auch durchsetzen helfen.
Während „professionelle Meinungsfrisöre“ sich also als neue „vierte Gewalt“ etablieren, sind zu viele Reporter, Leitartikler, Talkmaster, Moderatoren daran interessiert, Teilhaber der politischen Elite zu werden. Quatschen, kuscheln, coachen. Konform zu sein mit dieser Elite führt zu Privilegien und Prestige, man kriegt so viel Aufmerksamkeit in der „mutual appreciation society„, dem Klub der Schulterklopfer. (MANN lädt sich zu Symposien, Podiumsdiskussionen und Medientagen ein, ist sich kumpelige Referenzgröße, und belässt es bei zwei, drei Alibifrauen wie anno dunnemal …)
Versuchen Sie mal, unaufgeblasen zu bleiben während einer Mediengala. Es tummeln sich viele Maulwerksburschen, die von ihrer eigenen Heißluft-Produktion so schön nach oben getragen werden und die sich so gerne auf Kosten anderer profilieren. Aber die Bedeutungsaura der Alpha-Kollegen beruht auf einer großen Verwechslung: Sie vergessen im Zeitalter der „Personality“, dass das Gemachte stets wichtiger ist als der Macher. Sie verdrängen, dass Journalisten nicht arbeiten, um andere Journalisten zu beeindrucken, um Informationen von oben nach unten weiterzureichen.
Eine übertriebene Schelte? Mag sein, aber ich habe immer diejenigen als ganz gesund empfunden, die Distanz zu jeder Elite, sei es die politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche, eingehalten haben. Insbesondere Bildschirmpräsenz ist nur geliehene Macht. Wir sind nur so wichtig wie unsere letzte Sendung, unsere letzte Reportage oder Enthüllung.
Wozu noch … Journalisten? Weil wir das Falsche, das Ungerechte korrigieren können. Weil wir – auf allen Verbreitungswegen – Macht ausleuchten, Machtmissbrauch benennen. Klingt nach Glanz und Gloria und Heldentum, und ist meist graue Kleinarbeit. Schwarzbrot eben. Investigative Journalisten, aber nicht nur sie, verkörpern eine ziemlich masochistische Treue zur Demokratie. Denn Interessenpolitik, Fehlleistungen und Korruption werden ja nie freiwillig zugegeben, sondern meist von journalistischen Überzeugungstätern mühselig ausgebuddelt, gegenrecherchiert, dokumentiert, mit Energie veröffentlicht und allzu oft vom nächsten Event oder Skandal beiseitegedrängt.
Citoyen Journalist
Haltung heißt auch „aushalten“, „durchhalten“: dass die Enthüllung in 24 Stunden überholt ist, dass keine Staatsanwälte tätig werden, dass niemand zurücktritt, niemand Angst bekommt. Dass die rechtliche Absicherung immer mehr Arbeitszeit in den Redaktionen frisst. Dass die Dinge sich nicht bessern. Jahrein, jahraus. Aber was ist die Alternative? Wer, wenn nicht Journalisten?
Zwischenbemerkung: Nein, ich bin nicht in einer depressiven Peitsch-mich-Phase und auch nicht im Burn-out, ich fühle Berufsstolz, wenn Kollegen glänzen, wenn die Arbeit „stimmt“ und wahrgenommen wird und etwas bewirkt. Aber wie viele Highlights gibt es – und wie viele Eintrübungen? Mir ist wohler, dies nicht erst im Rentenalter zu fragen …
Wenn wir gut arbeiten, dann helfen wir unseren Lesern, Zuhörern und Zuschauern, Stuss als solchen zu erkennen und bei wesentlichen gesellschaftlichen Entwicklungen mitzumachen. Aufklärung eben. Und: Wir setzen die Mächtigen in der Politik, Wirtschaft oder Kultur unter Legitimationsdruck. Sie sollen sich äußern zu ihren Entscheidungen und Handlungen, sie sollen sich rechtfertigen. Sie sollen an ihre Versprechen von vorgestern erinnert werden. Citoyen Journalist.
Skepsis auf einmal gerne gesehen
Ein wenig leuchtete diese Haltung auf, als die Finanz- und Wirtschaftskrise über die Menschen hinwegfegte, unverdrängbar und bedrohlich. Skepsis war plötzlich eine gern gesehene Eigenschaft, die „Systemfrage“ war wieder da. Sogar Fundis des Neoliberalismus sprachen über Verteilungsgerechtigkeit. Börsenexperten und Ranking-Gurus wurden enttarnt – und gelobten Besserung. „Nichts wird mehr so sein wie früher.“ Und heute?
Der Steuerzahler hat ein aberwitziges Lösegeld hingelegt, die Einkommen der nächsten Generation noch mitverpfändet und ist doch wieder in Geiselhaft. Es wurde viel geredet und wenig reguliert. Die Boni fließen wieder in Milliardenhöhe, die Finanzblasen blähen sich aufs Neue und die Stimmung im Land ist wie der unsympathische Werbeslogan: „Unterm Strich – zähl ich.“ Als ob Politiker, Wirtschaftsführer, Journalisten – ja die ganze Gesellschaft das Gedächtnis einer Fruchtfliege hätten.
All das erträgt man immer schlechter, zumindest ich, und da kommt die Frage: „Wozu noch Journalismus?“ gerade recht. Er könnte viel stärker dazu beitragen, dass die Großthemen, die Vorwärtsthemen nicht mehr nebeneinander herlaufen, unverbunden. Journalisten könnten dafür sorgen, dass Wissen und Kritik zusammenkommen, ausgetauscht werden. Wir wären so etwas wie Verknüpfer zwischen den Disziplinen.
Simples Beispiel Klimawandel: Naturwissenschaftler gaben Zahlen und Warnungen. Ingenieure stellten neue Technologien vor. Sozialpsychologen erklärten, warum der Mensch so viele Blockaden vor radikalen Veränderungen hat. Experten produzierten eine Informationsflut. Kameraleute zeigten Gletscherschmelze und ertrinkende Eisbären. Unternehmer rechneten an Emissionsrechten herum. Ethiker sprachen von fairem Handel oder Konsumkritik. Und Skeptiker leugneten das Problem. Alles hing mit allem zusammen, das schon, aber die Erkenntnisse und Handlungsansätze dümpelten unfruchtbar vor sich hin. So mündeten Menschheitsprobleme leider vorwiegend in Mega-Wortproduktionen.
Sie macht mich kirre, die Zersplitterung der Diskurse. Ein kritischer Journalismus, das wäre meine Hoffnung, würde die verzettelten Argumente der Zivilgesellschaft bündeln und zu einem klaren Kammerton machen: dass wir in die Gänge kommen wollen, dass wir Fortschritt nach wie vor für möglich halten. Dass wir die richtigen Fragen finden, wenn es schon so schwer ist mit den Antworten. Wir sind keine Fruchtfliegen. Journalismus besorgt und systematisiert den Stoff, aus dem die Geschichtsschreibung sein wird.
Ein weißer Schimmel
Kritischer Journalismus – im Grunde ein weißer Schimmel, aber ich habe leider zu oft erlebt, wie schnell er unter Druck gerät oder in Nischen verschwindet. Ich finde kritischen Journalismus aufregend und zukunftsfest. Er kann nicht „light“ daherkommen. Und: „Relevant“ reimt sich ganz gut auf „interessant“. Und wenn Mäkler und Zyniker den „erhobenen Zeigefinger“ wittern, verweigere ich ihnen inzwischen die Ehre hinzuhören und stelle fest: Belehrung ist von gestern, aber Haltung ist cool, Journalisten sollten mehr Ehrgeiz haben als eine Suchmaschine.
Die Welt ist nicht in Ordnung, der gesellschaftliche Kitt zerbröselt rasant. Viel zu viele Mitmenschen sind von Glück, von Selbstbestimmung ausgeschlossen, das mag ich nicht hinnehmen. Wir schreiben das Jahr 2012: Sich nicht mehr mit Beliebigkeit zufrieden zu geben, das weist nach vorn, und um unser Selbstverständnis zu ringen, ist womöglich attraktiver für die Jungen als ironische Sprüche. Denn ein Journalist ohne Credo bleibt, in meiner Sicht, nur Baustein einer industriellen Fertigungsstraße. Ganz unsentimental setze ich auf Haltung 2.0, auf Überzeugung reloaded.
Was für ein Beruf! Wo sonst kann sich jemand – implizit und explizit – für Demokratie, Bildung und Gemeinwohl einsetzen, fein und massenwirksam zugleich? Allen Kaltherzigen und Nassforschen zum Trotz: Verbriefte Ideale wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit verknöchern nie. Sie sind Fernziele, auf die Journalisten aktiv hinarbeiten können. Auch, weil sie uns beseelen.
Ideale sind per definitionem unerreichbar, aber Fortschritt ist der andauernde Versuch, darauf hinzuarbeiten. Berichten für das Wissen aller, für das Wohl aller, für den Fortschritt aller – das wäre ein schönerer Ehrgeiz als Flüchtiges möglichst schnell und laut zu verbreiten, davon bin ich überzeugt. Und Haltung wird sich als Alleinstellungsmerkmal für interessanten, guten Journalismus entpuppen, egal in welchem Medium.
Empfehlenswerter Selbstversuch
Um diese Gedanken aufzuschreiben, schaute ich übrigens in mein Bewerbungsschreiben an den WDR aus den frühen achtziger Jahren, ein sehr empfehlenswerter Selbstversuch. Es ging mir damals als Volontärin mit viel jüngeren Worten um dasselbe: Journalisten sollen Gewicht haben. Wir sollen dem Anliegen von Regierungen, von Eliten, von „Meinungsfrisören“ widersprechen, die Welt in ihrem Sinne interpretieren zu lassen.
Sollen Werte vermitteln, ohne Utopieschnörkelei. Zum Beispiel faires Gehalt für ordentliche Arbeit. Eine sture Vorstellung von Anstand, Nachbarschaftlichkeit und Solidarität unter der Prämisse, dass andere uns ähnlich sind. Gönnen können. Gemeinsame Fragen entwickeln: Ist dieses System entschieden verbesserbar? Das alles muss nicht heroisch daherkommen.
Wozu Journalismus? Weil wir Handwerker der Verbesserung sind. Ich will eine sympathischere Gesellschaft, die allen Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem materiellen Status, ein würdiges Leben ermöglicht. Die die Umwelt nicht umbringt. Die keine Ideologien nötig hat. Und es schließt sich der Kreis: Kritische Journalisten lassen sich nicht von der Größe der Aufgaben erschrecken.
Ursprünglich ist dieses Essay als Teil der „SZ“-Reihe „Wozu noch Journalismus“ erschienen, die auch als Buch erhältlich ist. VOCER veröffentlicht ausgewählte Beiträge in teils leicht aktualisierter Form.